„Wir sind die Wurzeln des Christentums“
Kardinal Sako, der Patriarch von Bagdad, bittet um materielle und moralische Unterstützung für Christen im Nahen Osten
- Die Christen im Irak erleben eine emotionale Achterbahnfahrt: Zu ihrer Freude hat Papst Franziskus seinen Besuch für Anfang März 2021 angekündigt. Gleichzeitig erleben sie Bedrohungen, Zehntausende Christen sind heimatlos. Das Oberhaupt der mit Rom unierten Christen in der chaldäisch-katholischen Kirche ist der Patriarch von Bagdad, Kardinal Louis Raphael I. Sako. Er vertritt die Interessen der kleinen christlichen Minderheit im Irak gegenüber der Regierung in Bagdad diplomatisch, aber sehr konsequent. Erst in der vergangenen Woche beschloss das irakische Parlament einstimmig, dass Weihnachten erstmals offizieller Feiertag im Irak ist. Der Gesetzentwurf wurde nach einem Gespräch zwischen Präsident Barham Salih und dem chaldäischen Patriarchen Kardinal Louis Raphael Sako auf den Weg gebracht. Im Gespräch mit Ludger Möllers bittet Sako um weitere Hilfe – moralisch und materiell – und auch durch die Weihnachtsspendenaktion „Helfen bringt Freude“.
Herr Kardinal, wo steht der Irak?
Die Herrschaft der Terrormiliz, das sogenannte Kalifat des „Islamischen Staats“(IS) im Irak ist vor drei Jahren militärisch beendet worden. Beunruhigend ist aber, dass sich der IS im Untergrund neu formiert hat und sein Einfluss in unserem politisch und wirtschaftlich instabilen Land wieder wächst. Obwohl aktive IS-Mitglieder vertrieben oder tot sind, gibt es nach wie vor vielfältige Unterstützung. Das Gesicht hat sich verändert, aber die Ideologie ist geblieben. Christen fühlen sich im Irak immer noch nicht wieder sicher. Islamistische Terroristen haben damals Kirchen und christliche Symbole zerstört, Christen wurden vertrieben und beraubt. Die Wunden sind sehr tief. Christen sind seit Langem wegen ihrer Religion diskriminiert, die der Koran als „gefälschte“Religion betrachtet. Infolgedessen werden wir an den Rand gedrängt.
Hat sich in den Jahren nach der Entmachtung des Diktators Saddam Hussein nichts zum Guten gewendet?
Nach dem Sturz von Saddam Hussein ist der Irak zum Interessenspielball verschiedener Milizen und Gruppierungen geworden. Korruption macht sich breit. Jetzt kommt die Pandemie hinzu.
Es heißt, dass Sie zur neuen Regierung guten Kontakt pflegen, besonders zu Premierminister Mustafa al-Kadhimi.
Ja, er ist ehrlich, unabhängig, und er gehört keiner politischen Partei an. Mit al-Khadimi ist das Ende des politischen Islam im Irak eingeläutet, dem es nicht gelungen ist, einen wirklich modernen Staat zu errichten. Ich habe bei einem Treffen mit dem Premierminister die Probleme des Irak angesprochen. Denn es gibt in unserem Land keine Rechtsstaatlichkeit. Wir haben bei dem Treffen über den Staat, die Gesetze, die Verfassung, aber auch die Verbreitung von Waffen, über Korruption im Land und die Wahlen gesprochen.
Welches sind Ihre Ziele?
Ich baue auf gute Beziehungen zur neuen Regierung. Araber, Muslime, Christen, Jesiden: Wir alle im Irak sind sehr verschieden, wir sind alle anders. Aber wir leben hier im Irak zusammen und wollen nach unserem Verständnis eine Gesellschaft bilden, die auf Demokratie, Freiheit, Gleichheit, Menschenwürde und Zusammenhalt aufbaut.
Wie sehen Sie die Rolle der Christen?
Wir Christen wollen ein starkes Land, das auf bürgerliches Recht setzt, ohne Blick auf Religionen oder Konfessionen. Was wir jetzt brauEbene, chen, ist die Einheit unseres Landes. Daher sollten alle Iraker diese neue Regierung unterstützen.
Nun hat sich der Papst angesagt. Wie kann Franziskus Sie unterstützen? Der Besuch des Papstes ist für uns ein Zeichen der Unterstützung und der Solidarität. Wir erleben Zeiten des Elends und der Instabilität, außerdem ist die Pandemie sehr belastend. Daher bedeutet die Ankündigung, dass der Heilige Vater zu uns kommt, sehr viel. Um den Aufbau dieser Gesellschaft zu fördern, kommt der Besuch des Heiligen Vaters genau zur richtigen Zeit. Der Besuch wird wie die Anwesenheit eines Vaters in einer Familie sein. Und für die Christen hier ist es das Signal der moralischen Unterstützung: „Ihr seid nicht alleine!“
Der Papst kommt ja auch in die Ninive-Ebene, in der Christen seit zwei Jahrtausenden daheim sind, aber demografisch immer mehr unter Druck geraten. Ihre nach der Flucht leer stehenden Häuser sind besetzt. Was genau passiert dort derzeit? Wir erleben einerseits immer noch eine politisch gewollte demografische Veränderung in den christlich geprägten Gebieten. In der Ninivewo seit zwei Jahrtausenden Christen leben, siedeln sich immer mehr Muslime an. Das ist durch die politische Lage bedingt, aber auch durch das Anspruchsdenken der Muslime. Ich muss sagen: Solange wir kein wirklich demokratisches System haben, wird es diese demografischen Verschiebungen zu unseren Ungunsten geben.
Wie sieht die Regierung die Situation in der Ninive-Ebene?
Die andere Seite gibt es auch: Der Premierminister war bei seinem letzten Besuch dort überrascht, den guten Zustand der wiederaufgebauten Dörfer zu sehen. Ich habe deutlich gemacht, dass wir den Wiederaufbau wegen der Kirche und ihrer Stärke, nicht wegen des Staates bewerkstelligen konnten. Dort sind Initiativen wie Ihre Spendenaktion hilfreich und ermutigen uns! Daher kann ich sagen: Die Zukunft ist vielversprechend, besonders in der Ninive-Ebene.
Was erwarten Sie konkret für die Christen im Nordirak?
Wir müssen mit der neuen Regierung über die Bedrohungen für die Christen sprechen und unser Land und unsere Werte verteidigen. Ich erwarte, dass die Regierung die christliche Minderheit hier im Land beschützt und unterstützt. Wir haben eine lange Geschichte. Der Irak gehört nicht den Arabern oder den Milizen. Wir können nicht hinnehmen, dass Christen aus dieser Region, die seit 2000 Jahren christliches Land ist, vertrieben werden. Falls irgendwann alle Christen vertrieben sein sollten, wäre dies ein unverzeihlicher Bruch in der Geschichte.
Wo steht Ihre Gemeinschaft heute?
Trotz allem, was wir wegen unseres Glaubens erlitten haben, sind wir treu geblieben. Wir können uns auf eine starke Kirche stützen, die – im Gegensatz zur schwachen und schlecht organisierten Zivilgesellschaft – viele Initiativen setzt.
Bald ist Weihnachten. Haben Sie einen besonderen Wunsch?
Weihnachten in Zeiten der Pandemie kann geistig und moralisch zum Erwachen führen. Und ich habe eine Bitte: Der Westen sollte uns, die Christen im Osten, in keiner Weise im Stich lassen. Wir sind die Wurzeln des Christentums – wenn es seine Wurzeln vergisst, sind die Christen wie ein gefällter Baum.