Die schöne Mexikanerin
Der Weihnachtsstern mag es warm und blüht doch am schönsten in der kalten Jahreszeit
Joel Poinsette hätte es sich nicht träumen lassen, dass Weihnachten ohne einen Weihnachtsstern auf dem Fenstersims eines Tages kaum denkbar sein würde. Auch rosa, weiße, cremefarbene und mehrfarbige Sterne waren für ihn nicht vorstellbar. Poinsette, erster Botschafter der USA in Mexiko, faszinierte schlicht das Rot dieser Pflanze, die er in dem mittelamerikanischen Land vorfand. 1833 brachte er erste Stecklinge in die USA, nur ein Jahr später wuchsen die viel bewunderten Sterne bereits in Europa. Als Verbeugung vor dem Botschafter wurden sie Poinsettie genannt – viele Gärtner nutzen diesen Namen noch heute.
Poinsette wird oft als Entdecker der Pflanze bezeichnet. Natürlich war er das nicht. Die Azteken kannten sie bereits unter dem Namen Cuetlaxochitle. Als Symbol der Reinheit und der Aufopferung wurde sie von ihnen verehrt. Was durchaus wörtlich zu nehmen ist, denn ihr glühendes Rot setzten die mexikanischen Ureinwohner mit dem Blut der Menschenopfer gleich. Der Sage nach verursachte die unglückliche Liebe einer aztekischen Göttin das intensive Rot der Weihnachtssterne: Dort, wo das Blut ihres gebrochenen Herzens auf den Boden tropfte, leuchtete es zum ersten Mal. Ganz profan gewannen sie aber auch roten Farbstoff aus den Hochblättern oder – wie es gärtnerisch korrekt heißt – aus den Brakteen. Zum Schminken und zum Färben von Stoffen wurden die Blattextrakte verwandt. Der Milchsaft, der bei Verletzung aus allen Pflanzenteilen austritt, diente zum Fiebersenken. Für stillende Mütter kochten sie milchfördernden Tee daraus.
Botanisch korrekt heißt der Weihanchtsstern Euphorbia pulcherrima – schönste Wolfsmilch. Er ist in der Tat die wohl schönste unter den rund 2000 Arten der Gattung Euphorbia. Und er spielt das Verwirrspiel um seine Blüten noch perfekter als die heimische Mandelwolfsmilch (Euphorbia amygdaloides), der Christusdorn oder die vielfarbige Garten-Euphorbia (Euphorbia polychroma). Denn noch stärker als andere Euphorbien spiegelt der Weihnachtsstern Riesenblüten vor, wo nur winzige Blüten sind. Sie sind so unauffällig, dass ohne die Hilfe der intensiv gefärbten
Wild und seine Frau Tabea stecken knapp eine Stunde Handarbeit in jeden Haßlauer Stern. Hochblätter die Insekten kaum zu ihnen fänden. Die großen roten Hochblätter dagegen sind von unübertroffener Signalwirkung.
Auch den ersten Europäern, die nach Mexiko kamen, wird die schöne Pflanze aufgefallen sein. Nachgewiesen ist, dass Franziskaner-Mönche sie im 17. Jahrhundert als Schmuck für das Weihnachtsfest nutzten. Vermutlich haben sie die Sterne als
Selbst ist der Mann: Matthias Wild hängt vor seiner Werkstatt einen seiner Sterne auf.
Schnittblumen an den Altar gestellt, denn mit bis zu drei Metern Höhe ist wilder Weihnachtsstern als Topfpflanze ungeeignet. Wer Urlaub auf den Kanarischen Inseln oder auf Madeira macht, kann diese Wuchskraft in vielen Gärten bewundern. Die Begeisterung der Gärtner in den USA und Europa über die schöne Euphorbie hielt sich denn auch erst einmal in Grenzen. Bis in die 1960erJahre hatte sie eher als exklusive Schnittblume denn als Topfpflanze Bedeutung. Zwar reizte die schöne Farbe die Züchter zum Experimentieren – aber der Durchbruch ließ auf sich warten. Nach wie vor war die Poinsettie viel zu groß, brauchte zu viel Platz und war keineswegs immer sicher zum Blühen zu bringen.
Erst langsam kam man dahinter, dass Weihnachtssterne nur dann farbige Blätter entwickeln, wenn die Tage kurz sind. Mindestens sechs Wochen lang müssen sie mehr als 14 Stunden Dunkelheit bekommen. Schon eine Straßenlampe oder das Licht beim abendlichen Kontrollgang durch das Gewächshaus ließ die Blätter nur unvollkommen rot werden. Heute verdunkeln die Gärtner die Gewächshäuser allabendlich mit schwarzen Folien. Auch die Größe der Weihnachtssterne ist heute kein Problem mehr. Sorten wie „Sonora“, „Cortez“oder „Freedom“wachsen kompakt. Mehrfaches Stutzen zwingt die Pflanzen, sich zu verzweigen. Außerdem versetzen die Gärtner den wärmeliebenden Pflanzen während der Wachstumsphase im Sommer allmorgendlich einen kleinen Kälteschock durch kräftiges Lüften der Gewächshäuser. Auch das hemmt zu kräftiges Wachstum. Mit Beginn der Blütenentwicklung ist es damit aber vorbei. Dann brauchen Weihnachtssterne rund um die Uhr behagliche Zimmertemperatur. Kühle oder gar Kälte nehmen sie übel: Sie rollen dann die Blätter ein oder werfen sie sogar ab.
Auch das ist ein Grund, warum der Weihnachtsstern seinen Siegeszug hierzulande erst antreten konnte, als Zentralheizungen in den Wohnungen selbstverständlich wurden. Von da an verschob sich das Spektrum der Zimmerpflanzen immer stärker zu den wärmeliebenderen Arten. Die Energiekrisen in den 1970er-Jahren beschleunigten durch den Einbau von Isolierglas und Wärmedämmmaterialien die Entwicklung. In den meisten Büros und Wohnräumen herrschen Temperaturen zwischen nachts 15 Grad und tags 20 bis 22 Grad Celsius, ideale Lebensbedingungen für subtropische und tropische Pflanzen. Sogar am Fenster, wo es früher durch die Ritzen pfiff und sich Eisblumen breitmachten, ist es heute für die schöne Mexikanerin behaglich warm.