Corona-Helden im Portrait
Polizeioberkommissar Tobias Krause erzählt von seinen Erfahrungen in 2020.
- Es ist ein Einsatz gewesen, den Tobias Krause nie mehr vergessen wird. Warum es in der Stuttgarter Innenstadt in der Nacht vom 20. auf den 21. Juni derart eskaliert ist, weiß der stellvertretende Dienstgruppenleiter des Streifendienstes beim Aalener Polizeirevier bis heute nicht. Ob der Frust wegen Corona zu den kriegsähnlichen Zuständen geführt hatte, sei nach wie vor unklar. Erschreckend sei es für den 30-jährigen Polizeioberkommissar allerdings gewesen, wie massiv die aufgestaute Energie junger Menschen in Aggression gegenüber den Polizeibeamten ausgeartet ist. Einen solchen Einsatz habe er noch nicht einmal in seiner Zeit bei der Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit beim Polizeipräsidium Einsatz in Göppingen erlebt.
Es ist der 20. Juni. Der Lockdown liegt eine ganze Zeit zurück. Menschen dürfen sich wieder treffen. Jugendliche freuen sich darauf, endlich mit Freunden wieder um die Häuser zu ziehen. Auch Tobias Krause ist froh, dass mit den Lockerungen wieder ein Stück Normalität in den Alltag zurückgekehrt ist. Normal ist auch sein Arbeitsbeginn am Abend des 20. Juni. Das ändert sich um Mitternacht allerdings schlagartig. Die Alarmierung des zuständigen Polizeiführers vom Dienst, der beim Führungs- und Lagezentrum des Aalener Polizeipräsidium im Einsatz ist, klingt ernst. „Mehrere Hundert Personen gehen in der Stuttgarter Innenstadt auf Kollegen los“, zitiert Krause dessen Wortlaut. Verstärkung sei dringend nötig. Sofort habe der Polizeiführer die Alarmhundertschaft alarmiert und sämtliche im Streifendienst abkömmliche Beamte abberufen. Vom Aalener Polizeipräsidiums werden 29 Beamte abgezogen. Vier allein vom Polizeirevier Aalen, sagt Krause. Einer von ihnen ist der 30-Jährige.
Schnellstmöglich machen sich die Polizisten, die in Waiblingen mit Schutzausrüstung ausgestattet werden, auf den Weg Richtung Landeshauptstadt. Per Funk erreichen sie die Informationen der Kollegen, die es Krause eiskalt den Rücken hinunterlaufen lassen. Die Schreie und das Rufen nach Hilfe werde er nie wieder vergessen. Die Hoffnung, dass das Chaos bei seinem Eintreffen beendet sein könnte oder sich zumindest beruhigt, löst sich schnell in Luft auf. Gegen 1.15 Uhr erreichen er und seine Kollegen den Schlossplatz. Bereits beim Aussteigen aus dem Polizeiwagen werden sie mit Flaschen und Steinen beworfen. Die Bilder, wie ein Beamter von hinten attackiert und getreten wird, gehen um die Welt. Um die Festnahme des Täters abzusichern, ist auch Krause vor Ort. Abermals wird er mit Gegenständen beworfen. Im Hintergrund sieht er, wie Streifenwagen demoliert und ausgeraubt sowie Schaufenster von Geschäften eingeschlagen werden.
Fünf Stunden lang dauert die Chaosnacht in der Königstraße, der Schulstraße und am Schlossplatz, in der mehrere Gruppierungen ihre Aggression an Polizeibeamten auslassen, die ihrerseits versuchen, Angreifer und Plünderer im Zaum zu halten. Stundenlang ist Krause einer ausufernden Gewalt ausgesetzt. Verletzt wird er im Gegensatz zu manch anderer seiner Kollegen nicht. Doch die psychische Belastung steht auf einem anderen Papier. Nach dem Einsatz habe er die Geschehnisse erst einmal verarbeiten müssen.
„Die Krawallnacht hat mich und meine Kollegen geprägt“, sagt Krause. Nach wie vor sei für ihn kein Motiv der jugendlichen Täter erkennbar. Bei Ausschreitungen zwischen rivalisierenden Fußballmannschaften oder Anhängern der rechten und linken Szene liege ein solches angesichts der unterschiedlichen Anschauung auf der Hand – nicht allerdings mit Blick auf die Chaosnacht in der Landeshauptstadt.
Der dortige Einsatz sei für ihn im Corona-Jahr das massivste Erlebnis gewesen. Doch auch das Virus selbst habe ihn und seine Kollegen neben den eigentlichen Aufgaben der Polizei zusätzlich belastet. Permanent auf dem aktuellen Stand der CoronaVerordnung zu sein, deren Auflagen sich anfangs ständig verändert haben, sei eine große Herausforderung gewesen. Um bei Anrufen der Bürger allen Fragen Rede und Antwort zu stehen, sei es nicht selten vorgekommen, dass sich die Polizeibeamten auch in ihrer Freizeit in die Verordnung eingelesen haben.
Vor allem am Anfang der Pandemie habe sich alles um Corona gedreht. Die Unsicherheit bei den Bürgern, aber auch bei der Polizei sei groß gewesen. Mit dem ersten Lockdown habe die Überwachung der Corona-Verordnung im Vordergrund gestanden. „Dass wir diese personell leisten konnten, ist auch der Tatsache geschuldet gewesen, dass andere Delikte in dieser Zeit weniger geworden sind“, sagt Krause und denkt etwa an Verkehrs- und Gewaltdelikte oder Ladendiebstähle. Der Rückgang solcher Verstöße und Straftaten sei darauf zurückzuführen, dass während des Lockdowns und des verstärkten Aufkommens von Homeoffice weniger Bürger auf den Straßen unterwegs sowie der Einzelhandel, die Gastronomie und Discotheken geschlossen waren. „Auf ein gesundes Maß heruntergeschraubt haben wir in dieser Zeit auch die verdachtsunabhängigen Kontrollen wie Alkoholkontrollen im Straßenverkehr“, sagt Krause.
Mit dem schönen Wetter im Frühsommer habe sich das allerdings wieder geändert. Neben dem Alltagsgeschäft galt es dennoch nach wie vor, die Corona-Regeln im öffentlichen Raum zu überwachen. Immer wieder hatten es die Polizeibeamten mit jungen Menschen zu tun, die sich in Parkanlagen nicht an die AHA-Regeln gehalten hätten. So manche Aggression sei ihnen auch bei der Überwachung der Regeln von Covid-19Leugnern und Maskenverweigerern entgegengeschlagen. Bespuckt oder angehustet worden sei Krause im Gegensatz zu manch anderem seiner Kollegen zwar nicht, allerdings habe er Handgreiflichkeiten und Beleidigungen am eigenen Leib erfahren.
„Es hatte den Anschein, dass die Bürger der Corona-Auflagen, die ihre persönliche Freiheit massiv beeinträchtigen, überdrüssig sind und sie sich für ihren Frust ein Ventil suchen. Und das sind wir schließlich gewesen“, sagt Krause. Den Bürgern müsse wie auch bei anderen Kontrollen allerdings bewusst sein, dass die Polizeibeamten den öffentlichen Raum nicht aus Jux und Tollerei überwachen oder deshalb, weil sie jemanden gängeln wollen, sondern weil sie im Auftrag des Bundes und des Landes agieren und verpflichtet sind, bei Verstößen einzuschreiten. „Ob wir wollen oder nicht.“
Die Gefahr, sich selbst mit Corona zu infizieren, war und ist der ständige Begleiter von Krause. „Im Streifendienst gibt es kein Homeoffice. Wir sind immer nah an den Bürgern dran.“Auf die Abstands- und Hygieneregeln werde akribisch geachtet. Doch immer wieder gebe es Situationen, in denen diese nicht eingehalten werden können, sondern die einen direkten Körperkontakt nötig machen. Krause denkt etwa an Kontrollen, in denen die Betroffenen durchsucht werden müssen, oder an Festnahmen. Auch beim Transport in die Gewahrsamszelle sei das Risiko, sich infizieren zu können, groß. „Wir wissen nie, ob ein Corona-Positiver im Streifenwagen mitfährt“, sagt Krause.
Einmal habe der 30-Jährige einen solchen zum Revier transportiert. Daraufhin sei er sofort getestet und bis zum Vorliegen des Ergebnisses, das letztlich negativ ausgefallen sei, freigestellt worden. Angesichts der
„Die Krawallnacht in der Stuttgarter Innenstadt hat mich und meine Kollegen geprägt.“
Tests hätten die Polizeibeamten den Vorteil, dass sie sich an den Polizeiärztlichen Dienst in Stuttgart wenden können und nicht den Weg über das Gesundheitsamt des Landratsamts Ostalbkreis gehen müssen. Auf diesem Weg würden die Ergebnisse spätestens am Tag nach der Testung vorliegen.
Um die Funktionsfähigkeit und Schlagkraft der Polizei aufrechtzuerhalten, seien bereits frühzeitig interne organisatorische Maßnahmen umgesetzt worden. Auch auf dem Polizeirevier, dem Arbeitsplatz von Krause. Vernehmungen finden seit Anfang der Pandemie hinter einem Spuckschutz statt. Auch der Besucherverkehr sei auf das Nötigste reduziert worden. „Nicht jeden Sachverhalt müssen die Bürger persönlich vortragen“, sagt Krause und verweist bei dem Erstatten von Anzeigen auf das Onlineportal der Polizei. Auch telefonisch könne eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit gemeldet werden.
In den verschiedenen Abteilungen des Polizeipräsidiums würden, sofern möglich, Beamte im Homeoffice arbeiten. Besprechungen seien von Anfang an auf ein Mindestmaß reduziert worden oder würden per Telefon- und Videokonferenz stattfinden. Auch ein gemeinsamer Aufenthalt in den Gemeinschaftsräumen sei tabu. Ausgesetzt worden seien auch das Einsatztraining und der Dienstsport. Bis auf wenige Ausnahmen nicht mehr stattfinden würden auch Fortbildungen und Lehrgänge. Diese Schutzmaßnahmen seien von Erfolg gekrönt. Bislang seien nur wenige Kollegen an Corona erkrankt oder freigestellt worden.
Die Akzeptanz, sich an die CoronaRegeln zu halten, sei im ersten Lockdown größer gewesen als im zweiten Lockdown seit November, sagt Krause. Die Aussicht auf einen Impfstoff und die Einrichtung von Impfzentren würde viele in Sicherheit wiegen. An Silvester muss der 30-jährige in Oberkochen aufgewachsene und mittlerweile in Mönchsroth bei Dinkelsbühl lebende Polizeioberkommissar arbeiten und möglicherweise vermeiden, dass sich an Brennpunkten in der Neujahrsnacht Menschenansammlungen bilden. Wie alle hofft Krause auf ein besseres 2021 und darauf, dass wieder ein Stück Normalität in unser aller Leben einkehrt. „Ich möchte auch gerne wieder reisen. Spontan, mit Rucksack, ohne Test und der Gefahr, in Quarantäne zu müssen.“
„Die Akzeptanz, sich an die Corona-Regeln zu halten, war im ersten Lockdown größer als im zweiten.“
„Ich möchte gerne wieder reisen. Spontan und ohne die Gefahr, in Quarantäne zu müssen.“
Zwischen den Jahren stellen die „Aalener Nachrichten / Ipf- und Jagst-Zeitung“in der Serie Corona-Helden Menschen vor, die in Zeiten der Corona-Pandemie an vorderster Front stehen und die unseren Dank und Respekt verdient haben.