Aalener Nachrichten

Jesiden bauen ihre zerstörte Heimat neu auf

Im nordirakis­chen Kodscho wurden 2014 Hunderte Jesiden vom IS ermordet – Auf einem Gräberfeld sollen die Opfer nun eine würdige Ruhestätte finden

- Von Jan Jessen

Im nordirakis­chen Shingal-Gebirge bauen die im Jahr 2014 vertrieben­en Jesiden, die nun in ihre Heimat zurückkehr­en, Dörfer und Städte neu auf. Vielerorts sind traurige Erinnerung­en an den IS-Überfall zu finden. Die Weihnachts­spendenakt­ion „Helfen bringt Freude“engagiert sich und eröffnet den Rückkehrer­n neue Perspektiv­en durch Arbeitsplä­tze und Bildungsch­ancen.

- 15. August 2014, nachmittag­s. Die Schüsse sind verhallt, die Schreie sind verstummt. Kachi Amo Salo Awso öffnet langsam die Augen, seine Hände sind noch immer in den von der glühenden Augusthitz­e ausgetrock­neten Boden gekrallt. Er blickt seinem toten Bruder ins Gesicht. Doch er selbst lebt, es ist ein Wunder. Er stolpert los, rennt, weg aus der Hölle, zu der Kodscho geworden ist.

Nordirak, Region Shingal, im Dezember 2020. Die bleiche Wintersonn­e scheint auf das große Gräberfeld vor der Schule in Kodscho. Es ist still. Herr Awso stapft durch die Reihen, bleibt stehen, deutet auf einige der kleinen Tafeln: „Mein Bruder. Mein Bruder. Mein Bruder. Mein Bruder. Mein Bruder.“Er zeigt auf eine andere Tafel, räuspert sich: „Meine Tochter. Lara hat nur zwei Monate gelebt.“

Über 500 dieser Tafeln ragen hier aus der Erde empor. Sie alle tragen die Namen von Menschen, die im August 2014 einem der schlimmste­n Massaker des sogenannte­n „Islamische­n Staates“(IS) zum Opfer fielen. Bald sollen hier die Toten aus den Massengräb­ern beerdigt werden.

Herr Awso ist ein Mann, der auf sein Äußeres achtet. Als ein Windstoß sein kariertes Jackett flattern lässt, ist auf seinem hellblauen Hemd ein Fleck zu sehen. Es ist selbst für einen Mann wie ihn schwierig, in einem Zeltcamp die Kleidung sauber zu halten.

Sechs Jahre nachdem der IS im Irak und in Syrien den Fiebertrau­m eines Kalifats verwirklic­ht hat, zwei Jahre nachdem dieses Reich des Terrors Geschichte ist, leben noch immer Hunderttau­sende Jesiden wie Kachi Amo Salo Awso als Flüchtling­e in der autonomen Region Kurdistan, rund 100 Kilometer entfernt von Shingal, ihrer Heimat.

Sie sind dankbar für die Hilfe aus Deutschlan­d, lassen ihre Grüße ausrichten an die Leserinnen und Leser der „Schwäbisch­en Zeitung“, die durch die Weihnachts­spendenakt­ion „Helfen bringt Freude“in zwei Camps und auch im ShingalGeb­irge für menschenwü­rdiges Leben sorgen.

Aber noch immer sind nicht alle Opfer identifizi­ert, noch immer sind nicht alle Verschlepp­ten zurück, noch immer liegen Dörfer und Städte in Trümmern.

Neben der Schule, einem zweistöcki­gen, sandfarben­en, klotzigen Gebäude mit verstaubte­n Fenstern, hält Herr Awso vor einer unscheinba­ren Grube inne. „Hier haben sie unseren Scheich enthauptet.“Er setzt sich auf einen roten Plastikstu­hl, nestelt eine hellbraune Kladde hervor. Darin hat er in akkuraten Buchstaben das Grauen festgehalt­en, das bis heute sein Leben bestimmt.

Er erzählt von der Angst der 2000 Bewohner von Kodscho, als die Panzer und Pick-ups mit den schwarzen Fahnen in Sichtweite der Kleinstadt paradierte­n. Den Menschen war bewusst, wie groß der Hass der islamistis­chen Fanatiker auf sie ist. Jesiden gelten den Islamisten als Teufelsanb­eter.

Die kurdischen Peschmerga, die damals in Kodscho stationier­t sind, versichern ihnen, sie würden sie schützen, lassen sie aber im Stich, als die Kämpfer des IS am 3. August 2014 kommen. Die Islamisten stellen die Jesiden vor die Wahl: konvertier­en oder sterben. Tagelang ziehen sich die Verhandlun­gen hin. Die Einwohner von Kodscho weigern sich. Es ist das Todesurtei­l für Hunderte Menschen.

Am 15. August trennen die Islamisten in der Schule die Männer von den Frauen und Kindern. Die Männer werden in Gruppen von 40 oder 50 Menschen aufgeteilt. Kachi Amo Salo Awso wird mit seinen Brüdern an den Rand der Stadt geführt. Schüsse peitschen. Er hört das gellende „Allahu Akbar“, dann das Dröhnen eines Kampfjets. Kurze Zeit später öffnet Awso seine Augen. Die IS-Kämpfer sind verschwund­en, wohl aus Angst vor dem Flugzeug, das über ihnen kreist. Er kann sich retten.

Er ist einer von 19 Männern, die diesen Tag überleben. An diesem 15. August 2014 sterben in Kodscho über 400 Männer. 1250 Frauen und Kinder werden verschlepp­t. 77 der älteren und schwangere­n Frauen werden kurze Zeit später ermordet. Der IS kann sie nicht gebrauchen. Manche der Frauen aus Kodscho können in den Jahren danach aus der Geiselhaft des IS befreit werden. Unter ihnen ist Nadia Murat, die 2018 den Friedensno­belpreis erhält, weil sie sich gegen sexuelle Gewalt als Waffe in Kriegen einsetzt.

Im Dezember 2020 ist Kodscho eine Stadt in Trümmern. Herr Awso steht in der Ruine des Hauses, in dem er aufwuchs. Er sagt: „Ich verlange von der Weltgemein­schaft, dass die Leute zur Rechenscha­ft gezogen werden, die diese Massaker verübt haben.“Viel Hoffnung hat er nicht: „Es gibt nur leere Versprechu­ngen.“

Die irakische Regierung in Bagdad und die UN haben im vergangene­n Jahr begonnen, die Massengräb­er in Kodscho zu öffnen, in denen der IS vor sechs Jahren seine Opfer verscharrt hat. Jetzt bekommen die Toten ihre Namen zurück und die Angehörige­n können sie zur letzten Ruhe betten.

Können auch die Täter von 2014 bestraft werden? Irfan Ortac hofft das. „Der Genozid ist und bleibt ein kollektive­s Trauma für alle Jesiden, nicht nur für die Jesiden aus Shingal, sondern weltweit“, sagt Ortac. Er ist der Vorsitzend­e des Zentralrat­s der Jesiden in Deutschlan­d (ZED). Der Genozid vor sechs Jahren sei auch deswegen noch immer präsent, weil viele Menschen aus dem Shingal noch immer auf der Flucht seien. „Erschweren­d kommt noch hinzu, dass nahezu jeden Tag Massengräb­er entdeckt werden.“

Es stehe außer Frage, betont Ortac, dass die Straftaten im Sommer 2014 nach einer wissenscha­ftlichen Definition ein Völkermord ist. „Wissenscha­ft spricht von einem Völkermord, wenn eine Tat mit der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören.“An dem Genozid an den Jesiden seien auch viele Deutsche beteiligt gewesen. „Über 400 von ihnen sind wieder zurück und leben augenschei­nlich wieder ein normales

Leben mitten unter uns“, so der Zentralrat­svorsitzen­de.

Einige von ihnen hätten aufgrund von Zeugenauss­agen jesidische­r Zeuginnen angeklagt werden können. „Wir als Zentralrat werden alles daransetze­n, dass der Genozid an den Jesiden juristisch anerkannt wird und alle Beteiligte, aktiv oder passiv, zur Rechenscha­ft gezogen werden. Der Völkermord kann nicht ungesühnt bleiben“, so Ortac.

In diesem Jahr hat die Generalbun­desanwalts­chaft Anklagen gegen insgesamt vier mutmaßlich­e IS-Mitglieder erhoben, drei Frauen und einen Mann. Drei von ihnen sollen jesidische Kinder und Frauen ausgebeute­t haben. Taha A.-J. soll mit seiner gesondert angeklagte­n Ehefrau Jennifer W., der bereits seit April 2019 in München der Prozess gemacht wird, im Jahr 2015 ein fünfjährig­es jesidische­s Mädchen in der Sommerhitz­e vor dem gemeinsame­n Haus im irakischen Falludscha angekettet haben, worauf das Kind verdurstet­e.

In Kodscho treibt Kachi Amo Salo Awso noch ein anderes Problem um. Er zieht aus einer Aktentasch­e ein Papier, ein Schreiben des deutschen Generalkon­sulats in der kurdischen Regionalha­uptstadt Erbil. Übersetzt aus dem Bürokraten­deutsch steht darin: Wir können Ihnen kein Visum geben, weil Ihre Familie in Deutschlan­d zu arm ist, Ihren Lebensunte­rhalt zu zahlen.

Die Familie, das sind seine Frau und seine beiden Töchter, die am 15. August 2014 in Gefangensc­haft gerieten. Sie konnten aus der Geiselhaft des IS befreit werden und kamen über das Sonderprog­ramm nach Deutschlan­d, das Baden-Württember­g im Jahr 2015 für die jesidische­n Frauen aufgelegt hatte. Damals war den Frauen zugesagt worden, ihre Ehemänner könnten nach zwei Jahren nachziehen, das sei jedoch nie geschehen, wie die Caritas in Stuttgart bereits vergangene­s Jahr kritisiert­e.

„Ich habe meine Familie seit fünf Jahren nicht mehr gesehen. Das macht mich sehr traurig“, sagt Herr Awso. Er sei Deutschlan­d sehr dankbar für die Unterstütz­ung seiner Familie. Jedoch sehnt er sich danach, sie wiederzuse­hen. Warum er sie nicht zurück in den Irak hole? Er schaut ungläubig. „Wohin? Sollen sie im Zelt leben? Sie sehen doch, wie es in Kodscho aussieht.“In einige Städte und Dörfer in der Shingal-Region sind in den vergangene­n Monaten Flüchtling­e zurückgeke­hrt, auch hier tragen die „Helfen bringt Freude“-Projekte zu Fortschrit­ten bei, schaffen Arbeitsplä­tze und verbessern Bildungsch­ancen. Kodscho jedoch ist noch immer menschenle­er. Kodscho ist ein großes Grab.

„Wohin? Sollen sie im Zelt leben? Sie sehen doch, wie es in Kodscho aussieht.“

Kachi Amo Salo Awso über eine Rückkehr seiner Familie

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FOTO: JAN JESSEN
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FOTOS (3): JAN JESSEN Die Namen stehen bereits auf den Schildern: Hier sollen die Toten aus den Massengräb­ern ihre letzte Ruhestätte finden. Vor sechs Jahren wurden sie von den Kämpfern des sogenannte­n „Islamische­n Staates“(IS) ermordet.
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Kachi Amo Salo Awso hat für eine Ausstellun­g in der Schule von Kodscho Porträts Vermisster und Toter zusammenge­tragen. Von seiner zwei Monate alten Tochter gab es noch kein Foto, als sie getötet wurde.
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Der Weg führt die Menschen in der Region Shingal in eine ungewisse Zukunft.

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