Zivilklage wegen Versagens in der Pandemie
Hinterbliebene von Covid-Opfern in Italien wollen Politiker vor Gericht bringen – Schadenersatz in Millionenhöhe
- Claudio Longhini verließ sein Wohnhaus zum letzten Mal am vergangenen 2. März, um sich, wie jeden Tag, die Sportzeitung „Gazzetta dello Sport“am Kiosk zu kaufen. Er und seine Familien ahnten nicht, was in den kommenden 17 Tagen geschehen würde. Der 65-jährige Mann aus Bergamo erkrankte noch am 2. März an Covid. Schnell stellten sich hohes Fieber, starke Schmerzen und immer schlimmer werdende Atemprobleme ein. 14 lange Tage bemühte sich seine Tochter Cristina einen Arzt zu kontaktieren. Ergebnislos. Claudio Loghini starb am 19. März an Atemversagen.
Jetzt klagt Cristina. Zusammen mit den Hinterbliebenen von rund 500 anderen Familien von Covid-Opfern aus ganz Italien, vor allem aber aus lombardischen Städten wie Bergamo, Mailand, Cremona und Monza. Dort wütete die Pandemie am schlimmsten. Unvergesslich sind die Militärlastwagen, die die vielen Särge aus Bergamo, wo es keinen Platz mehr für die vielen Toten gab, in andere Kommunen transportierten.
Bisher starben in Italien mehr als 72 000 Menschen an Covid. Die meisten von ihnen in Norditalien. Die ersten Klagen gegen die politisch Verantwortlichen, soCri st inaLonghini im Staats fernsehen R AI, am„ katastrophalen Versagen unseres G es und heitssystems“wur den bereits im Frühjahr eingereicht. Von einer Hinterbliebenen vereinigung mit dem Namen „Noi Denunceremo“, „Wir werden anprangern“. Die Klagenden fordern eine Entschädigung durch den Staat in Höhe von 200 000 Euro für jeden Toten, insgesamt mehr als 100 Millionen Euro. Zu den ersten rund 150 Klagen kam es bereits im vergangenen August. Im Zentrum der Vorwürfe stand im Sommer die berechtigte Frage, warum die politisch Verantwortlichen nicht schon Anfang März Sperrzonen in Bergamo und anderen schwer von der Pandemie betroffenen Kommunen eingerichtet haben. Sperrzonen, die von Italiens angesehensten Virologen eingefordert wurden.
Die Gründe für die Klagen gegen den Staat sind nicht aus der Luft gegriffen. Sie verweisen auf den dramatischen Zustand eines Gesundheitssystems, das schon in Normalzeiten schlecht funktioniert. Die Klagenden beziehen sich unter anderem auf die bekannt gewordenen Pandemiepläne der italienischen Regierung, die nachweislich seit 2006 nicht mehr aktualisiert wurden. Sie verweisen auf das vor allem in der Lombardei, der von der Pandemie am stärksten betroffenen Region Italiens, in den vergangenen Jahren privatisierte Gesundheitssystem. Mit Krankenhäusern, die nachweislich in keiner Weise auf eine Pandemie vorbereitet waren. Die Privatisierung des lombardischen Gesundheitssystems führte zu mangelnden Personalzahlen in den Krankenhäusern, zu einer stark reduzierten Zahl von Betten für Infektionskrankheiten und zu wenigen Beatmungsgeräten. Den Anwälten der Klagenden zufolge sind die Schuldigen an dieser Situation regionale und staatliche Politiker. Sie legen Tausende von Seiten regionaler Dokumente vor, die nachweisen, wie das einst staatliche und gut funktionierende Gesundheitssystem systematisch demontiert wurde.
So wird etwa gegen den lombardischen Regionalpräsidenten Attilio Fontana geklagt. Er hatte mehrfach und viel zu lange die Gefahr durch Covid heruntergespielt, und lange die Verhängung eines Lockdown verhindert. Geklagt wird auch gegen Regierungschef Giuseppe Conte und Gesundheitsminister Roberto Speranza. Auch deswegen, weil sie nach Meinung der Kläger zu wenig Druck auf Politiker wie Fontana ausgeübt hätten.
Die politisch Verantwortlichen, so die Kläger, hätten viel zu lange gar nicht oder nur mangelhaft auf die wiederholten Warnungen des staatlich wissenschaftlichen Gesundheitsrates CTS reagiert. Die Kläger stützen sich auch auf einen Bericht von Wissenschaftlern der italienischen Niederlassung der Weltgesundheitsbehörde WHO, der die mangelhafte Vorbereitung staatlicher Einrichtungen in Sachen Covid angeprangert hatte. Ein Bericht, der nur einen einzigen Tag auf der Webseite der WHO öffentlich war, und jetzt nicht mehr aufzufinden ist. In dem Bericht ist, so zitierte die Tageszeitung „la Repubblica“, von „arg improvisiertem und chaotischem Umgang mit der Pandemie“die Rede.
Unter den Vorwürfen der Klagenden finden sich auch zahlreiche Fälle alter Menschen, die in lombardischen Altenheimen gestorben sind. Altenheime, in die lokale Gesundheitspolitiker an Covid-Erkrankte unterbrachten, die in Krankenhäusern keinen Platz mehr gefunden hatten. Den alten Menschen wurde dieser Umstand verschwiegen. Das Personal in den Altenheimen wurde in zahlreichen Fällen dazu angehalten, keine Gesichtsmasken zu tragen, um die alten Menschen nicht zu beunruhigen. Ein Verhalten, das tödliche Folgen hatte.