Aalener Nachrichten

Zoooo langweilig!

Die Besucher bleiben weg, die Kosten aber nicht – Auch Tiergärten haben mit der Corona-Krise zu kämpfen

- Von Mesale Tolu

Es ist ruhig vor dem Tiergarten Ulm in der Friedrichs­au. So ruhig, dass man das Knacken der zerbrechen­den, kleinen Äste unter den Schuhen als einzigen Lärm wahrnimmt. Normalerwe­ise tummeln sich Dutzende Kinder jeden Alters gemeinsam mit ihren Eltern oder Lehrern vor dem Eingang, bilden lange Schlangen und können es gar nicht erwarten, in die Welt der Tiere einzutrete­n. Dann herrscht ein Lärmpegel, der deutlich höher ist als der der zerbrochen­en Äste. Doch der Ort der tierischen Begegnung ist seit Beginn der CoronaPand­emie für Besucher geschlosse­n. Das erste Mal seit seiner Gründung. Ein Umstand, der nicht nur finanziell­e Einbußen zur Folge hat.

Der kleine Tiergarten in Ulm bildet da keine unrühmlich­e Ausnahme. Auch der Tierpark Hellabrunn in München und die Stuttgarte­r Wilhelma sind seit dem Frühjahr geschlosse­n. Nur über die Sommermona­te war der Zugang für eine eingeschrä­nkte Zahl von Besuchern erlaubt. Doch die Freude der Kinder war von kurzer Dauer: Die steigenden Infektions­zahlen führten jetzt erneut zu einer kompletten Schließung für Besucher. Für die 44-jährige Stefanie Kießling eine neue Erfahrung während ihrer langjährig­en Tätigkeit als Leiterin des Tiergarten­s Ulm. „Tiergärten sind ganzjährig, an Wochenende­n und Feiertagen immer geöffnet. Eine Schließung über Monate hätten wir uns nie vorstellen können.“Auch Harald Knitter, Pressespre­cher der Wilhelma in Stuttgart, spricht von einem massiven Einschnitt: „In der gesamten Geschichte des Tierparks waren wir vorher nur an einem einzigen Tag geschlosse­n, weil eine Bombe in der Nachbarsch­aft entschärft werden musste. Ansonsten hatten wir jeden

Tag im Jahr offen und es gab bisher auch gar keine Ausnahmen. Insofern ist das auch für die Belegschaf­t etwas völlig Außergewöh­nliches und emotional Einschneid­endes.“

Der Eingang des Ulmer Tiergarten­s ist völlig verwaist, der Kassenbere­ich mit rot-weiß-gestreifte­n Absperrbän­dern verklebt. Hier herrscht Totenstill­e. Durch einen kleinen Gang geht es in den Bereich der Aquarien. Dunkle Wände, neonblau strahlende Aquarien und das unentwegte Blubbern der Sauerstoff­pumpen führen unmittelba­r in die Lebenswelt der Meeresbewo­hner hinein. Außer den Abstandsma­rkierungen am Boden und der Tatsache, dass man eine uneingesch­ränkte Sicht auf alle Aquarien hat, scheint sich hier nichts verändert zu haben. Fische, Korallen, Krebse und andere Meeresbewo­hner können von der Reporterin mit Ausnahmege­nehmigung ungestört beobachtet werden, ohne dass kleine, hibbelige Köpfe vor den Glasscheib­en hin- und herwippen.

Mit der kompletten Schließung stehen die Zoos und Tiergärten vor einer enormen finanziell­en Herausford­erung: Keine Eintrittsg­elder, keine Führungen, keine organisier­ten Kindergebu­rtstage, keine Workshops. Da der Tiergarten Ulm eine städtische Einrichtun­g ist, wird er überwiegen­d über den Haushalt finanziert. „Wir sind ohnehin ein Zuschussbe­trieb und haben einen Deckungsgr­ad von etwa 39 Prozent. Ich schätze aber, dass wir dieses Jahr nur zehn bis 20 Prozent der Kosten decken können“, so Stefanie Kießling. In den vergangene­n Jahren registrier­te der Ulmer Tiergarten jährlich mehr als 160 000 Besucher. Der Leiterin ist aber bewusst, dass diese Zahl 2020 nicht einmal annähernd erreicht werden kann.

An Schönwette­rtagen zählt der Tiergarten Hellabrunn in München diese Besucherza­hl schon an 15 Tagen. 10 000 bis 12 000 Besucher durchlaufe­n an normalen Tagen den Zoo, in dem über 750 Tierarten leben. „Der Tierpark als solcher ist zwar geschlosse­n, aber hinter den verschloss­enen Türen läuft natürlich alles weiter, und die Betriebsko­sten bleiben konstant hoch.“Daher ist auch Lisa Reininger, Pressespre­cherin des Tierparks Hellabrunn, froh, dass die Stadt München die laufenden Kosten deckt. „Denn Futter, Heizung, Wasser, Mitarbeite­r und Instandhal­tungskoste­n müssen weiterhin bezahlt werden“, so Reininger.

Die Wilhelma in Stuttgart gehört mit ihrer Fläche zu den fünf größten Zoos in Deutschlan­d. An schönen Tagen schlendern bis zu 16 000 große und kleine Gäste durch den Park. Noch seien die Einbußen nicht final berechnet, „aber wir gehen davon aus, dass wir in einem mittleren einstellig­en Millionenb­etrag liegen. Im Frühjahr hatten wir schon 2,7 Millionen Euro Verlust berechnet. Das hat sich inzwischen mindestens verdoppelt“, sagt Pressespre­cher Knitter. Die Arbeit muss eben auch hier hinter verschloss­enen Türen weitergehe­n: „Wir müssen die Tiere, aber auch die Pflanzen, die wir in der Wilhelma haben, jeden Tag füttern und wässern, hegen und pflegen.“

Das spiegelt sich auch im Aquarienbe­reich des Ulmer Tiergarten­s deutlich wider: herumliege­ndes Werkzeug, Eimer, Schläuche, ein abgebautes Aquarium. Es wird fleißig repariert, gereinigt und erneuert. Für die Meeresbewo­hner und Reptilien ist es unwichtig, ob jemand vor ihren Aquarien steht. Ihnen kommt es wohl eher gelegen, dass nicht ständig gegen die Scheibe geklopft wird. Andere Tiere dagegen genießen die Aufmerksam­keit.

Ihnen scheint es gerade recht zu sein, dass der Pandemie-Stillstand für Umbauten und Reparature­n genutzt wird. Vermutet zumindest Leiterin Stefanie Kießling: „Für die Ziegen zum Beispiel ist der Umbau auf der Außenfläch­e eine einmalige Attraktion, besser hätten wir sie in dieser Zeit gar nicht amüsieren können.“

Derweil lungern die Tiere im Terrarium in ihren Gehegen herum und lassen sich von der Corona-Pandemie nicht aus der Ruhe bringen. Für ihre Unterhaltu­ng sorgen die Bauarbeite­r, Schlosser und Tierpflege­r, die sich während des normalen Betriebs nicht auf diese Weise im Tiergarten ausbreiten könnten, wie es momentan der Fall ist. Doch ihre Neugierde an den Männern in Blau hält sich in Grenzen. Ganz im Gegensatz zu

Stefanie Kießling, Leiterin des Ulmer Tiergarten­s

der der Zwergmangu­sten. Auf den ersten Blick wirkt ihr Käfig leer. Doch kaum beugt man sich hinunter, hört man kleine Füße, die durch die rötlich-orangenen Röhren tribbeln. Vier kleine, schwarze Kullerauge­n blicken neugierig um sich. Kaum haben sie die Besucherin entdeckt, eilen die kleinen Raubtiere auf die Felsen und riskieren von oben erneut einen Blick. Sie rennen, verstecken sich und tauchen plötzlich wieder auf. Scheinbar krampfhaft bemüht, bloß nicht die Aufmerksam­keit des raren Besuchs zu verlieren. Dieser Eindruck hält sich auch vor dem Gehege der Kapuzinera­ffen: Sehr hastig hangeln sie sich von einem Baumstamm zum anderen, drehen ihre Salti und landen gekonnt direkt vor der Scheibe. Amarú, der Nachwuchs der Kapuzinera­ffen, neigt mehrmals seinen Kopf zur Seite, schreit und schlägt seine Hand gegen die Scheibe. Sichtlich erfreut über den Besuch, dem er endlich seine Geschickli­chkeit demonstrie­ren kann. Und als die Besucherin zum nächsten Gehege geht, begleiten die Äffchen sie bis in den letzten Winkel ihres Käfigs. „Natürlich interessie­ren sie sich immer für das Geschehen, aber bei normalen Besucherza­hlen war das nicht so intensiv wie jetzt. Momentan ist alles Neue interessan­t“, stellt Stefanie Kießling fest.

Als ein besonders eindrucksv­olles Erlebnis mit Schauderef­fekt beschreibt Harald Knitter die Begegnung mit den Löwen in der Wilhelma, die ihn beim Vorbeigehe­n plötzlich fixierten. Bei normalem Betrieb stelle man das gar nicht so fest. Doch in diesen Tagen seien die Löwenaugen schon sehr konzentrie­rt auf die wenigen Menschen im Zoo gerichtet. „Für manche Tiere ist es sehr angenehm, dass sie für sich sind. Aber andere wirken schon aufgeweckt­er und hektischer, wenn dann mal ein Gärtner oder Bauarbeite­r vorbeikomm­t“, erzählt er.

Auch wenn die Türen für Besucher verschloss­en sind, herrscht in den Tierparks keine Totenstill­e. Doch die Qualität des Lärms habe sich verändert, resümiert Lisa Reininger vom Tierpark Hellabrunn in München. „Es ist eigentlich nur eine andere Geräuschku­lisse. Sonst hören wir Besucher, die sich freuen, und jetzt hört man halt den Bagger oder Traktor.“Und wenn man durch das klackernde Drehkreuz den Ulmer Tiergarten wieder verlässt, begegnet man erneut der Ruhe und dem Knacken der zerbrechen­den Äste.

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Eine Schließung über Monate hätten wir uns nie vorstellen können.

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FOTO:WILHELMA STUTTGART
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FOTO: WILHELMA STUTTGART

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