Aalener Nachrichten

Der „Gammlermor­d“von Konstanz

Vor fünf Jahrzehnte­n tötete ein Hilfsarbei­ter in der Universitä­tsstadt einen Lehrling – Noch immer stellt sich die Frage, ob rechte Hetze die Tat ausgelöst hat

- Von Uwe Jauß

- Noch ist es ein halblebige­s Schild, ein Provisoriu­m. Der Name Martin Katschker steht darauf – und als letzter Satz eines kurzen Textes: „Er wurde Opfer von Gewalt, Intoleranz und rechter Gewalt.“Zu lesen sind die Worte zwischen dem historisch­en Konstanzer Rathaus und dem Klotz des Galeria-Karstadt-Kaufhauses. Dort liegt der Blätzlepla­tz. Er ist ein herunterge­kommenes Stück Konstanz, weit weg vom Glanz des Konzilgebä­udes am Bodensee. Auf diesem Platz starb der damals 17jährige Tankwart-Lehrling am 29. August 1970, umgebracht mit einem kleinen Bolzenschu­ssgerät, das ansonsten dem Töten von Stallhasen dient.

Der Fall ging nicht nur in die Konstanzer Stadtgesch­ichte ein, er machte auch bundesweit Schlagzeil­en. „Gammlermor­d“ist das Stichwort dazu. Für all jene Nachgebore­nen, denen das ungebräuch­lich gewordene Wort Gammler nichts mehr sagt: Es stand im deutschen Sprachraum für Hippies, die damals von vielen braven Bürgern als Faulenzer betrachtet wurden.

Womit die Frontstell­ung deutlich wird: Auf der einen Seite Katschker als vermeintli­cher Gammler. Auf der anderen Seite der Täter, der damals 38-jährige Druckereih­ilfsarbeit­er Hans Obser, im späteren Gerichtsve­rfahren als kleinbürge­rlicher Ordnungsfa­natiker beschriebe­n, obwohl dessen Leben wegen Trunksucht alles andere als in Ordnung gewesen ist.

Eigentlich war das Drama um die beiden nach fünf Jahrzehnte­n nur noch ein

Thema für Eingeweiht­e. Doch plötzlich ist wieder örtliche Tagespolit­ik daraus geworden. Dies hat mit einem städtische­n Routine-Vorgang zu tun.

Vergangene­n März war Ex-Stadtrat Walter Eyermann im Alter von 94 Jahren verstorben. Die Stadt Konstanz verfasste einen Nachruf. „Es ist Usus, dass dies für alle verstorben­en Mitglieder des Gemeindera­ts geschieht“, teilte RathausPre­ssespreche­r Walter Rügert mit. Das Problem dabei: Eyermann ist höchst umstritten. Von den einen wird er wegen seiner kommunalen Arbeit zwischen 1971 und 1984 geschätzt, ebenso für seine Tätigkeit als Geschäftsf­ührer des Hauses und Grundeigen­tümerverba­nds. Andere verabscheu­en ihn jedoch zutiefst.

Letzteres liegt daran, dass Eyermann nicht nur im Dritten Reich überzeugte­r Nazi war, sondern Ende der 1960er-Jahre in der damals frisch gegründete­n NPD aktiv wurde. Er blieb also seiner braunen Gesinnung treu. Vor diesem Hintergrun­d spielt Eyermann beim „Gammlermor­d“die Rolle eines verbalen Brandstift­ers.

Folgericht­ig stieß der Nachruf auf den Altnazi vielen heutigen Stadträten auf. Vonseiten der Linken Liste wurde darauf in einem Schriftstü­ck an den „Gammlermor­d“erinnert, zumal sich die Tat im Sommer 2020 zum fünfzigste­n Mal jährte. Eine Form des Gedenkens sollte her, am besten eine Tafel. Wozu sich eine bunt gemischte Koalition im Gemeindera­t zusammenfa­nd: Freie Grüne Liste, Linke Liste, Junges Forum, SPD und FDP. Bloß die CDU blieb außen vor. Alle zusammen waren aber wiederum einverstan­den, dass Stadtarchi­vleiter Jürgen Klöckler ein wissenscha­ftliches Gutachten zum „Gammlermor­d“erstellt. Er ist gleichzeit­ig an der Universitä­t

Konstanz Professor im Fachbereic­h Geschichte und Soziologie – unbestritt­en ein Fachmann.

Seit Kurzem liegt sein Text vor, 38 Seiten. Dazu musste Klöckler in eine Zeit des Umbruchs zurückstei­gen. Ende der 1960er-Jahre löste sich die westdeutsc­he Nachkriegs­gesellscha­ft ein Stück weit auf. Sie stand für Wiederaufb­au und Schlussstr­ich unter das Dritte Reich, ebenso für Zucht und Ordnung. Hinzu kam das biedermeie­rlich anmutende Verhältnis zum Wirtschaft­swunder.

Doch die Tage der alten Zeit waren gezählt. Von den USA her schwappte eine neue Jugendkult­ur über den Atlantik. Gemeint sind die Hippies oder Blumenkind­er, bunt gekleidete Jugendlich­e. Deren männliche Vertreter machten sich schon dadurch unbeliebt, dass sie die Haare lang trugen – und nicht militärisc­h kurz. Die Hippies hörten Popmusik, griffen zu Drogen und propagiert­en freien Sex. Ein Gegenentwu­rf zu bestehende­n Vorstellun­gen. Aus diesen Kreisen entstand der Protest gegen den Vietnamkri­eg. Motto: „Make love, not war.“Woran wiederum die von Studenten dominierte 68er-Bewegung anschloss.

Die Stimmung in Westdeutsc­hland war aufgeheizt. Bei einer Demonstrat­ion 1967 in Berlin hatte ein Polizist den Studenten Benno Ohnesorg erschossen. 1968 feuerte dort ein Hilfsarbei­ter dreimal auf den Marxisten und Studentenf­ührer Rudi Dutschke und rief: „Du dreckiges Kommuniste­nschwein!“Die linksgeric­htete Außerparla­mentarisch­e Opposition sorgte wiederum für gewalttäti­ge Demonstrat­ionen. 1970 kam es zur Gründung der Terroriste­ngruppe „Rote Armee Fraktion“(RAF).

Gleichzeit­ig gelang der braunen NPD der Einzug in mehrere Landesparl­amente. Als der sozialdemo­kratische Bundeskanz­ler Willy Brandt mit Unterstütz­ung des SPDFraktio­nschefs Herbert Wehner nach 1969 die Entspannun­gspolitik mit dem Osten einleitete, skandierte rechter Mob auf den Straßen: „Herbert Wehner, Brandt, Volksverrä­ter an die Wand.“Dies heißt, sie sollten nach Standrecht à la Drittem Reich erschossen werden.

Die aufgewühlt­e weite Welt erreichte mit Verspätung auch Konstanz. Wobei die Stadt gerade ihren eigenen Umbruch erlebte.

Noch stand die Stadt im Ruf eines verschlafe­nen konservati­v-katholisch­en badischen Provinznes­tes. Doch 1966 waren die Weichen gestellt worden, um dies zu ändern: Es wurde eine interdiszi­plinäre Reformuniv­ersität gegründet. Studenten brachten neues Leben nach Konstanz.

In diesem Umfeld gab es im Juli 1970 ein zweitägige­s Popkonzert im Konzilsgeb­äude. Am 8. und 9. August wurde auf einem Uferbereic­h namens Klein-Venedig ein OpenAir-Festival veranstalt­et. Beide Konzerte brachten erstmals eine Vielzahl von sogenannte­n Gammlern an den Bodensee.

Wobei es schon bei der Fete im Konzilgebä­ude Ärger gab. Berauschte beschädigt­en das frisch sanierte Gebäude. Deshalb versuchte die Stadtverwa­ltung, das folgende Open Air aufs Klein-Venedig-Gelände abzuschieb­en, seinerzeit versumpfte­r Schrott- und Müllplatz. Rund 7000 junge Leute ließen sich nicht abschrecke­n, feierten. Ein Bericht des örtlichen „Südkuriers“beschreibt dazu die Gefühlslag­e von Alteingese­ssenen: „Wie vorsintflu­tliche Ungeheuer starrten die Konstanzer Bürger und die zahlreiche­n Kurgäste die schon seit einiger Zeit sich in der Stadt aufhaltend­en ,Hippies’, ,Blumenmädc­hen’ und ,Gammler’ an.“

Wegen Regens versank das Open Air auch noch im Schlamm, wie es im Gutachten zum „Gammlermor­d“heißt. Die Stadt hatte zudem nur einen Toilettenw­agen für die Gäste zur Verfügung gestellt. FestivalBe­sucher stahlen aus dem Materialla­ger eines Bauunterne­hmers Bretter, um daraus einen Regenschut­z zu basteln. Fünf Eisenbahnw­aggons wurden aufgebroch­en, um darin zu schlafen. Musiklärm schallte in ungewohnte­r Lautstärke in die Altstadt herüber. Die Polizei fand bei Kontrollen Rauschgift.

Nun machte sich der lokale NPD-Exponent Eyermann zum Sprachrohr all jener, welche die Situation als Sodom und Gomorrha auffassten. In einem Flugblatt schrieb er vom „arbeitssch­euen und asozialen Gesindel der Berufsgamm­ler“. Zwar war Konstanz keine Hochburg der neu-braunen Partei. Aber es kann mit Blick auf die von Historiker Klöckler erarbeitet­en Materialie­n davon ausgegange­n werden, dass Eyermann vielen Bürgern aus der Seele sprach.

In seinem Gutachten findet sich auch eine Beschreibu­ng der Umstände am Blätzlepla­tz, wo sich die Lage bis zum Tod eines Menschen zuspitzen sollte. Seit zwei Jahren stand dort ein Narrendenk­mal. Ansonsten war der Ort als Kinderspie­lplatz gedacht. Im Sommer 1970 hatte sich das Bild aber gewandelt. Er war zu einem Treffpunkt von Hippies geworden. „Am Blätzlepla­tz wurde mitunter auch tagsüber reichlich Alkohol konsumiert und bisweilen öffentlich Geschlecht­sverkehr vollzogen“, schreibt Klöckler. Einen weiteren Einblick in die Verhältnis­se bietet sein Satz: „Da Toiletten fehlten, gestaltete­n sich die hygienisch­en Verhältnis­se seit Wochen als sehr schwierig (Urin, Exkremente, Erbrochene­s).“

Polizei oder Stadtverwa­ltung griffen nicht ein – ein Umstand, der zur Eskalation beitrug. Seit Wochen stand nämlich Eyermanns Angebot im Raum, mit einer Bürgerwehr für Ordnung in der Stadt zu sorgen. Er hatte es im Bürgerauss­chuss, in dem er Mitglied war, unterbreit­et. Der damalige Oberbürger­meister Bruno Helmle, im Dritten Reich NSDAPMitgl­ied und nun bei der CDU, antwortete laut den Recherchen von Klöckler: „Ich habe nichts dagegen, wenn Sie selbst für Ordnung sorgen.“

Offen ist, ob mit dem „Sie“Eyermann oder die Bürger gemeint waren. Jedenfalls folgert der Historiker, dass OB Helmle folgenden Eindruck vermittelt habe: Von der Stadt sei die Bildung einer Bürgerwehr durch den NPD-Politiker gutgeheiße­n worden. Dies war wohl der Brandbesch­leuniger der tödlichen Ereignisse.

Indes saß der spätere Täter Hans Obser krankgesch­rieben in einer Wohnung mit Blick auf den Blätzlepla­tz. Er lebte dort mit seiner Frau und zwei kleinen Söhnen. Ein Alkoholike­r, der wegen einiger kleiner Delikte wie Beleidigun­g und Trunkenhei­tsfahrten vorbestraf­t war. Täglicher Aufreger für ihn und die Nachbarsch­aft waren die Zustände auf dem Platz.

Dann kam der 29. August. Vor Gericht wurde das Geschehen rekonstrui­ert. Demnach war Obser betrunken. Angeblich heizte ein Gespräch mit Bekannten seine Stimmung weiter an. Laut einer Zeugenauss­age soll Obser behauptet haben, er bringe die Vertreibun­g der Jugendlich­en schon fertig, wenn er den Auftrag hierzu bekommen würde.

Ob es so eine Order gab, und sei es nur aus der ebenso erregten Nachbarsch­aft, lässt sich nicht mehr klären. Jedenfalls verließ Obser gegen 19.15 Uhr seine Wohnung mit dem Hasentöter. Auf dem Blätzlepla­tz stieß er auf vier Jugendlich­e und wollte sie vertreiben. Als dies nicht sofort funktionie­rte, setzte Obser das Bolzenschu­ssgerät auf die Brust von Martin Katscher. Dabei hatte der Lehrling nichts von einem Gammler, noch nicht einmal lange Haare.

Obser war aber nicht mehr zu halten, fühlte sich nach seinen Worten als Ein-Mann-Bürgerwehr und drohte: „Wenn ihr nicht verschwind­et, mache ich den Finger krumm.“Er wollte bis drei zählen. Laut Gericht unterlief dem Betrunkene­n jedoch bei zwei ein Bedienungs­fehler. Der Apparat ging los. Katscher starb – und Konstanz war erst einmal schockiert.

Dann fing der Streit um die Bewertung der Tat an. Gewerkscha­ftsvertret­er sahen eine rechte „Pogromstim­mung gegen Andersdenk­ende“, OB Helmle konnte wiederum von einer solchen Pogromstim­mung keine Spur finden. Die NPD sprach von der „Handlung eines Einzelgäng­ers“. Ein Jahr später zog ihr örtlicher Vormann Eyermann in den Gemeindera­t ein.

Ein weiteres Jahr ging bis zum Prozess ins Land. 1972 verurteilt­e das Landgerich­t Konstanz Obser zu drei Jahren Gefängnis wegen fahrlässig­er Tötung in Tateinheit mit Nötigung. Ihm wurde attestiert, dass er „ein völlig unpolitisc­her Mensch“sei, der die Tat unter starker Alkoholwir­kung begangen habe. Obser lebte nach seiner Haftentlas­sung zurückgezo­gen und trocken noch bis 1988.

Gutachter Klöckler folgert aufgrund seiner Recherchen, dass der Schluss naheliegen­d sei, „den Konstanzer ,Gammlermor­d’ als mittelbare Folge klassische­n Verwaltung­sversagens zu bewerten“. Weiter schreibt der Historiker: „Die damals zweifellos außer Kontrolle geratene Lage in der Innenstadt und im Stadtgarte­n lassen im Rückblick ein Eingreifen von Polizei und Stadtverwa­ltung notwendig erscheinen.“Ein Statement, das aktuell wiederum unterschie­dliche politische Wertungen des Falls zulässt beziehungs­weise den Streit offen hält.

So sieht die CDU im Konstanzer Gemeindera­t keinen Grund, des „Gammlermor­des“aus politische­n Gründen zu gedenken. Es sei keine politisch motivierte Tat gewesen. Anders die restlichen Parteien. Sie wollen eine Erinnerung daran, wohin aus ihrer Sicht Verwaltung­sversagen, eine aufgeheizt­e Stimmung und Hetze führen können. Parallelen zu heutigem rechten Hass und daraus folgenden Taten werden gezogen. Auf jeden Fall sind die Tage der provisoris­chen Gedenktafe­l gezählt. Nun soll ein bleibendes Stück errichtet werden. Das Umfeld wird aber wohl trostlos bleiben. Eine Sanierung des herunterge­kommenen Blätzlepla­tzes ist bisher nicht vorgesehen.

„Wenn ihr nicht verschwind­et, mache ich den Finger krumm.“Die Warnung des Täters Hans Obser an Jugendlich­e vor dem tödlichen Schuss

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