Deutschlands Apotheke sitzt im Südwesten
Mehr als ein Viertel aller in der Pharmabranche Beschäftigten arbeitet in Baden-Württemberg
(dpa) - Curevac in Tübingen, Roche in Grenzach-Wyhlen, Boehringer Ingelheim in Biberach: Nicht zuletzt in der Corona-Pandemie tauchen immer wieder Namen von Pharmaunternehmen mit Standorten in BadenWürttemberg auf. Darunter große, bekannte. Aber auch kleine Firmen wie Apogenix mischen mit: In Heidelberg arbeiten die Mitarbeiter an einem Medikament gegen Covid-19. Für Studien in Spanien, Russland und Österreich würden gerade Patienten gesucht, teilt eine Sprecherin mit. „Wegen der niedrigen Fallzahlen im Sommer 2020 stand Deutschland für die Durchführung damals nicht zur Disposition.“Doch Apogenix bemühe sich gerade, eine Förderung für eine solche Studie vom Bundesforschungsministerium zu erhalten.
Es sind nur einzelne Beispiele aus einer großen Branche: „Baden-Württemberg ist mit seiner Pharmaindustrie die Apotheke Deutschlands“, sagt Ralf Müller, Geschäftsführer des Verbands Chemie.BW in Baden-Baden. Mehr als ein Viertel aller Mitarbeiter der Branche deutschlandweit arbeite in Südwest-Betrieben. In Zahlen sind das den Angaben nach rund 40 000 Beschäftigte in 120 Unternehmen. Sie machten im vergangenen Jahr 15,2 Milliarden Umsatz. Die Pharmabranche in Baden-Württemberg habe damit einen Anteil von 37 Prozent nach Beschäftigten und Umsatz in der Chemie- und Pharmaindustrie.
Kleine und mittelständische Unternehmen bilden laut Müller die große Mehrheit, mehr als zwei Drittel der Unternehmen hätten weniger als 500 Mitarbeiter. „Es sind Startups aus dem Umfeld der Universitäten genauso wie Traditionsunternehmen – und sie sind in Forschung, Entwicklung, aber auch in der Wirkstoffherstellung und Produktion erfolgreich.“Die Palette reiche von klassischer Arzneimittelproduktion, Forschung und Entwicklung über Bio- und Gentechnologie bis zur Herstellung von Generika, also Nachahmerpräparate von zugelassenen Arzneimitteln. „Bundesweit einmalig ist der Schwerpunkt der besonderen Therapieformen wie beispielsweise pflanzliche Arzneimittel“, erklärt Müller.
In Sachen Corona sind gleich mehrere Unternehmen aus dem Südwesten tätig, wie aus einer Übersicht des Verbands der forschenden Pharmaunternehmen hervorgeht. Das wurde auch bei den Bilanzen für 2020 deutlich, die die Unternehmen in den vergangenen Wochen vorgelegt haben. So hat Roche fast eine halbe Milliarde Euro in deutsche Standorte investiert und um rund 500 Mitarbeiter aufgestockt; in Baden-Württemberg profitierte vor allem Mannheim davon. Das Familienunternehmen Boehringer Ingelheim aus Rheinland-Pfalz hat Rekordinvestitionen in Höhe von 3,7 Milliarden Euro verbucht – die größte inländische mit 300 Millionen Euro in Biberach für ein neues Entwicklungszentrum für biopharmazeutische Medikamente.
Dort arbeitet Boehringer zurzeit an einem Medikament gegen Covid-19 auf Basis eines Antikörpers, den der Konzern zusammen mit dem Universitätsklinikum Köln, der Universität Marburg und dem Deutschen Zentrum für Infektionsforschung entwickelt hat. Das Besondere an dem Antikörper ist, „dass dieser per Inhalation verabreicht wird“, sagte die Deutschland-Chefin Sabine Nikolaus vor wenigen Tagen der „Schwäbischen Zeitung“. Der Antikörper soll den Ausbruch der Erkrankung nach einer Infektion verhindern. Die Therapie könne eine Lösung für Menschen sein, die mit Infizierten in Kontakt kommen, also beispielsweise medizinisches Personal. Derzeit steckt Boehringer in der Phase 1 der klinischen Tests zur Prüfung des Antikörpers. „Wenn alles gut läuft, erwarten wir die Beantragung einer Notfallzulassung Ende dieses Jahres“, sagte Vorstandschef Hubertus von Baumbach bei der Vorstellung der Geschäftszahlen des Familienunternehmens.
Der wohl weniger bekannte Wirkstoffentwickler Atriva Therapeutics aus Tübingen wiederum hat sich mit drei anderen deutschen Herstellern zur Initiative Beat-Cov zusammengeschlossen, die von der Politik Unterstützung fordert, um Medikamente kurzfristig Ärzten und Patienten zur Verfügung stellen zu können. Dabei geht es vor allem um eine Absicherung für finanzielle Risiken, die Firmen eingehen, wenn sie wegen der Dringlichkeit Entwicklungsschritte parallel gehen – statt erst Ergebnisse einer Stufe abzuwarten, bevor sie weitermachen.
Chemie.BW-Geschäftsführer Müller sagt: „Aus unserer Sicht laufen die pharmazeutisch spezifischen Zulassungen sehr konstruktiv. Da haben wir jetzt jüngst bei den Impfstoffen gesehen, das geht sogar noch, ohne Qualitätsverlust, schneller als bisher üblich.“Das in Baden-Württemberg landesweit zuständige Regierungspräsidium Tübingen sei hier ein sachkundiger Ansprechpartner für die Unternehmen.
Kritischer sieht der Verband Genehmigungsverfahren etwa beim Bau von Produktionsanlagen. „Hier haben unsere Pharmaunternehmen – wie viele andere Industriebetriebe im Land auch – mit teilweise extrem langen Verfahren für einfache Baugenehmigungen zu kämpfen“, sagt Müller. „Eine Verwaltung, die auf Zack ist und weiß, was die Unternehmen brauchen, könnte für eine im internationalen Wettbewerb stehende Branche Vorteile bringen. Überlange Genehmigungsverfahren sind dagegen Gift im Wettbewerb um den Pharmastandort.“
„Ruinöse Rabattverträge“der Gesetzlichen Krankenversicherung mit China und Indien bei generischen Medikamenten erschwerten die Arbeit in Deutschland. Unternehmen könnten auch bei neuen Medikamenten trotz viel Innovation nicht mehr lange aufholen, sagt der Geschäftsführer.
Diese Rahmenbedingungen wie auch hohe Arbeits- und Energiekosten würden auf Bundesebene gesetzt. „Hier erwarten wir uns aber Schützenhilfe durch die Landesregierung“, fordert Müller. „Denn: Noch ist Baden-Württemberg ein starker Pharmastandort.“Es werde geforscht, entwickelt, produziert und vertrieben. „Aber: Es muss hier auch weiterhin möglich sein, das nötige Geld zu verdienen, um diese Leistungen an einem Standort wie Deutschland zu erbringen.“