Top oder flop: Beim Wechselunterricht kommt’s drauf an
Startchancen frühestens nach den Pfingstferien – Modelle unterscheiden sich – Bedenken beim Streaming
- Es ist am 19. April eine große Enttäuschung gewesen: Alles war für den Wechselunterricht vorbereitet, und dann blieben die Schulen zu, ausgenommen für Abschlussklassen und Notbetreuung. Nun warten alle auf den Tag, an dem die Corona-Inzidenz an fünf aufeinander folgenden Werktagen unter 165 liegen wird. Hoffnung darauf gibt es frühestens nach den Pfingstferien. Allerdings: Wenn’s dann endlich losgeht, lohnt sich ein Blick auf die Details. Denn was sich anhört, als sei’s für alle das Gleiche, ist es nicht. Wie Wechselunterricht gestaltet wird, ist der einzelnen Schule und Lehrkraft überlassen. Das kann im Lernalltag der Schülerinnen und Schüler zu Unterschieden führen.
Wo sich alle einig sind:
Die echte Begegnung im Klassenzimmer ist durch nichts zu ersetzen. Rektor Martin Burr von der Eugen-Bolz-Realschule (EBR) hat es an den Fünftund Sechstklässlern beobachtet, die vor dem 19. April ein paar Wochen lang Präsenzstunden genießen durften: „Die haben sich so gefreut, ihre Kameraden zu sehen.“Und er betont: „Die Sehnsucht ist groß.“Joseph Ott, der Leiter der Buchenbergschule, möchte das Augenmerk auf die Erst- und Zweitklässler lenken, „die noch nicht ein einziges vollwertiges Schuljahr erlebt haben“. Auch den Abschlussklassen müsse „unsere ganze Kraft zukommen“. Und Martin Ries, der Leiter des HariolfGymnasiums (HG), sorgt sich: „In der Mittelstufe bekommen manche Schüler so langsam einen Knacks, weil sie so lange nicht kommen dürfen.“Die Schülerinnen und Schüler von der siebten Klasse aufwärts sitzen seit den Weihnachtsferien zu Hause. Schule sei auch ein sozialer Lebensraum, mahnt Ries, und es brauche Hilfe für diejenigen, die ohne diesen Raum ins Bodenlose fallen. Der Schulleiter freut sich auch deshalb, dass das HG einen Schulsozialarbeiter erhalten wird.
Das Problem beim Fernunterricht:
Zeigt sich bei einer Begegnung im Supermarkt. Eine Mutter erzählt, sie arbeite jeden Tag bis 14 Uhr, während ihr Sohn zu Hause in seinem Zimmer sitze. Sie könne nicht kontrollieren, was er da mache, aber Schule, seufzt sie, sei’s bestimmt nicht. Ihre Gesprächspartnerin nickt. Sie hat resigniert. Für ihren 15-Jährigen, stellt sie fest, sei dieses Jahr ein verlorenes Jahr. Peter Lehle kann das nachvollziehen. Einem guten Drittel der Schülerinnen und Schüler, hat der Leiter des Kreisberufsschulzentrums Ellwangen beobachtet, komme die Selbstständigkeit des Fernlernens zugute, sie hätten sich verbessert. Ein mittleres Drittel bleibe auf seinem Niveau. „Und ein schlechtes Drittel wird komplett abgehängt“, bedauert er. Oft seien es Jugendliche aus einem sozialen Umfeld, das das Lernen erschwere. Aber nicht nur. Zuhause Videokonferenzen zu folgen bei abgehacktem Ton, im stillen Kämmerlein neuen Stoff zu lernen ohne Unterstützung, Übungsaufgaben zu machen ohne viel Feedback – es gibt viele Gründe zu resignieren. Es sei wichtig, den Jugendlichen Angebote zu machen, sagt Lehle. „An der Schule weiß man wenigstens, dass sie da sind.“
Wie Wechselunterricht geht:
Zur Hälfte in Präsenz, zur anderen Hälfte in Distanz, so viel ist klar. Wie genau, plant jede Schule individuell, erklärt Bernd Schlecker vom Schulamt Göppingen. Das Kultusministerium mache keine Vorgaben zur konkreten Ausgestaltung. Die meisten Schulen folgen dem Modell, das Heiko Fähnle beschreibt: „Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, im Präsenzunterricht neue Themen einzuführen und sie im Fernlernen selbstständig einüben zu lassen“, sagt der geschäftsführende Schulleiter von Ellwangen, der auch Rektor der Schrezheimer Grundschule ist. Für zu Hause werden abgestimmte Lernpakete geschnürt.
Weiterführende Schulen ergänzen die Möglichkeiten. So will die Mittelhofschule die ihr Anvertrauten zu Hause vormittags über die Lernplattform Moodle mit Aufgaben versorgen und nachmittags, wenn die Lehrer den Präsenzunterricht beendet haben, zusätzlich Videokonferenzen
abhalten. Das berichtet ihr Rektor Harald Rathgeb. Schüler, denen der technische Zugang fehle, könnten ihr Material abholen. „Wir stellen sicher, dass Aufgaben und Material ankommen und dass die Kommunikation zwischen Lehrern und Schülern da ist“, erzählt Rathgeb. „Wir versuchen im Spannungsfeld zwischen Schule und zu Hause das Optimale für alle herauszuholen.“Manche Schulen erwägen zu streamen, also: den Präsenzunterricht aus dem Klassenzimmer live in die Kinderzimmer zu übertragen.
Streaming - Ja oder Nein?
„Wir haben die Ausstattung und die Möglichkeit dazu“, sagt EBR-Rektor Martin Burr. Er nennt die Vorteile, wenn auch die Schüler zu Hause den Unterricht mitverfolgen: „Man kommt besser voran im Stoff. Beim klassischen Wechselunterricht bekommt man etwa 50 Prozent des Stoffes durch, beim reinen Präsenzunterricht 100 Prozent und beim Streamen ungefähr zwei Drittel.“Doch eigne sich die Live-Übertragung nicht immer, so Burr. „Bei Übungen oder Diskussionen macht Streamen keinen
Sinn, bei der Einführung von neuem Stoff schon.“
Genau wie die EBR hat auch das Peutinger-Gymnasium (PG) die Entscheidung übers Streamen in die Verantwortung des einzelnen Pädagogen gelegt. „In Baden-Württemberg sind die Lehrer im Rahmen der sogenannten ,pädagogischen Verantwortung’ recht frei in der Gestaltung ihres Unterrichts“, begründet dies Schulleiterin Stella Herden. Einige Kollegen hätten bereits gestreamt. Aber: „Wir hatten negative Erlebnisse. Vieles, das nicht geklappt hat. Die Schüler zu Hause haben zum Beispiel nicht verstanden, was ihre Kameraden in der Klasse sagen.“
Große Bedenken gibt es aus Datenschutzgründen. „Eine Live-Übertragung aus dem Klassenzimmer“, sagt Heiko Fähnle, „ist eine rechtliche Grauzone. Man weiß nicht, wer alles zuschaut und zuhört.“Wer es darauf anlege, könne Äußerungen von Schülern oder Lehrern mitschneiden und ins Netz stellen, Stichwort: Cybermobbing. Deshalb sei eine verantwortungsvolle Entscheidung der Schulleitung übers Streaming nötig.
Das Problem sehen auch die anderen Schulleiter. Ein Lehrer könne immerhin selbst entscheiden, ob sein Unterricht den geschützten Raum des Klassenzimmers verlässt, ein Schüler nicht, veranschaulicht Stella Herden. „Eigentlich bräuchte man von jedem einzelnen Schüler eine Einverständniserklärung.“Was sie tolerieren könnte: „Mit der Kamera wird die Tafel übertragen, mit dem Mikrofon das, was der Lehrer sagt. Die Antworten der Schüler sind nicht zu verstehen, und der Lehrer wiederholt sie alle für die Schüler zu Hause.“
Joseph Ott von der Buchenbergschule hält Streaming aus Datenschutzgründen „nur dann für gangbar, wenn die Lerngruppe auf zwei Räume innerhalb der Schule aufgeteilt ist und damit die Übertragung kontrolliert werden kann“. Diesbezüglich sei die Buchenbergschule in der Beschaffungsphase für Kameras.
Harald Rathgeb positioniert sich für die Mittelhofschule eindeutig: „Das machen wir nicht.“Er erzählt von Erfahrungen einiger Kollegen mit dem Streamen. „Es klingt zunächst toll, ist aber katastrophal. Der erste Schüler kommt nicht rein, der zweite hört nichts, der dritte meldet sich, ist aber nicht zu verstehen. Noch kein Kollege hat das Streamen positiv bewertet. Wir haben es verworfen“, so Rathgeb.
Am Hariolf-Gymnasium sieht man es ähnlich. „Streaming klingt zunächst super, alle wären damit auf dem gleichen Stand, aber in der Umsetzung gibt es eine Menge Hürden“, so Leiter Martin Ries.
Was folgt? Erst einmal bleibt der Wechselunterricht, welcher Art auch immer, angesichts hoher Inzidenzzahlen ohnehin in weiter Ferne. „Die Hoffnung liegt auf der Zeit nach den Pfingstferien“, meint Heiko Fähnle.
Und dann? Welcher Wechselunterricht Freude macht, welcher zu Frust führt und was vom Lernstoff in diesem Corona-Schuljahr überhaupt bei den Schülern hängen bleiben wird, wird man erst noch herausfinden müssen. „Wenn die Kinder wieder hier sind, müssen wir eine Bestandsaufnahme machen“, sagt Stella Herden. Neben der Leistung werde es dabei auch um die Psyche gehen. „Das wird eine große Aufgabe.“