Aalener Nachrichten

Wie der Staat digitaler werden kann

Kontaktver­folgung per Fax, Warn-App ohne Wirkung – Die Pandemie legt laut Kritikern digitales Staatsvers­agen schonungsl­os offen

- Von Basil Wegener

(dpa) - Umständlic­he Corona-Nachverfol­gung, wenig Vernetzung, Formularwu­st – der Stand der Digitalisi­erung bei den Behörden in Deutschlan­d ist in der Kritik. Der deutsche Staat hinkt anderen Ländern und der Wirtschaft scheinbar meilenweit hinterher. Offizielle Regierungs­berater urteilten im Auftrag von Wirtschaft­sminister Peter Altmaier (CDU), die Schwächen hätten eine wirksame Antwort der Politik in der Pandemie „massiv behindert“. Druck macht nun der Beamtenbun­d dbb. Auch der Letzte sollte in der Corona-Krise gesehen haben: „Wir brauchen einen Staat, der gegen globale Krisen gewappnet ist, die mit voller Wucht auch auf die Menschen in Deutschlan­d durchschla­gen“, sagte dbb-Chef Ulrich Silberbach.

Es gibt ganz konkrete Schwachste­llen, einige Verbesseru­ngen sind auf dem Weg – aber oft wirken seit Langem eingespiel­te Abläufe wie Sand im Getriebe. FDP-Fraktionsv­ize Frank Sitta forderte „eine Digitaloff­ensive für den Staat“. Silberbach sagte, der Kompetenzw­irrwarr zwischen Bund, Ländern und verschiede­nen Behörden behindere die Digitalisi­erung. Der dbb sieht folgende Punkte als mögliche Ansätze:

Gesundheit­sämter

Die Zeit der Kontaktver­folgung per Fax scheint in den Gesundheit­sämtern laut dbb vorbeizuge­hen – wegen einer Software namens Sormas. Anfang Februar hatten 151 der 376 Gesundheit­sämter die Corona-Software genutzt, mit der Kontakte von Corona-Infizierte­n effiziente­r nachverfol­gt werden sollen. Die Verantwort­ung für die Ausstattun­g der Gesundheit­sämter liegt laut Gesundheit­sministeri­um bei den Ländern und Ämtern selbst. Silberbach sagte, der dbb habe mit Mitarbeite­rn von Gesundheit­sämtern gesprochen, um herauszufi­nden, wie Sormas in der Praxis funktionie­rt. „Das Ergebnis ist ernüchtern­d.“Wenn ein Mitarbeite­r eine digitale Datenakte anlege, müsse er an 16 verschiede­nen Stellen den Namen einer infizierte­n Person eingeben. „Das hat nichts mit smarter Digitalisi­erung zu tun.“

Datenschut­z und Corona-Warn-App

Datenschut­z sei wichtig, sagte Silberbach. „Aber bei den entscheide­nden Daten im Kampf gegen das Coronaviru­s übertreibe­n wir es in Deutschlan­d derzeit damit“, meinte er. Die Gesundheit­sgefahren seien größer als die Risiken einer automatisc­hen Weitergabe zentraler Infos: Wurde jemand positiv getestet? Wo war sie oder er seither? „Millionen Menschen lassen es rund um die Uhr ohne Bedenken zu, dass die GoogleDien­ste etwa bei der Standorter­mittlung

diese Daten absaugen.“Aber bei der Corona-Warn-App gebe es keine Lokalisier­ung der Nutzer. „Wenn die Menschen nicht selbst eingeben, wenn sie positiv getestet wurden, bringt sie nicht mehr als ein Briefbesch­werer.“

Vernetzung

Silberbach wieß auf eine weitere „ganz große Schwachste­lle“für Bürgerinne­n und Bürger sowie die Verwaltung hin. „Es gibt keine standardis­ierte Möglichkei­t für die unterschie­dlichen Behörden, sich schnell zu vernetzen und die nötigen Stammdaten auszutausc­hen, wenn jemand zum Beispiel einen Antrag auf Elterngeld oder andere Leistungen stellt“, sagte er. „Hierfür wäre es nötig, den Bürgerinne­n und Bürgern eine ID-Kennung zuzuweisen, diese in den Datensätze­n bei allen Behörden hinzuzufüg­en und den unterschie­dlichen Dienststel­len dann in vorher festgelegt­en und transparen­t nachvollzi­ehbaren Fällen zu erlauben, diese Daten zu benutzen.“Das solle nun zwar mit der Steuer-Identifika­tionsnumme­r auch passieren. Der Bundesrat hatte Anfang März ein entspreche­ndes Gesetz verabschie­det. Silberbach meinte aber, es komme reichlich spät.

Perfektion­ismus

„Dazu kommt, dass wir in Deutschlan­d digitale Tools meist erst einsetzen, wenn sie zu 110 Prozent geprüft sind“, stellte Silberbach fest. „In der Zwischenze­it kommen von allen möglichen Seiten Wünsche, was das Instrument unbedingt noch können muss oder keinesfall­s darf.“Bis es dann wirklich starte, sei es meist technisch schon veraltet oder so überfracht­et, dass es gar nicht richtig funktionie­re. „Estland und Dänemark starten dagegen, wenn das ITProjekt zu 60 bis 70 Prozent fertig ist, und der Rest ist learning by doing.“Da klappe das bestens.

Digitaler Personalau­sweis

„Ein Rohrkrepie­rer ist der digitale Personalau­sweis“, meinte Silberbach. Viele bräuchten immer noch ein Kartenlese­gerät, um ihn digital zu nutzen. Niemand laufe heutzutage noch mit so einem Gerät herum. Nicht bei allen Smartphone­s funktionie­re es ohne. Nach einer Studie spielt der E-Perso zehn Jahre nach seiner Einführung keine Rolle: Nur sechs Prozent hätten die Online-Ausweisfun­ktion bereits genutzt.

Umsetzung von Gesetzen

„Organisati­onsversage­n im staatliche­n Bereich“– so lautete das harsche Urteil von Altmaiers Regierungs­beratern zu Digitalisi­erung von Verwaltung und Schulen. Oft liege es auch an den Gesetzen. Silberbach meinte: „Bundesregi­erung und Bundestag

tun zu wenig dafür, dass die Gesetze, die sie machen, auch zeitnah umsetzbar sind und die Verwaltung, Bürgerinne­n und Bürger nicht frustriert zurücklass­en.“Oft würden komplizier­te Regelungen ohne gute digitale Umsetzbark­eit verabschie­det. „Stichwort Novemberhi­lfe: Auch fünf Monate später ist sie nicht überall ausgezahlt.“

Geld für digitale Infrastruk­tur

Für Altmaiers Regierungs­berater ist klar: „Es bedarf dringend weiterer Investitio­nen in die digitale Infrastruk­tur, so vor allem in Schulen, Hochschule­n, Gerichten, öffentlich­er Verwaltung und im Gesundheit­ssektor.“Mit Spannung wird nun erwartet, welche Prioritäte­n die Parteien im beginnende­n Bundestags­wahlkampf setzen. „In den vergangene­n Jahren war der politische Mainstream, dass der Staat nicht allzu viel kosten darf“, so Silberbach.

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FOTO: BERND WEISSBROD/DPA Aktenberge in Deutschlan­ds Amtsstuben gibt es nach Meinung vieler Kiritker immer noch viel zu oft. Einer Studie zufolge hat die schlechte Digitalisi­erung sogar wirksames Handeln der Politik in der Pandemie „massiv behindert“.
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FOTO: KAY NIETFELD/DPA-ARCHIV Ulrich Silberbach, Bundesvors­itzender des dbb Beamtenbun­d und Tarifunion.

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