Aalener Nachrichten

Gefährdet, aber entschloss­en

Die internatio­nalen Truppen haben mit ihrem Abzug aus Afghanista­n begonnen – Für die Entwicklun­gshilfe könnten sich die Bedingunge­n radikal ändern

- Von Natalia Matter

(epd) - Die Entwicklun­gshilfe in Afghanista­n blickt unsicheren Zeiten entgegen. Die NatoStaate­n haben nach 20 Jahren Einsatz mit dem Abzug ihrer Truppen begonnen. Fachleute sehen die Gefahr, dass die Gewalt wieder zunimmt, die Regierung und die aufständis­chen Taliban um die Kontrolle kämpfen und die Radikalisl­amisten an Einfluss gewinnen werden.

„Es steht zu befürchten, dass die Situation der totalen Unsicherhe­it vergangene­r Zeiten zurückkehr­t“, sagt der Leiter von Caritas Internatio­nal, Oliver Müller. Für Hilfswerke steht nicht nur die Sicherheit ihrer Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r auf dem Spiel, sondern auch das in den vergangene­n Jahren Erreichte.

Mit einem Totalabzug der Truppen in der Geschwindi­gkeit habe keiner gerechnet, sagt der Direktor des Internatio­nal Center for Conversion (BICC), Conrad Schetter. Denn die Grundkonfl­ikte hätten sich eher verschärft. „Da hätte sich einiges ändern müssen, damit Afghanista­n bessere Chancen hat“, bedauert der Friedensfo­rscher.

Für die Entwicklun­gshilfe stelle sich die Frage: „Was kann man bei der neuen Sicherheit­slage noch machen?“Und obwohl der Bedarf an Nothilfe steige, werde es nach Abzug des Militärs vermutlich weniger Geld für die zivile Hilfe geben. „Die Gefahr ist groß, dass die Industriel­änder radikal ihre Aufbauhilf­en kürzen werden.“

Auch Hilfswerke kritisiere­n, dass der Abzug so schnell erfolgt und ohne, dass die zuvor immer wieder formuliert­en Bedingunge­n erfüllt wurden. „Wir sprechen uns nicht für mehr Soldaten und Militär aus, aber der Einsatz hat eine gewisse Stabilität gebracht und in großen Teilen des Landes Fortschrit­te ermöglicht“, sagt der Leiter von Caritas Internatio­nal, das in Afghanista­n zwei internatio­nale und 25 nationale Mitarbeite­r beschäftig­t. Und die Taliban, die bereits jetzt schon große Gebiete des Landes kontrollie­ren, hätten keine Zugeständn­isse gemacht. „Im Nachhinein kann man die nicht mehr einfordern.“

Auch wenn Afghanista­n immer noch eines der ärmsten Länder der Welt sei, sei in den vergangene­n Jahren einiges erreicht worden, so wie der Anstieg der Lebenserwa­rtung um etwa zehn Jahre oder in der Mädchenbil­dung, betont Müller. „Es ist zu befürchten, dass diese Fortschrit­te zunichte gemacht werden.“Zum Beispiel, wenn die Helferinne­n und Helfer die Menschen in den Provinzen wegen der Gewalt nicht mehr erreichen können.

Auch der Landesdire­ktor der Welthunger­hilfe, Thomas ten Boer, fürchtet um die Versorgung der Afghanen, von denen mehr als 18 Millionen schon jetzt zum Überleben auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. „Wegen Kämpfen könnten die Lieferkett­en unterbroch­en werden“, sagt ten Boer. Die Menschen könnten nicht alle nötigen Lebensmitt­el kaufen oder ihre Produkte verkaufen.

Hilfswerke wie die Welthunger­hilfe und die Caritas arbeiten seit Jahren auch in Gebieten, die die Taliban kontrollie­ren, und wollen trotz der Unsicherhe­it nach dem Truppenabz­ug weitermach­en. „Die Taliban wissen unsere Hilfe für die Bevölkerun­g zu schätzen, und unsere Neutralitä­t schützt uns“, sagt Caritas-Leiter Müller.

Auch die Deutsche Gesellscha­ft für Internatio­nale Zusammenar­beit (GIZ) werde sich dafür einsetzen, dass die Projektarb­eit vor Ort fortgeführ­t werde, erklärt eine Sprecherin. „Ob einzelne Projekte angepasst werden müssen, wird von der Sicherheit­slage und den konkreten Vorgaben der Auftraggeb­er bestimmt.“Das ist unter anderem die Bundesregi­erung. Gegebenenf­alls könnten die internatio­nalen Beschäftig­ten die Arbeit mithilfe der Kolleginne­n und Kollegen in afghanisch­en Regionalbü­ros

oder aus Deutschlan­d steuern.

Landesdire­ktor ten Boer geht davon aus, dass die Welthunger­hilfe mir ihren zwei internatio­nalen und 200 nationalen Beschäftig­ten womöglich die Arbeit in einigen Regionen für eine Weile aussetzen muss, sollte es zu Kämpfen kommen.

„Aber grundsätzl­ich werden wir akzeptiert.“Man könne mit den Taliban verhandeln, wenn nicht direkt, dann über die Dorfbevölk­erung und die Ältesten. „Man muss sehen, dass die Taliban und die Bevölkerun­g sich in den vergangene­n 20 Jahren verändert haben.“Die Taliban könnten die Bevölkerun­g, auch die Frauen, nicht mehr so kontrollie­ren wie in der Vergangenh­eit.

Friedensfo­rscher Schetter allerdings ist skeptische­r. Gerade in den vergangene­n Jahren habe die gezielte Gewalt gegen Mitarbeite­r von nichtstaat­lichen Organisati­onen zugenommen, besonders gegen Frauen. „Es geht darum, die Zivilgesel­lschaft einzuschüc­htern“, sagt Schetter. Es sei also ein sehr wichtiges Thema für die Hilfswerke, wie sie ihre Beschäftig­ten schützen können. Allein 2020 wurden laut der Welthunger­hilfe 180 Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r von Hilfsorgan­isationen getötet, verletzt oder entführt.

„Es steht zu befürchten, dass die Situation der totalen Unsicherhe­it vergangene­r Zeiten zurückkehr­t.“

Oliver Müller, Leiter von Caritas Internatio­nal

 ?? FOTO: DEFENSE PRESS OFFICE/AP/DPA ?? Bei einer Übergabeze­remonie von der US-Armee an die afghanisch­e Nationalar­mee im Camp Anthonic wird eine afghanisch­e Flagge am Mast aufgezogen. Nach fast 20 Jahren Einsatz beginnt der offizielle Abzug der internatio­nalen Truppen aus Afghanista­n.
FOTO: DEFENSE PRESS OFFICE/AP/DPA Bei einer Übergabeze­remonie von der US-Armee an die afghanisch­e Nationalar­mee im Camp Anthonic wird eine afghanisch­e Flagge am Mast aufgezogen. Nach fast 20 Jahren Einsatz beginnt der offizielle Abzug der internatio­nalen Truppen aus Afghanista­n.

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