Eskalation der Gewalt in Israel und Gaza
Militante Palästinenser feuern 480 Raketen ab – Auf beiden Seiten sterben Zivilisten
(dpa) - Bei den heftigsten Attacken seit Jahren sind in Israel und dem Gazastreifen Dutzende Menschen ums Leben gekommen. Am Dienstag hatten militante Palästinenser innerhalb eines Tages rund 480 Raketen aus dem Gazastreifen in Richtung Israel abgefeuert. Davon wurden rund 200 abgefangen und 150 schlugen beim Start fehl, wie das israelische Militär am Dienstagabend mitteilte. Israel reagierte mit Dutzenden Luftangriffen auf Ziele in dem Küstengebiet.
Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern hatte sich seit
Beginn des muslimischen Fastenmonats Ramadan im April zugespitzt. Die Bundesregierung verurteilte die Raketenangriffe auf Israel. „Es handelt sich um eine durch nichts zu rechtfertigende Eskalation in einer angespannten Lage“, sagte ein Regierungssprecher.
In Israel gab es nach Angaben der dortigen Polizei zwei Tote, das Gesundheitsministerium in Gaza zählte bis zum Abend 28 Menschen, darunter zehn Kinder. Nach Berichten örtlicher Medien und von Augenzeugen wurden drei Kinder durch israelische Luftangriffe getötet, die übrigen sechs durch die fehlgeleiteten Raketen der palästinensischen Extremisten.
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu kündigte am Dienstagabend eine weitere Verschärfung der Angriffe an. Die militante Palästinenserorganisation Hamas, die den Gazastreifen beherrscht, werde „Schläge bekommen, die sie bislang nicht erwartet“.
In den vergangenen Tagen hatte es zunächst in Jerusalem heftige Zusammenstöße zwischen Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften gegeben. Auslöser waren unter anderem Polizei-Absperrungen in der Altstadt sowie drohende Zwangsräumungen von palästinensischen Familien.
Seit der gewaltsamen Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen 2007 haben sich Israel und die radikale Palästinenserorganisation drei Kriege geliefert. Israel und Ägypten halten das Gebiet unter Blockade und begründen dies mit Sicherheitserwägungen. Etwa zwei Millionen Menschen leben dort – nach Angaben von Hilfsorganisationen unter miserablen humanitären Bedingungen.
(dpa) – Der neue Ausbruch der Gewalt zwischen Israel und den Palästinensern ist der heftigste seit Jahren. Dutzende Raketen werden aus dem Gazastreifen auf israelische Städte abgeschossen, Zivilisten fliehen panisch in Schutzräume. Israels Luftwaffe bombardiert Ziele in dem Palästinensergebiet am Mittelmeer, Menschen werden getötet. Auf dem Tempelberg in Jerusalem gibt es schwere Zusammenstöße muslimischer Gläubiger mit der israelischen Polizei. In zahlreichen arabischen Ortschaften in Israel kommt es zu Ausschreitungen wie seit Langem nicht mehr.
Die Gewalt hat sich scheinbar plötzlich entladen – die Spannungen zwischen beiden Seiten brodeln allerdings schon seit einem Monat. Was sind die Auslöser dieser neuen gefährlichen Eskalation?
Als Ausgangspunkt gilt der Beginn des muslimischen Fastenmonats Ramadan am 12. April. Palästinenser in Jerusalem reagierten zornig drauf, dass die israelische Polizei Sperrzäune am Damaskustor aufstellte. Dies hinderte sie daran, sich auf Treppenstufen des Vorplatzes zu setzen, der im Ramadan als beliebtester Treffpunkt gilt. Viele junge Palästinenser im arabisch geprägten Ostteil der Stadt sehen darin eine Demütigung.
Die Palästinenser werfen der Polizei auch vor, auf dem Tempelberg (Al-Haram al-Scharif ) gewaltsam gegen Muslime vorzugehen. Die Anlage mit dem Felsendom und der AlAksa-Moschee ist die drittheiligste Stätte im Islam. Sie ist aber auch Juden heilig, weil dort früher zwei jüdische Tempel standen. Nach israelischer Darstellung haben Palästinenser die Krawalle lange vorbereitet und in der Moschee auch Steine gehortet. Für Zunder sorgt auch die drohende Zwangsräumung palästinensischer Familien im Viertel Scheich Dscharrah.
Unter arabischen Einwohnern bestehe große Sorge, „dass Israel sie enteignen und dazu zwingen will, die Stadt zu verlassen“, sagt der palästinensische Politikwissenschaftler Dschihad Harb. „Es herrscht ein Gefühl der großen Verzweiflung – nicht nur in Jerusalem, sondern in den gesamten besetzten Gebieten. Es gibt keine Perspektive, keine Friedensverhandlungen, keine politische Lösung.“Der Traum eines unabhängigen Palästinenserstaates sei immer weiter in die Ferne gerückt, während Israel seine Siedlungen ausbaue.
Angeheizt wurden die Spannungen von Videos, die Angriffe junger Araber auf strengreligiöse Juden in Jerusalem zeigten. Dies rief wiederum ultrarechte jüdische Gruppen auf den Plan. Im Westjordanland mehrten sich wieder Anschläge und tödliche Vorfälle. Weiterer Grund für den Frust unter jungen Palästinern: die Absage der für den 22. Mai geplanten Parlamentswahl. Es wären die ersten seit 15 Jahren gewesen.
Palästinenserpräsident Mahmud Abbas nannte als Grund, dass Israel Wahlen in Ost-Jerusalem nicht zulasse. Manche sehen darin jedoch eine Ausrede, mit der der 85-Jährige eine Niederlage seiner zersplitterten Fatah-Bewegung verhindern will. Die islamistische Hamas im Gazastreifen, die sich Erfolgschancen ausgerechnet hatte, machte allerdings Israel verantwortlich.
„Die Leute dachten, sie könnten das gegenwärtige Regime auswechseln und die Kontrolle durch einige Wenige beenden – aber dies wird nun nicht passieren“, sagt Harb. „All diese Faktoren gemeinsam haben zu der Explosion geführt.“Der israelische Experte Kobi Michael meint, für Abbas sei die neue Gewalt eine „goldene Gelegenheit“, um von eigenem Versagen in der Frage der Wahlen und öffentlicher Kritik abzulenken.
Die Hamas nutze die Lage hingegen, um sich als „Retter Jerusalems“aufzuspielen.
Für Israel fällt die neue Gewalt in eine Zeit starker interner Instabilität. Netanjahu ist gerade zum dritten Mal binnen zwei Jahren beim Versuch gescheitert, eine Regierung zu bilden. Der 71-Jährige, gegen den ein Korruptionsprozess läuft, kämpft ums politische Überleben. Harb meint, Netanjahu versuche mit einem harten Vorgehen, seine Position vor allem im rechten Lager zu stärken. Seinen politischen Gegnern, die nun eine andere Koalition schmieden wollen, könnte die Eskalation einen Strich durch die Rechnung machen. Die Verhandlungen mit einer kleinen arabischen Partei, deren Unterstützung sie brauchen, liegen jetzt auf Eis.
Nun wird schon das Schreckgespenst eines dritten Palästinenseraufstands Intifada an die Wand gemalt. Mehrere deeskalierende Maßnahmen der israelischen Regierung zeigten bislang kaum Wirkung. Die Vorfälle in Jerusalem hätten „die Palästinenser
im Westjordanland, im Gazastreifen und innerhalb Israels zusammengeschweißt“, sagt Harb.
Wie kann man die Lage wieder beruhigen? Nach Medienberichten bemühen sich ägyptische Unterhändler hinter den Kulissen um eine neue Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas. In den vergangenen Jahren war das mehrmals gelungen. Man hofft auf eine Beruhigung zum großen Fest Eid al-Fitr zum Abschluss des muslimischen Fastenmonats am Mittwoch oder Donnerstag. Am Sonntag beginnt in Israel außerdem der jüdische Feiertag Schavuot.
Michael sieht jedoch auch die Gefahr, dass sich die Lage hochschaukelt. „Ich denke, es gibt eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass wir uns in einer sehr breiten Operation wiederfinden.“Diese könnte dem zweimonatigen Gaza-Krieg 2014 ähneln. Dafür, dass Israel sich auf einen längeren Einsatz im Gazastreifen vorbereitet, spricht die Tatsache, dass die Militäroperation schon einen eigenen Namen hat: „Wächter der Mauern“.