Es war einmal ein revolutionärer Geist
Jahrhundertkünstler oder Scharlatan? Zum 100. Geburtstag von Joseph Beuys
Filz, Fett, starke Sprüche und immer in Aktion – kein anderer deutscher Künstler hat die Nachkriegszeit mehr geprägt als der Mann mit dem Filzhut und der Anglerweste. Joseph Beuys war eine kontroverse Figur und hat viele Forderungen nach Veränderungen an die Gesellschaft gestellt: vom Leben im Einklang mit der Natur über ein faires Wirtschafts- und Bildungssystem bis zur Einführung der direkten Demokratie. Am 12. Mai vor 100 Jahren wurde er in Krefeld geboren.
In seiner Jugend wollte Joseph Beuys Kinderarzt werden, seine Eltern hingegen, zu Hause im niederrheinischen Kleve, planten für ihn eine Zukunft in der örtlichen Margarinefabrik. Und tatsächlich, er würde im Fettgeschäft Karriere machen, allerdings anders als gedacht. Auch ein Arzt sollte er später sein – als Wunddoktor einer geschundenen Gegenwart, der seelische Verletzungen heilt.
Spätestens in den 1970er-Jahren war Beuys zum Inbegriff des modernen Künstlers geworden, von den einen bedingungslos verehrt, von den anderen kategorisch gehasst. Viele verspotteten seine Kunst als „den teuersten Sperrmüll aller Zeiten“. Und groß war das Gelächter, als zwei Frauen eine mit Fett, Filz und Pflastern ausgegestattete Beuys-Badewanne ordentlich sauber schrubbten. Von Kunst konnte hier ja eh keine Rede sein.
Doch gerade das Unverständliche, das Spielerische, das Provokante gefiel seinen Anhängern. Vor allem aber war es die Aura des Künstlers, die viele Menschen in ihren Bann schlug. Beuys war eloquent und quirlig, ein Märchenerzähler, ein Prophet, ein Schamane, der allen versicherte, dass sie zur Kunst berufen seien wie er. „Jeder Mensch ist ein Künstler“lautet sein wohl berühmtester Satz. Denn Beuys sah die Gesellschaft als „Soziale Plastik“, an der jeder Mensch als Künstler mitwirken kann. Schon denken galt für ihn als Kunst.
Bis heute wird er als Jahrhundertkünstler gefeiert. Schließlich gab sich Beuys nicht nur mit Installationen, Performances oder Skulpturen zufrieden, sondern er wollte eine andere, eine bessere Gesellschaft. Eine Welt ohne Kapitalismus und Kommunismus, ohne Zerstörung und Ausbeutung der Natur. Heutzutage wird er vor allem als Aktivist gefeiert, als revolutionärer Geist, dessen Ideen in Zeiten des Klimawandels „aktueller denn je“seien. Sein Sendungsbewusstsein kannte jedenfalls keine Grenzen. Auch nicht als Professor an der Kunstakademie Düsseldorf, die er für jede und jeden öffnen wollte, was schließlich 1972 mit seinem Rauswurf durch den damaligen
Kultusminister von NRW, Johannes Rau, spektakulär endete.
Tatsächlich aber ließ sich Beuys nicht festlegen. Er war weder links noch ein Radikaler. Obwohl er anfangs für die Grünen antrat, hielt er die parlamentarische Demokratie für falsch. Auch wetterte er gegen die Volksparteien. Und für die Umweltbewegung hatte er ebenfalls nicht allzu viel übrig. Seine Gedankenwelt war nicht grün, sondern vielmehr anthroposophisch und bisweilen auch esoterisch geprägt.
Der junge Joseph Beuys dagegen war ein glühender Anhänger der Nationalsozialisten. Er ging zur Wehrmacht und verpflichtete sich aus freien Stücken für zwölf Jahre. Nichts davon sollte er später verschweigen, auch nicht seine Auszeichnung als Soldat der Luftwaffe.
Und dennoch verklärte Beuys seine Lebensgeschichte auf besondere Weise: Er schuf eine Legende der Heilung. Oft hat er erzählt, wie sein Sturzkampfbomber 1944 über der Krim abgeschossen wurde. Wie seine Feinde ihn schwer verletzt aus dem zertrümmerten Flugzeug zogen, ihn aufnahmen und hingebungsvoll pflegten. So versorgten sie seine Wunden mit Fett, wickelten ihn in Filz und machten ihn wieder gesund. In Wahrheit war sein Flugzeug im Sturm abgestützt, wenige Kilometer vom Flugfeld entfernt. Nicht in einer Jurte bei den Krimtataren, sondern im Feldlazarett kurierte Beuys seine Verletzungen aus. Viel mehr als eine Platzwunde am Kopf war es niemals gewesen. Doch dieses rührende Märchen bereitete letztlich den Boden, in den die Wurzeln all seiner Werke ragen.
Er schmierte kiloweise Fett in die Ecken seiner Aktionsräume, bepackte Alltagsgegenstände wie Schlitten mit Fett, Filz und Stablampe, kreierte aus einer gelben Glühbirne mit Zitrone die „Capri-Batterie“, erklärte einem toten Hasen Bilder, schuf farblose Zeichnungen, weil er farbenblind war, ließ Honig mittels Pumpe durch Plastikschläuche fließen, diskutierte auf der documenta 5 hundert Tage lang mit dem Publikum über die Abschaffung der politischen Parteien oder ließ in Kassel zur documenta 7 exakt 7000 Eichen pflanzen. Ums städtische Klima ging es Beuys bei dieser berühmten Aktion nur am Rande. Für ihn waren die Bäume vor allem das Symbol für eine neue Gesellschaftsordnung. Eichen betrachtete er als „Wärmezeitmaschinen“, die den Menschen einen anderen geistigen Horizont erschließen. Über Basaltstelen neben jeder Eiche – so seine Idee – könnten kosmische Kräfte in die Erde gelangen bis hinunter zu den Wurzeln der Bäume, die wiederum diese Kräfte an die Stadt ausstrahlen würden.
Ja, bisweilen waren seine Ideen und Ausführungen doch ziemlich mystisch und fremdartig. Dennoch hat vermutlich kein Künstler des 20. Jahrhunderts so viele Denkanstöße auf so vielen unterschiedlichen Feldern geliefert wie Joseph Beuys. Keiner war eine derart überzeugende und charismatische Figur für Projektionen, Vorstellungen und Aufmunterungen zum freien Handeln.
Wer Joseph Beuys in Aktion sehen will, braucht nur im Internet zu schauen. Seiten wie YouTube sind voll mit Performances, Diskussionsrunden, Interviews, Lehrstunden. Wenn der Künstler heute noch leben würde, wäre er wohl ein SocialMedia-Star mit Millionen von Followern. Gut möglich, dass er einer der Ersten gewesen wäre, die sich die unglaubliche Reichweite dieses Mediums klug zunutze gemacht hätten.