Die große Angst vor Euro 7
Baden-Württembergs Ministerpräsident teilt die Sorge der Autokonzerne vor zu strengen Abgasnormen der EU
BERLIN - Eigentlich dürfte Hildegard Müller nicht viel zu meckern haben. Die Elektromobilität erlebt gerade einen nie dagewesenen Hochlauf, der Automarkt erholt sich nach der Corona-Pandemie langsam wieder, und die Bundesregierung stützt die Transformation der Branche mit Prämien für Elektroautos und dem Ausbau der Ladeinfrastruktur. Doch der Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie (VDA) war am Mittwoch in Berlin gar nicht zum Jubeln zumute. Die Chef-Lobbyistin der Autobranche sprach bei der Vorstellung der Halbjahresprognose von einem Weckruf, den sie loswerden wolle.
Diesen Weckruf richtete die VDAPräsidentin an die Politik – und da vor allem nach Brüssel. Kommende Woche stellt der EU-Kommissar Frans Timmermans den ersten Teil des „Fit-for-55“-Gesetzespakets vor. Mit den neuen Euro-7-Regeln könnten gewaltige Veränderungen auf die Autobranche zukommen. VDA-Chefin Hildegard Müller befürchtet, dass eine Verschärfung der Klimaschutzgesetze ein faktisches Verbot von Verbrennungsmotoren im Jahr 2035 bedeuten würde. Das bremse Innovationen und nähme Verbrauchern die Wahlfreiheit, sagte Müller. Deshalb forderte die Lobbyistin, dass es eine Balance zwischen ökologischem Anspruch und ökonomischen Interessen geben müsse. Andernfalls würden am Ende Tausende Arbeitsplätze in Deutschland verloren gehen und die Produktion ins Ausland verlagert werden. „Transformation braucht Zeit und Verlässlichkeit“, sagte sie.
Auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) blickt mit Sorgen auf die Ausführungen von Frans Timmermans nächste Woche. „Gegen Flottengrenzwerte an sich habe ich nichts, die ambitionierten Flottengrenzwerte werden ja auch von unseren Autokonzernen geteilt. Bei dem Thema Euro 7 stellt sich eine ganz andere Frage: Wie sinnvoll sind diese neuen Grenzwerte“, sagte Kretschmann am Dienstagabend beim baden-württembergischen Wirtschaftspresseclub. Die Schadstoffemissionen seien durch die Erneuerung des Fahrzeugsparks extrem gesunken, außerdem gäbe es in der Elektromobilität eine neue Technologie, die keine Schadstoffe emittiert. „Es ist fraglich, ob es sinnvoll ist, die alten Grenzwerte mit großen Ambitionen zu verschärfen“, sagte Baden-Württembergs Regierungschef weiter. „Es macht einfach keinen Sinn, Milliarden in die Verbesserung der alten Verbrenner zu stecken, Milliarden, die die Deckungsbeiträge enorm mindern.“
Deutschlands Autobranche steckt mitten in der historisch größten Transformation. Die Tage des Verbrennungsmotors sind gezählt, die Umstellung auf alternative Antriebe längst eingeleitet. Die Verbraucher ziehen mittlerweile mit. Alternative Antriebe boomen. Im Juni wurden 33 000 E-Autos zugelassen. Das ist ein Anstieg von über 311 Prozent. Hybridfahrzeuge sind noch beliebter: Über 76 000 wurden im vergangenen Monat zugelassen, ein Anstieg von 153 Prozent. Bis 2022 soll die Marke von einer Million Pkw mit Elektro-Antrieb geknackt werden – das kündigte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) jüngst an. Das sind Erfolge, die die Branche aufatmen lassen. Doch Hildegard Müller zufolge kann die Transformation nur gelingen, wenn auch die Rahmenbedingungen stimmen. Und die stimmen nach Ansicht der Autolobbyistin nicht.
Eine große Baustelle ist die derzeitige Rohstoffknappheit. Es mangelt an Halbleitern. Steuerchips sind seit Ende 2020 Mangelware im Autobau, weil die Chip-Hersteller durch die veränderte Nachfrage in der Pandemie vor allem die Produzenten von Smartphones, Computern und Spielekonsolen beliefern. Bei einigen Autobauern stehen deshalb die Bänder seit Wochen still. Laut Müller würden in 2021 deshalb 400 000 Autos weniger produziert, als möglich wäre. „Die Unternehmen müssen neue Kapazitäten aufbauen“, sagte Müller. Damit das klappt, helfen mittel- und langfristig „nur neue Werke, die in Europa entstehen müssen“.
Doch damit nicht genug. Kopfschmerzen bereiten der VDA-Präsidentin vor allem der langsame Ausbau des flächendeckenden Ladenetzes in ganz Europa. Wer wenig Möglichkeiten hat, sein Auto zu laden, verzichtet im Zweifel lieber auf den Kauf eines elektrischen Autos. Derzeit sind 68 Prozent der Ladepunkte in der EU in nur drei Staaten verfügbar: Deutschland, Frankreich und den Niederlanden. Ein flächendeckendes Ladenetz ist in weiter Ferne, sagte Müller. Wenn die EU-Kommission überlege, Neuwagen nur noch mit E-Antrieb zuzulassen, müsse sie auch für ein Ladenetz in Europa sorgen. „Deshalb braucht es von der Kommission einen verbindlichen Plan für einen raschen Ausbau der Lade- und Tankinfrastruktur“, forderte Müller.
Zur Transformation der Branche gehöre zwar ein Umbruch bei den Antrieben, an einer Sache wolle VDA-Chefin Müller aber nicht rütteln: dem Tempolimit auf deutschen Autobahnen. Mittlerweile sprechen sich SPD, Grüne und Linke für eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 130 Kilometern pro Stunde aus, Union, FDP und AfD sind dagegen. Auch VW-Chef Herbert Diess könnte sich die Einführung des Tempolimits vorstellen, hatte er jüngst dem „Handelsblatt“gesagt. Mit dem Elektroauto gäbe es ohnehin eine Geschwindigkeitsbegrenzung. Denn je schneller man fahre, umso geringer die Reichweite. „Bei 160 ist der Reichweitenverlust schon beachtlich, Tempo 200 fährt man nur für kurze Zeit", sagte Diess. Müller sprach sich gegen Limitierungen aus. „Straffe Tempolimits sind Regelungen aus der Vergangenheit“, sagte sie. In einem Land mit so vielen Herstellern von Premiummarken könne man den Freiheitseingriff nicht rechtfertigen. Statt Geschwindigkeitsbegrenzungen solle man lieber auf intelligente Verkehrssteuerung setzen. Das hätte Zukunft.