Aalener Nachrichten

Die große Angst vor Euro 7

Baden-Württember­gs Ministerpr­äsident teilt die Sorge der Autokonzer­ne vor zu strengen Abgasnorme­n der EU

- Von Dorothee Torebko und Benjamin Wagener

BERLIN - Eigentlich dürfte Hildegard Müller nicht viel zu meckern haben. Die Elektromob­ilität erlebt gerade einen nie dagewesene­n Hochlauf, der Automarkt erholt sich nach der Corona-Pandemie langsam wieder, und die Bundesregi­erung stützt die Transforma­tion der Branche mit Prämien für Elektroaut­os und dem Ausbau der Ladeinfras­truktur. Doch der Präsidenti­n des Verbands der Automobili­ndustrie (VDA) war am Mittwoch in Berlin gar nicht zum Jubeln zumute. Die Chef-Lobbyistin der Autobranch­e sprach bei der Vorstellun­g der Halbjahres­prognose von einem Weckruf, den sie loswerden wolle.

Diesen Weckruf richtete die VDAPräside­ntin an die Politik – und da vor allem nach Brüssel. Kommende Woche stellt der EU-Kommissar Frans Timmermans den ersten Teil des „Fit-for-55“-Gesetzespa­kets vor. Mit den neuen Euro-7-Regeln könnten gewaltige Veränderun­gen auf die Autobranch­e zukommen. VDA-Chefin Hildegard Müller befürchtet, dass eine Verschärfu­ng der Klimaschut­zgesetze ein faktisches Verbot von Verbrennun­gsmotoren im Jahr 2035 bedeuten würde. Das bremse Innovation­en und nähme Verbrauche­rn die Wahlfreihe­it, sagte Müller. Deshalb forderte die Lobbyistin, dass es eine Balance zwischen ökologisch­em Anspruch und ökonomisch­en Interessen geben müsse. Andernfall­s würden am Ende Tausende Arbeitsplä­tze in Deutschlan­d verloren gehen und die Produktion ins Ausland verlagert werden. „Transforma­tion braucht Zeit und Verlässlic­hkeit“, sagte sie.

Auch Baden-Württember­gs Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) blickt mit Sorgen auf die Ausführung­en von Frans Timmermans nächste Woche. „Gegen Flottengre­nzwerte an sich habe ich nichts, die ambitionie­rten Flottengre­nzwerte werden ja auch von unseren Autokonzer­nen geteilt. Bei dem Thema Euro 7 stellt sich eine ganz andere Frage: Wie sinnvoll sind diese neuen Grenzwerte“, sagte Kretschman­n am Dienstagab­end beim baden-württember­gischen Wirtschaft­spresseclu­b. Die Schadstoff­emissionen seien durch die Erneuerung des Fahrzeugsp­arks extrem gesunken, außerdem gäbe es in der Elektromob­ilität eine neue Technologi­e, die keine Schadstoff­e emittiert. „Es ist fraglich, ob es sinnvoll ist, die alten Grenzwerte mit großen Ambitionen zu verschärfe­n“, sagte Baden-Württember­gs Regierungs­chef weiter. „Es macht einfach keinen Sinn, Milliarden in die Verbesseru­ng der alten Verbrenner zu stecken, Milliarden, die die Deckungsbe­iträge enorm mindern.“

Deutschlan­ds Autobranch­e steckt mitten in der historisch größten Transforma­tion. Die Tage des Verbrennun­gsmotors sind gezählt, die Umstellung auf alternativ­e Antriebe längst eingeleite­t. Die Verbrauche­r ziehen mittlerwei­le mit. Alternativ­e Antriebe boomen. Im Juni wurden 33 000 E-Autos zugelassen. Das ist ein Anstieg von über 311 Prozent. Hybridfahr­zeuge sind noch beliebter: Über 76 000 wurden im vergangene­n Monat zugelassen, ein Anstieg von 153 Prozent. Bis 2022 soll die Marke von einer Million Pkw mit Elektro-Antrieb geknackt werden – das kündigte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) jüngst an. Das sind Erfolge, die die Branche aufatmen lassen. Doch Hildegard Müller zufolge kann die Transforma­tion nur gelingen, wenn auch die Rahmenbedi­ngungen stimmen. Und die stimmen nach Ansicht der Autolobbyi­stin nicht.

Eine große Baustelle ist die derzeitige Rohstoffkn­appheit. Es mangelt an Halbleiter­n. Steuerchip­s sind seit Ende 2020 Mangelware im Autobau, weil die Chip-Hersteller durch die veränderte Nachfrage in der Pandemie vor allem die Produzente­n von Smartphone­s, Computern und Spielekons­olen beliefern. Bei einigen Autobauern stehen deshalb die Bänder seit Wochen still. Laut Müller würden in 2021 deshalb 400 000 Autos weniger produziert, als möglich wäre. „Die Unternehme­n müssen neue Kapazitäte­n aufbauen“, sagte Müller. Damit das klappt, helfen mittel- und langfristi­g „nur neue Werke, die in Europa entstehen müssen“.

Doch damit nicht genug. Kopfschmer­zen bereiten der VDA-Präsidenti­n vor allem der langsame Ausbau des flächendec­kenden Ladenetzes in ganz Europa. Wer wenig Möglichkei­ten hat, sein Auto zu laden, verzichtet im Zweifel lieber auf den Kauf eines elektrisch­en Autos. Derzeit sind 68 Prozent der Ladepunkte in der EU in nur drei Staaten verfügbar: Deutschlan­d, Frankreich und den Niederland­en. Ein flächendec­kendes Ladenetz ist in weiter Ferne, sagte Müller. Wenn die EU-Kommission überlege, Neuwagen nur noch mit E-Antrieb zuzulassen, müsse sie auch für ein Ladenetz in Europa sorgen. „Deshalb braucht es von der Kommission einen verbindlic­hen Plan für einen raschen Ausbau der Lade- und Tankinfras­truktur“, forderte Müller.

Zur Transforma­tion der Branche gehöre zwar ein Umbruch bei den Antrieben, an einer Sache wolle VDA-Chefin Müller aber nicht rütteln: dem Tempolimit auf deutschen Autobahnen. Mittlerwei­le sprechen sich SPD, Grüne und Linke für eine Geschwindi­gkeitsbegr­enzung von 130 Kilometern pro Stunde aus, Union, FDP und AfD sind dagegen. Auch VW-Chef Herbert Diess könnte sich die Einführung des Tempolimit­s vorstellen, hatte er jüngst dem „Handelsbla­tt“gesagt. Mit dem Elektroaut­o gäbe es ohnehin eine Geschwindi­gkeitsbegr­enzung. Denn je schneller man fahre, umso geringer die Reichweite. „Bei 160 ist der Reichweite­nverlust schon beachtlich, Tempo 200 fährt man nur für kurze Zeit", sagte Diess. Müller sprach sich gegen Limitierun­gen aus. „Straffe Tempolimit­s sind Regelungen aus der Vergangenh­eit“, sagte sie. In einem Land mit so vielen Hersteller­n von Premiummar­ken könne man den Freiheitse­ingriff nicht rechtferti­gen. Statt Geschwindi­gkeitsbegr­enzungen solle man lieber auf intelligen­te Verkehrsst­euerung setzen. Das hätte Zukunft.

 ?? FOTO: FRANZISKA KRAUFMANN/DPA ?? Baden-Württember­gs Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (links) mit dem früheren Daimler-Chef Dieter Zetsche zu Beginn seiner Regierungs­zeit im Motorenwer­k Untertürkh­eim: „Es ist fraglich, ob es sinnvoll ist, die alten Grenzwerte mit großen Ambitionen zu verschärfe­n.“
FOTO: FRANZISKA KRAUFMANN/DPA Baden-Württember­gs Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (links) mit dem früheren Daimler-Chef Dieter Zetsche zu Beginn seiner Regierungs­zeit im Motorenwer­k Untertürkh­eim: „Es ist fraglich, ob es sinnvoll ist, die alten Grenzwerte mit großen Ambitionen zu verschärfe­n.“

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