Suche nach kreativen Impfangeboten läuft
Tempo der Kampagne sinkt – Politiker denken an Verlosungen und Impfen to go
(dpa) - Die besonders ansteckende Delta-Variante des Coronavirus breitet sich auch in Deutschland immer weiter aus, und zugleich sinkt das Impftempo deutlich: Auch wenn die Lage insgesamt noch entspannt ist, sind Experten und Fachpolitiker deshalb besorgt. Immer mehr fordern nun „kreativere Impfangebote“, wie die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, Sabine Dittmar, sich in der „Welt“ausdrückte. Bürger müssten sich auch in Fußgängerzonen, Wohnsiedlungen und bei Veranstaltungen impfen lassen können.
Ähnlich sieht es die Ärztegewerkschaft Marburger Bund: „Da ist etwas mehr Kreativität bei den lokalen Behörden gefragt“, sagte die Vorsitzende Susanne Johna der „Rheinischen Post“. Sie forderte niederschwellige Angebote für Bürgerinnen und Bürger. Auch Südwest-Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) schlug in diese Kerbe. „Hierzu gehören Impfaktionen vor dem Supermarkt, auf dem Marktplatz oder an anderen zentralen und gut zugänglichen Orten“, sagte er der „Stuttgarter Zeitung“. Auch offene Impfnachmittage im Impfzentrum oder Drive-in-Aktionen seien eine gute Möglichkeit. „Wir sind dankbar für jede Initiative, die Impfungen einfach und unkompliziert zu den Menschen bringt“, betonte er. „.Wir setzen sozusagen auf Impfen to go.“
Noch weiter ging Saar-Ministerpräsident Tobias Hans (CDU). „Man könnte an eine Verlosung denken, bei der unter den Impfbereiten beispielsweise ein Fahrrad, ein Fremdsprachenkurs oder ein anderer schöner Preis ausgegeben wird“, sagte er der Funke Mediengruppe. In sozialen Brennpunkten seien zudem mobile Impfteams nötig.
In den vergangenen zwei Wochen ist die Zahl der Impfungen pro Tag in Deutschland zurückgegangen. Am Dienstag wurden nach Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) 699 500 Impfdosen verabreicht, am Dienstag der Vorwoche waren es 917 000, an den Dienstagen der drei Wochen davor jeweils mehr als eine Million Dosen gewesen. Die Sorge ist vor allem deshalb groß, weil die zuerst in Indien aufgetretene Delta-Variante sich rasant ausbreitet. Sie dominiere hierzulande erstmals mit einem Anteil von 59 Prozent, teilte das RKI am Mittwoch mit.
- Erstmals sind in Deutschland mehr als 40 Prozent der Bevölkerung vollständig gegen Corona geimpft. Die Quote stieg am Donnerstag auf 40,8 Prozent, berichtete das Robert-Koch-Institut (RKi). 47,8 Millionen Menschen oder 57,6 Prozent der Bevölkerung haben mindestens eine Impfung bekommen. 33,9 Millionen sind vollständig geimpft.
Wie ist die aktuelle Lage?
Die Zahl der Neuansteckungen nimmt seit Tagen wieder leicht zu. Das RKI meldete am Donnerstag 970 Positivtests, 78 mehr als eine Woche zuvor. Die Sieben-Tage-Inzidenz stieg auf 5,2 gegenüber 5,1 am Mittwoch. Innerhalb von 24 Stunden wurden 31 neue Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19 gemeldet. Wenig erfreulich ist, dass der RWert wieder über 1 liegt. Am Mittwoch betrug er 1,01. Das heißt, dass ein Infizierter mehr als einen weiteren Menschen ansteckte.
Wie gefährlich ist die Delta-Variante?
Sie dominiert inzwischen mit 59 Prozent, so die Auswertung für die Woche vom 21. bis 27. Juni. Innerhalb einer Woche hat sich ihr Anteil fast verdoppelt. Daher rät die Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Immunologie, Christine Falk, dringend weiter zum Maskentragen und anderen Corona-Regeln bis hin zum Testen: „Wenn wir nichts tun, geht uns das Ding durch die Decke“, sagte sie. Mit der Zunahme der Delta-Variante befürchten viele Fachleute eine Trendumkehr trotz steigender Impfquoten, wie dies im Mai in Großbritannien beobachtet wurde.
Sind die offiziellen Zahlen des RKI zu niedrig?
Ja. Eine Langzeitstudie der Universität Mainz ergab, dass mehr als 40 Prozent aller mit Covid-19 Infizierten gar nicht von ihrer Infektion wissen. Die Forscher nehmen regelmäßig über 10 000 Bewohner von Mainz und Umgebung zwischen 25 und 88 Jahren unter die Lupe. Damit ist die Studie besonders breit angelegt. Sie werden nicht nur interviewt, sondern auch regelmäßig ihr Blut, Stuhl und Tränenflüssigkeit untersucht. Ergebnis: Männer waren häufiger unwissend infiziert als Frauen, ebenso ältere Studienteilnehmer. Bei den 75- bis 88-Jährigen waren es 63 Prozent. Zudem spielen die Wohnverhältnisse eine wichtige Rolle: Wer in prekären Verhältnissen lebt, hat ein erheblich höheres Risiko.
Was schließen die Forscher aus der hohen Dunkelziffer?
Systematische Tests sind weiter wichtig, um die Ausbreitung des Virus und damit eine mögliche neue Infektionswelle frühzeitig zu erkennen, und zwar auch bei vollständig Geimpften. Denn auch sie sind potenzielle Infektionsträger: Laut RKI sind bisher rund 3800 Menschen erkrankt, obwohl sie vollständig geimpft waren. Aber sie lassen sich immer seltener testen: Aktuell liegt die Testrate bei Geimpften nur bei 15 Prozent, halb so hoch wie Ende April, so die Mainzer Studie. Sie zeigt zudem, dass das Einhalten des Mindestabstands eine effektive Präventionsmaßnahme ist: Bei Studienteilnehmern, die konsequent auf ihn achten, ist das Infektionsrisiko nur halb so hoch wie bei den Unvorsichtigen. Das konsequente Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes verringert das Risiko um 34 Prozent.
Wie steht es um die Impfbereitschaft?
Sie hat in den vergangenen Wochen deutlich abgenommen. Laut der Studie der Uni Mainz liegt der Anteil der Impfunwilligen derzeit bei knapp zehn Prozent. Im Frühjahr waren es nur halb so viele. Unentschlossen sind rund 15 Prozent. Wahrscheinlicher Grund ist, dass die Infiziertenzahlen seither stark gefallen sind und deshalb von manchen die Notwendigkeit einer Impfung nicht mehr gesehen wird. Wegen der Ausbreitung der Delta-Variante ist nach Berechnungen des RKI eine Impfquote von mindestens 85 Prozent nötig, um das Virus aus der Welt zu schaffen. Um das zu erreichen, müssten also noch viele Unentschlossene überzeugt werden.
Wie kann der Staat nachhelfen?
Die Bundesregierung setzt vorerst auf mehr Werbung. Sie wolle die laufende Impfkampagne „lauter stellen“, heißt es aus dem Gesundheitsministerium. FDP-Generalsekretär Volker Wissing empfiehlt verstärkt Anreize für Geimpfte, „zum Beispiel mit Freikarten für Museen oder Schwimmbäder“. Andere gehen weiter und fordern Impfprämien. Die Ökonomin Nora Szech vom Karlsruhe Institute of Technology schlägt bis zu 500 Euro vor. In Griechenland werden Impfprämien bald eingeführt: Vom 15. Juli an erhalten unter 26-Jährige, die sich impfen lassen, einen Gutschein über 150 Euro. Mit ihm können sie zum Beispiel Bahnfahrten bezahlen.
Ist der Impfstoff von Astrazeneca ein Ladenhüter?
Es sieht so aus. Von den bis einschließlich Sonntag ausgelieferten Vakzinen waren laut RKI bis Dienstag 78 Prozent verimpft, bei Biontech und Moderna dagegen über 90 Prozent. Praxisärzte befürchten daher, dass Millionen von Astrazeneca-Dosen in den nächsten Tagen weggeworfen werden müssen, weil das Haltbarkeitsdatum abläuft. Das Gesundheitsministerium kann dies nicht bestätigen. Allerdings soll in den nächsten Wochen nur noch wenig Nachschub kommen. Im zweiten Halbjahr will Deutschland 30 Millionen Dosen Astrazeneca und Johnson & Johnson an Entwicklungsländer abgeben.