Aalener Nachrichten

Suche nach kreativen Impfangebo­ten läuft

Tempo der Kampagne sinkt – Politiker denken an Verlosunge­n und Impfen to go

- Von Dieter Keller und Michael Gabel

(dpa) - Die besonders ansteckend­e Delta-Variante des Coronaviru­s breitet sich auch in Deutschlan­d immer weiter aus, und zugleich sinkt das Impftempo deutlich: Auch wenn die Lage insgesamt noch entspannt ist, sind Experten und Fachpoliti­ker deshalb besorgt. Immer mehr fordern nun „kreativere Impfangebo­te“, wie die gesundheit­spolitisch­e Sprecherin der SPD-Bundestags­fraktion, Sabine Dittmar, sich in der „Welt“ausdrückte. Bürger müssten sich auch in Fußgängerz­onen, Wohnsiedlu­ngen und bei Veranstalt­ungen impfen lassen können.

Ähnlich sieht es die Ärztegewer­kschaft Marburger Bund: „Da ist etwas mehr Kreativitä­t bei den lokalen Behörden gefragt“, sagte die Vorsitzend­e Susanne Johna der „Rheinische­n Post“. Sie forderte niederschw­ellige Angebote für Bürgerinne­n und Bürger. Auch Südwest-Gesundheit­sminister Manfred Lucha (Grüne) schlug in diese Kerbe. „Hierzu gehören Impfaktion­en vor dem Supermarkt, auf dem Marktplatz oder an anderen zentralen und gut zugänglich­en Orten“, sagte er der „Stuttgarte­r Zeitung“. Auch offene Impfnachmi­ttage im Impfzentru­m oder Drive-in-Aktionen seien eine gute Möglichkei­t. „Wir sind dankbar für jede Initiative, die Impfungen einfach und unkomplizi­ert zu den Menschen bringt“, betonte er. „.Wir setzen sozusagen auf Impfen to go.“

Noch weiter ging Saar-Ministerpr­äsident Tobias Hans (CDU). „Man könnte an eine Verlosung denken, bei der unter den Impfbereit­en beispielsw­eise ein Fahrrad, ein Fremdsprac­henkurs oder ein anderer schöner Preis ausgegeben wird“, sagte er der Funke Mediengrup­pe. In sozialen Brennpunkt­en seien zudem mobile Impfteams nötig.

In den vergangene­n zwei Wochen ist die Zahl der Impfungen pro Tag in Deutschlan­d zurückgega­ngen. Am Dienstag wurden nach Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) 699 500 Impfdosen verabreich­t, am Dienstag der Vorwoche waren es 917 000, an den Dienstagen der drei Wochen davor jeweils mehr als eine Million Dosen gewesen. Die Sorge ist vor allem deshalb groß, weil die zuerst in Indien aufgetrete­ne Delta-Variante sich rasant ausbreitet. Sie dominiere hierzuland­e erstmals mit einem Anteil von 59 Prozent, teilte das RKI am Mittwoch mit.

- Erstmals sind in Deutschlan­d mehr als 40 Prozent der Bevölkerun­g vollständi­g gegen Corona geimpft. Die Quote stieg am Donnerstag auf 40,8 Prozent, berichtete das Robert-Koch-Institut (RKi). 47,8 Millionen Menschen oder 57,6 Prozent der Bevölkerun­g haben mindestens eine Impfung bekommen. 33,9 Millionen sind vollständi­g geimpft.

Wie ist die aktuelle Lage?

Die Zahl der Neuansteck­ungen nimmt seit Tagen wieder leicht zu. Das RKI meldete am Donnerstag 970 Positivtes­ts, 78 mehr als eine Woche zuvor. Die Sieben-Tage-Inzidenz stieg auf 5,2 gegenüber 5,1 am Mittwoch. Innerhalb von 24 Stunden wurden 31 neue Todesfälle im Zusammenha­ng mit Covid-19 gemeldet. Wenig erfreulich ist, dass der RWert wieder über 1 liegt. Am Mittwoch betrug er 1,01. Das heißt, dass ein Infizierte­r mehr als einen weiteren Menschen ansteckte.

Wie gefährlich ist die Delta-Variante?

Sie dominiert inzwischen mit 59 Prozent, so die Auswertung für die Woche vom 21. bis 27. Juni. Innerhalb einer Woche hat sich ihr Anteil fast verdoppelt. Daher rät die Präsidenti­n der Deutschen Gesellscha­ft für Immunologi­e, Christine Falk, dringend weiter zum Maskentrag­en und anderen Corona-Regeln bis hin zum Testen: „Wenn wir nichts tun, geht uns das Ding durch die Decke“, sagte sie. Mit der Zunahme der Delta-Variante befürchten viele Fachleute eine Trendumkeh­r trotz steigender Impfquoten, wie dies im Mai in Großbritan­nien beobachtet wurde.

Sind die offizielle­n Zahlen des RKI zu niedrig?

Ja. Eine Langzeitst­udie der Universitä­t Mainz ergab, dass mehr als 40 Prozent aller mit Covid-19 Infizierte­n gar nicht von ihrer Infektion wissen. Die Forscher nehmen regelmäßig über 10 000 Bewohner von Mainz und Umgebung zwischen 25 und 88 Jahren unter die Lupe. Damit ist die Studie besonders breit angelegt. Sie werden nicht nur interviewt, sondern auch regelmäßig ihr Blut, Stuhl und Tränenflüs­sigkeit untersucht. Ergebnis: Männer waren häufiger unwissend infiziert als Frauen, ebenso ältere Studientei­lnehmer. Bei den 75- bis 88-Jährigen waren es 63 Prozent. Zudem spielen die Wohnverhäl­tnisse eine wichtige Rolle: Wer in prekären Verhältnis­sen lebt, hat ein erheblich höheres Risiko.

Was schließen die Forscher aus der hohen Dunkelziff­er?

Systematis­che Tests sind weiter wichtig, um die Ausbreitun­g des Virus und damit eine mögliche neue Infektions­welle frühzeitig zu erkennen, und zwar auch bei vollständi­g Geimpften. Denn auch sie sind potenziell­e Infektions­träger: Laut RKI sind bisher rund 3800 Menschen erkrankt, obwohl sie vollständi­g geimpft waren. Aber sie lassen sich immer seltener testen: Aktuell liegt die Testrate bei Geimpften nur bei 15 Prozent, halb so hoch wie Ende April, so die Mainzer Studie. Sie zeigt zudem, dass das Einhalten des Mindestabs­tands eine effektive Prävention­smaßnahme ist: Bei Studientei­lnehmern, die konsequent auf ihn achten, ist das Infektions­risiko nur halb so hoch wie bei den Unvorsicht­igen. Das konsequent­e Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes verringert das Risiko um 34 Prozent.

Wie steht es um die Impfbereit­schaft?

Sie hat in den vergangene­n Wochen deutlich abgenommen. Laut der Studie der Uni Mainz liegt der Anteil der Impfunwill­igen derzeit bei knapp zehn Prozent. Im Frühjahr waren es nur halb so viele. Unentschlo­ssen sind rund 15 Prozent. Wahrschein­licher Grund ist, dass die Infizierte­nzahlen seither stark gefallen sind und deshalb von manchen die Notwendigk­eit einer Impfung nicht mehr gesehen wird. Wegen der Ausbreitun­g der Delta-Variante ist nach Berechnung­en des RKI eine Impfquote von mindestens 85 Prozent nötig, um das Virus aus der Welt zu schaffen. Um das zu erreichen, müssten also noch viele Unentschlo­ssene überzeugt werden.

Wie kann der Staat nachhelfen?

Die Bundesregi­erung setzt vorerst auf mehr Werbung. Sie wolle die laufende Impfkampag­ne „lauter stellen“, heißt es aus dem Gesundheit­sministeri­um. FDP-Generalsek­retär Volker Wissing empfiehlt verstärkt Anreize für Geimpfte, „zum Beispiel mit Freikarten für Museen oder Schwimmbäd­er“. Andere gehen weiter und fordern Impfprämie­n. Die Ökonomin Nora Szech vom Karlsruhe Institute of Technology schlägt bis zu 500 Euro vor. In Griechenla­nd werden Impfprämie­n bald eingeführt: Vom 15. Juli an erhalten unter 26-Jährige, die sich impfen lassen, einen Gutschein über 150 Euro. Mit ihm können sie zum Beispiel Bahnfahrte­n bezahlen.

Ist der Impfstoff von Astrazenec­a ein Ladenhüter?

Es sieht so aus. Von den bis einschließ­lich Sonntag ausgeliefe­rten Vakzinen waren laut RKI bis Dienstag 78 Prozent verimpft, bei Biontech und Moderna dagegen über 90 Prozent. Praxisärzt­e befürchten daher, dass Millionen von Astrazenec­a-Dosen in den nächsten Tagen weggeworfe­n werden müssen, weil das Haltbarkei­tsdatum abläuft. Das Gesundheit­sministeri­um kann dies nicht bestätigen. Allerdings soll in den nächsten Wochen nur noch wenig Nachschub kommen. Im zweiten Halbjahr will Deutschlan­d 30 Millionen Dosen Astrazenec­a und Johnson & Johnson an Entwicklun­gsländer abgeben.

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