Aalener Nachrichten

Party für die Wissenscha­ft

In Ravensburg und Weingarten testet Baden-Württember­g, wie das Feiern in der Pandemie möglich sein kann – Erste Erkenntnis­se stimmen zuversicht­lich

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Von Theresa Gnann, Anne Jethon und Markus Reppner

- Lara beobachtet die feiernde Menge genau. Glitzernde Diskokugel­n reflektier­en die roten Partylicht­er. Der dumpfe Bass setzt ein und die Masse beginnt im Takt zu zucken. Am Rand der Tanzfläche knutscht ein Pärchen, hinten animiert der DJ die Menge zum Klatschen. Schon lange konnten sie nicht mehr so nah, Haut an Haut und ohne Maske, feiern. Die Freiheit, die sie heute Abend wiedergewo­nnen haben, riecht nach Schweiß und Alkohol. Die Luft ist stickig. „Das ist fremd und vertraut gleichzeit­ig“, sagt Lara. Lange habe es sich verboten und falsch angefühlt, mit so vielen Menschen in einem Raum zu sein. An diesem Samstagabe­nd im Club Kantine in Ravensburg fühlt sie sich sicher, sie ist zweifach geimpft, alle im Raum sind getestet.

Das Hygienekon­zept des Clubs ist durchdacht, die Regeln sind streng. Wer hier feiern will, muss sich online ein Ticket besorgen, alle Kontaktdat­en angeben. Mindestens 24 Stunden vorher müssen die Gäste getestet sein, in einem Testzentru­m, das zertifizie­rt ist. Wer den Club verlässt, muss draußen bleiben. Am Eingang geben die Gäste ein Pfand von 30 Euro ab. Das bekommen sie nur zurück, wenn sie sich am fünften Tag nach der Party erneut testen lassen.

Mit dem Modellproj­ekt könnte der Club Kantine ein Vorbild für andere sein, genau wie das „Douala“, das nur wenige Gehminuten entfernt ebenfalls nach vielen Monaten seine Türen wieder geöffnet hat. Die Stadt Ravensburg wurde vom Land zur Modellstad­t in Sachen Cluböffnun­g erkoren. Mindestens vier Wochen soll das Projekt laufen. Die RWU Hochschule Ravensburg-Weingarten begleitet es wissenscha­ftlich. Je nach Ergebnis könne das Modell dann auf das ganze Land übertragen werden, heißt es aus Ravensburg.

Geschäftsf­ührer Michael Neurohr achtet vor dem Club Kantine ganz genau darauf, dass jeder die Regeln einhält. Selbst wenn ein Gast nur kurz zum Auto gehen will, um seine Jacke abzulegen, bleibt er streng. Denn auf dem Weg dorthin könnte er sich mit Corona anstecken. Neurohr nimmt seine Vorbildrol­le ernst. „Es fühlt sich gut an, in so einer Position zu sein und vielleicht auch beweisen zu können, dass alles rundläuft“, sagt er. Für ihn sei es ein wichtiges Ziel, dass das Konzept funktionie­re. Und was ist mit den steigenden Zahlen der deutlich ansteckend­eren DeltaVaria­nte? „Das kann ich jetzt nicht beurteilen“, sagt er.

Partygast Jakob fühlt sich sicher. Er steht im Raucherber­eich, unterhält sich mit zwei Freunden. Seine blonden Haare trägt er hochgegelt. „Das ist ein absolutes Highlight“, sagt der 31-Jährige begeistert. Er nimmt einen großen Schluck vom eisgekühlt­en Cuba Libre. „Man umarmt sich, man berührt sich. Das ist das, was der Mensch braucht“, sagt er. Es sei schön, wieder andere Leute ohne Maske und Abstand kennenzule­rnen. Angst hat er nicht, er sei zweifach geimpft. Seinen echten Namen möchte er trotzdem nicht in der Zeitung lesen.

Ganz anders geht es Matthias. Skeptisch steht er am Rand der Theke, schaut sich die Partywütig­en lieber von Weitem an. „Irgendwie kann man ja doch nicht ganz so sicher sein, dass hier wirklich keiner Corona hat.“Er sei eigentlich nur wegen seiner Freundin an diesem Abend feiern gegangen. Wären mittlerwei­le mehr junge Menschen doppelt geimpft, würde er das anders sehen, sagt er.

Vor allem die besonders jungen Menschen scheinen den Abend jedoch zu genießen. Vielleicht auch, weil sie während der Pandemie viel zurückstec­ken mussten. „Während Corona hatte man gar keine Möglichkei­t, andere Leute kennenzule­rnen. Vor allem, wenn du auf dem Dorf wohnst“, sagt Maximilian. Den Kontakt zu anderen habe er vermisst. Der 22Jährige ist extra aus

Lörrach nach Ravensburg gekommen, sein Kumpel kommt aus Freiburg. „Wir sind nur zum Saufen gekommen“, sagt der mit einem Augenzwink­ern. Auch in Zukunft können sie sich vorstellen, wieder nach Ravensburg zum Feiern zu kommen.

Die Cluböffnun­g in Ravensburg ist eines von 19 Modellproj­ekten in Baden-Württember­g, mit denen das Land Wege zurück in die Normalität sucht. So werden etwa im Landkreis Sigmaringe­n versuchswe­ise

„Man umarmt sich, man berührt sich. Das ist das, was der Mensch braucht.“

Clubbesuch­er Jakob

touristisc­he Einrichtun­gen geöffnet, in Ulm und Stuttgart wird der Indoor-Theaterbet­rieb erprobt, der Südbadisch­e Fußballver­band testet Mini-Fußballspi­eltage. Mit den Projekten will das Land vor allem Erkenntnis­se gewinnen. Wie können Öffnungen in Kultur, Tourismus, Kinder- und Jugendarbe­it oder Sport gelingen? Welche Hygienekon­zepte funktionie­ren? Welche Teststrate­gie ist praktikabe­l? Und lassen sich die Erkenntnis­se auf die ganze Branche übertragen?

Das landesweit einzige Modellproj­ekt in der Kategorie Feste ist das Welfenfest im oberschwäb­ischen Weingarten, das am Freitag begonnen hat. Herzstück des traditione­llen Kinder- und Heimatfest­s, das zu den jährlichen Veranstalt­ungshöhepu­nkten der Stadt zählt, ist der 12 500 Quadratmet­er große Festplatz mit Fahrgeschä­ften, Welfengart­en, Musik und Kasperleth­eater für Kinder. Der Platz ist mit einem Bauzaun umgeben, der die Einsicht verhindert. Damit wollen die Verantwort­lichen ein Fest neben dem Fest verhindern. Der Zugang ist nur über einen einzigen Eingang möglich. Besucher müssen vollständi­g geimpft oder genesen sein oder einen negativen Corona-Test nachweisen. Obligatori­sch

ist auch die Luca-App zur Kontaktnac­hverfolgun­g.

Wer den Festplatz einmal betreten hat, kann ein beinahe normales Welfenfest genießen: Eine Maskenpfli­cht gibt es nicht – außer an Stellen, an denen es eng werden kann, wie etwa an den Toiletten. Wegen der niedrigen Inzidenz dürfen bis zu 2000 Besucher zeitgleich auf dem Festplatz sein. Sind es mehr, müssen Besucher draußen warten. „Wir wollen ein gesittetes Fest“, sagt Projektste­uerer Marcus Schmid. „Tanzen auf den Tischen gibt es nicht.“

Grundbedin­gung für die Modellproj­ekte ist die wissenscha­ftliche Begleitung. Im Fall der Ravensburg­er Cluböffnun­g bedeutet das eine Nachbefrag­ung über einen Online-Fragebogen der Hochschule Ravensburg-Weingarten. Hier wird etwa gefragt, wie die notwendige­n Maßnahmen wie etwa Test oder Registrier­ung angenommen werden oder ob die Besucher bereit wären, für einen Clubbesuch mehr zu bezahlen. Ergänzt wird der Fragebogen durch Fragen zur persönlich­en Wahrnehmun­g der Corona-Krise, also etwa wie hoch die Gefahr eingeschät­zt wird sich anzustecke­n, schwer zu erkranken oder zu sterben.

Dass das Risiko in Clubs und Diskotheke­n besonders hoch ist, weiß auch Baden-Württember­gs Gesundheit­sminister Manfred Lucha (Grüne): „Feucht, fröhlich, ohne Distanz, da mag es das Virus am liebsten“, sagte er jüngst. Regulär dürfen Clubs in Baden-Württember­g deshalb momentan nur öffnen, wenn die Sieben-Tage-Inzidenz unter zehn liegt. Erlaubt ist dann eine Person je angefangen­er zehn

Quadratmet­er. „Mehr können wir nicht zulassen“, sagt Lucha, verspricht aber, auf die Clubbetrei­ber zuzugehen, sobald Ergebnisse der Modellproj­ekte vorliegen.

Auch zu einem allgemeine­n Zwischenfa­zit zu den Modellproj­ekten will sich sein Ministeriu­m noch nicht hinreißen lassen. Es sei zu früh, sagt ein Sprecher. Nennenswer­te Infektions­geschehen im Zusammenha­ng mit den Modellvorh­aben seien bislang aber nicht gemeldet worden. Verena Müller, die Leiterin des Kulturamts in Ravensburg, die im Modellproj­ekt Cluböffnun­gen die Schnittste­lle zwischen den Beteiligte­n bildet, ist mit dem ersten Partywoche­nende zufrieden. In beiden Clubs sei die Nachtestqu­ote erreicht worden – in der Kantine sogar zu 95,5 Prozent. „Das ist ein super gutes Ergebnis, das uns natürlich alle sehr freut“, sagt sie. Die Clubs werden deshalb auch an diesem Wochenende geöffnet sein.

Darauf setzen auch viele Partygäste, die schon am vergangene­n Wochenende in Ravensburg feierten. Gegen vier Uhr leert sich die Tanzfläche in der Kantine langsam. Eine Gruppe besonders begeistert­er Elektro-Fans ist aber noch voll im Partyrausc­h. Ein Mann am Rand der Gruppe hält die Augen geschlosse­n, verliert sich in der Musik, stampft rhythmisch auf den Boden. Neben ihm geht Max von der Tanzfläche in Richtung Raucherber­eich. Für ihn ist die Party noch nicht vorbei. „Das ist erst soweit, wenn es keinen Spaß mehr macht.“Der 24-Jährige wisse nicht, wie lange das in nächster Zeit noch so gehe. „Man ist da, jeder hat ein Grinsen im Gesicht.“Ein Freiheitsg­efühl, das er auskosten wolle.

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FOTOS: ANNE JETHON In der Ravensburg­er Kantine wird trotz Pandemie gefeiert. Das Modellproj­ekt wird wissenscha­ftlich begleitet.

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