Abgerutscht
Die Grünen verlieren nach ihrem Höhenflug im April in den Umfragen inzwischen deutlich – Die Partei und ihre Kanzlerkandidatin haben offensichtlich etwas falsch gemacht
- Jeden Tag wächst der Stapel der Artikel, in denen sich die grüne Prominenz wahlweise verteidigt, entschuldigt oder andere für die vermaledeite Situation verantwortlich macht. Jeden Tag bestätigt eine weitere Umfrage, dass die Grünen wieder deutlich unter der 20-ProzentMarke liegen und vom Kanzleramt wohl nur noch träumen können. Die Zeiten, in denen die grüne Kanzlerkandidatin gleichzeitig von den Titelblättern der bundesweiten Presse lächelte, sind vorüber. Dabei war es erst im April, als die Grünen gefeiert wurden wegen ihrer geräuschlosen Kandidatenkür und des demonstrativ guten Miteinanders der beiden Bewerber Baerbock und Habeck. Inzwischen kämpft die Grünen-Chefin aus dem Sommerurlaub heraus um ihre Glaubwürdigkeit, der GrünenChef hält sich derweil mit öffentlichen Statements zurück. Was passiert da gerade in der Partei?, fragen sich sowohl Sympathisanten als auch Kritiker der Grünen.
De facto wurden Fehler gemacht, das ist inzwischen hinlänglich bekannt: die Ungenauigkeiten im Lebenslauf, die Versäumnisse in der Angabe der Weihnachtszahlungen der Partei, ein Buch, das Textstellen enthält, die lieblos aus anderen Veröffentlichungen einfach weitgehend übernommen wurden. Eine Schludrigkeit reiht sich an die andere. Doch ist alleine mit diesen Schludrigkeiten der deutliche Absturz Baerbocks in den Zustimmungswerten zu erklären? Wochenlang hätte sie bei einer Direktwahl des Kanzlers/der Kanzlerin den Unionskandidaten Armin Laschet überflügelt. Jetzt müssen die Grünen froh sein, wenn sie überhaupt wieder Wind unter die Flügel bekommen. Parteiintern wird, wie Medien berichten, bereits darüber diskutiert, wer für das Schlamassel verantwortlich ist.
„Der Kern des Problems ist nicht Annalena Baerbock, sondern die Art des Umgangs der Grünen mit der Kritik“, sagt Heiko Kretschmer, Geschäftsführer der Kommunikationsagentur Johanssen und Kretschmer, die öffentliche Institutionen und Unternehmen berät. Kretschmer hat selbst in den vergangenen drei Jahrzehnten Wahlkämpfe begleitet und organisiert – im Jahr 2013 beispielsweise den Bundestagswahlkampf der SPD. Das Krisenmanagement der Grünen-Spitze sieht er äußerst kritisch. „Den Grünen fehlt die kritische Distanz untereinander“, sagt er. „Das zeigt sich bei jedem Angriff, der mit einer kompletten Verteidigungshaltung
pariert wird.“Anstatt offensiv zu agieren, inszeniere sich die Partei als Opfer einer Kampagne.
Die Wortwahl der Grünen nach den Plagiatsvorwürfen gegen Baerbock bestätigen Kretschmers Aussage. Da war von „Rufmord“, einer „Dreckskampagne“und in der harmlosesten Wortwahl von „aufgebauschten Bagatellen“die Rede. Auch am Montag stellte sich der Bundesgeschäftsführer und Wahlkampfleiter Michael Kellner vor die Presse, um erst einmal über „extreme Hitze in Kanada und Waldbrände auf Zypern“zu reden, nachdem am Wochenende weitere Stellen aus Baerbocks Buch mit dem Titel „Jetzt. Wie wir unser Land erneuern“veröffentlicht worden waren, die offensichtlich nicht auf ihrer eigenen Formulierungskunst basieren. Gefragt, ob die Partei auf Habeck als Kandidaten umschwenken sollte, legte Kellner
mehrfach im fast gleichen Wortlaut ein Bekenntnis zur Kanzlerkandidatin ab: „Wir gehen als grünes Team mit Annalena Baerbock an der Spitze in diesen Wahlkampf.“
Eine andere Alternative bleibt der Partei wohl auch nicht, wenn sie sich nicht weiter selbst beschädigen will. Ein fliegender Wechsel der Kanzlerkandidaten knapp 80 Tage vor der Wahl könnte das Image der Grünen noch mehr ramponieren, bestätigt Marc Debus, Politikwissenschaftler an der Universität Mannheim, der „Schwäbischen Zeitung“. „Dies würde die Glaubwürdigkeit der gesamten Partei gefährden“, sagt er. Zudem würde ein Austausch der Kandidatin wohl auch „innerparteiliche Konflikte“zur Folge haben, die sich nachteilig auf die Wahlchancen auswirkten.
Fast scheint es so, als würde den Grünen gerade etwas auf die Füße fallen, was so schön zur neuen Harmonie
der Partei passte: Dass Habeck der Frau bei der Kandidatenkür ohne Gezeter und Gemurre den Vortritt ließ, obwohl sie, im Gegensatz zu ihm, über keinerlei Regierungspraxis und wenig Erfahrung in Spitzenpositionen verfügt. Wie groß der Schritt von der Führung der kleinsten Oppositionspartei im Bundestag zur Kanzlerkandidatin im Fokus der Republik ist, haben die Grünen, inklusive Annalena Baerbock, offensichtlich unterschätzt – und waren deshalb nicht gut darauf vorbereitet.
Dass im Wahlkampf nicht nur mit Wattebäuschen geworfen wird, scheint sie ebenso sehr zu überraschen wie der Umstand, dass Frauen, die etwas erreichen wollen, auch mit persönlichen Angriffen zurechtkommen müssen. „Dass diese Vorbereitung fehlt, müsste einem als Grüner wirklich Sorge machen. Das zeigt nämlich, dass grundsätzlich etwas nicht funktioniert – im Team, in der Kampagne und in der grünen Spitze“, sagt Kommunikationsberater Kretschmer. Auch in der „unklaren Führungsfrage“sieht er ein Problem. „Baerbock ist nicht diejenige, die in der Konstruktion aus Doppelspitze, Beratungsumfeldern und Bundestagsgeschäftsstelle den Hut aufhat.“Auffällig ist, wie wenig Habeck, der selbst Autor mehrerer Bücher ist, sich für die Ehrenrettung der Kanzlerkandidatin ins Zeug wirft.
Doch wie wieder rauskommen aus dem Sog ins Umfragetief? Dass Baerbocks Buch in der nächsten gedruckten Auflage und im E-Book mit Quellenangaben versehen wird, wie der Ullstein-Verlag am Freitag bestätigte, ist sicherlich ein Schritt, der den Wählern signalisieren soll: Wir Grüne haben verstanden, dass unsere ersten Reaktionen auf die Plagiatsvorwürfe kontraproduktiv waren. Doch kann diese kommunikative Wende die Beschädigung der Kanzlerkandidatin in den vergangenen Wochen wieder wettmachen? Das hängt nach Einschätzung des Politikwissenschaftlers Debus von mehreren Faktoren ab: Der Anteil der Wählerinnen und Wähler, die ihre Entscheidung in den letzten Wochen vor der Wahl treffen, sei in den vergangenen Jahrzehnten auf mehr als 40 Prozent gestiegen. „Insofern kann sich die Stimmungslage wieder drehen, auch in eine positive Richtung für die Grünen“, sagt er. Allerdings nur dann, wenn die aktuellen Debatten wieder abflauten.
Im Wahlkampf nicht nur von gegenseitigen Vorwürfen, Anschuldigungen und persönlichen Angriffen zu hören, dies würde auch den Wählern entgegenkommen. Denn bereits jetzt wird die Frage laut, wie es denn sein könne, dass Politiker und Medien sich an Themen abarbeiten, die mit den eigentlichen Problemen der Zeit wie den Folgen der Corona-Pandemie, dem Klimawandel und dem Pflegenotstand nichts zu tun haben.
Liegt darin eine Chance für die Grünen: in den kommenden Wochen mehr über Extremwetter, Überschwemmungen und Hitzetote zu reden als über sich selbst? Sie können sich immerhin auf die Fahnen schreiben, in der Klimapolitik schon zu einer Zeit Druck gemacht zu haben, als die anderen Parteien das Thema noch nicht wirklich interessierte. Aber auch das Klimathema, bei dem die Wähler den Grünen eine hohe Problemlösungskompetenz zuschreiben, ist kein Selbstläufer – darin sind sich Kommunikationsexperte und Politikwissenschaftler einig. Denn das Label Ökopartei heften sich inzwischen irgendwie auch alle anderen ans Revers. „Niemand im politischen Raum wendet sich mehr gegen Klimapolitik“, sagt Kretschmer. Deshalb sei es unsicher, ob das Thema „den Erfinder“überhaupt noch trägt.