Aalener Nachrichten

Abgerutsch­t

Die Grünen verlieren nach ihrem Höhenflug im April in den Umfragen inzwischen deutlich – Die Partei und ihre Kanzlerkan­didatin haben offensicht­lich etwas falsch gemacht

- Von Claudia Kling

- Jeden Tag wächst der Stapel der Artikel, in denen sich die grüne Prominenz wahlweise verteidigt, entschuldi­gt oder andere für die vermaledei­te Situation verantwort­lich macht. Jeden Tag bestätigt eine weitere Umfrage, dass die Grünen wieder deutlich unter der 20-ProzentMar­ke liegen und vom Kanzleramt wohl nur noch träumen können. Die Zeiten, in denen die grüne Kanzlerkan­didatin gleichzeit­ig von den Titelblätt­ern der bundesweit­en Presse lächelte, sind vorüber. Dabei war es erst im April, als die Grünen gefeiert wurden wegen ihrer geräuschlo­sen Kandidaten­kür und des demonstrat­iv guten Miteinande­rs der beiden Bewerber Baerbock und Habeck. Inzwischen kämpft die Grünen-Chefin aus dem Sommerurla­ub heraus um ihre Glaubwürdi­gkeit, der GrünenChef hält sich derweil mit öffentlich­en Statements zurück. Was passiert da gerade in der Partei?, fragen sich sowohl Sympathisa­nten als auch Kritiker der Grünen.

De facto wurden Fehler gemacht, das ist inzwischen hinlänglic­h bekannt: die Ungenauigk­eiten im Lebenslauf, die Versäumnis­se in der Angabe der Weihnachts­zahlungen der Partei, ein Buch, das Textstelle­n enthält, die lieblos aus anderen Veröffentl­ichungen einfach weitgehend übernommen wurden. Eine Schludrigk­eit reiht sich an die andere. Doch ist alleine mit diesen Schludrigk­eiten der deutliche Absturz Baerbocks in den Zustimmung­swerten zu erklären? Wochenlang hätte sie bei einer Direktwahl des Kanzlers/der Kanzlerin den Unionskand­idaten Armin Laschet überflügel­t. Jetzt müssen die Grünen froh sein, wenn sie überhaupt wieder Wind unter die Flügel bekommen. Parteiinte­rn wird, wie Medien berichten, bereits darüber diskutiert, wer für das Schlamasse­l verantwort­lich ist.

„Der Kern des Problems ist nicht Annalena Baerbock, sondern die Art des Umgangs der Grünen mit der Kritik“, sagt Heiko Kretschmer, Geschäftsf­ührer der Kommunikat­ionsagentu­r Johanssen und Kretschmer, die öffentlich­e Institutio­nen und Unternehme­n berät. Kretschmer hat selbst in den vergangene­n drei Jahrzehnte­n Wahlkämpfe begleitet und organisier­t – im Jahr 2013 beispielsw­eise den Bundestags­wahlkampf der SPD. Das Krisenmana­gement der Grünen-Spitze sieht er äußerst kritisch. „Den Grünen fehlt die kritische Distanz untereinan­der“, sagt er. „Das zeigt sich bei jedem Angriff, der mit einer kompletten Verteidigu­ngshaltung

pariert wird.“Anstatt offensiv zu agieren, inszeniere sich die Partei als Opfer einer Kampagne.

Die Wortwahl der Grünen nach den Plagiatsvo­rwürfen gegen Baerbock bestätigen Kretschmer­s Aussage. Da war von „Rufmord“, einer „Dreckskamp­agne“und in der harmlosest­en Wortwahl von „aufgebausc­hten Bagatellen“die Rede. Auch am Montag stellte sich der Bundesgesc­häftsführe­r und Wahlkampfl­eiter Michael Kellner vor die Presse, um erst einmal über „extreme Hitze in Kanada und Waldbrände auf Zypern“zu reden, nachdem am Wochenende weitere Stellen aus Baerbocks Buch mit dem Titel „Jetzt. Wie wir unser Land erneuern“veröffentl­icht worden waren, die offensicht­lich nicht auf ihrer eigenen Formulieru­ngskunst basieren. Gefragt, ob die Partei auf Habeck als Kandidaten umschwenke­n sollte, legte Kellner

mehrfach im fast gleichen Wortlaut ein Bekenntnis zur Kanzlerkan­didatin ab: „Wir gehen als grünes Team mit Annalena Baerbock an der Spitze in diesen Wahlkampf.“

Eine andere Alternativ­e bleibt der Partei wohl auch nicht, wenn sie sich nicht weiter selbst beschädige­n will. Ein fliegender Wechsel der Kanzlerkan­didaten knapp 80 Tage vor der Wahl könnte das Image der Grünen noch mehr ramponiere­n, bestätigt Marc Debus, Politikwis­senschaftl­er an der Universitä­t Mannheim, der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Dies würde die Glaubwürdi­gkeit der gesamten Partei gefährden“, sagt er. Zudem würde ein Austausch der Kandidatin wohl auch „innerparte­iliche Konflikte“zur Folge haben, die sich nachteilig auf die Wahlchance­n auswirkten.

Fast scheint es so, als würde den Grünen gerade etwas auf die Füße fallen, was so schön zur neuen Harmonie

der Partei passte: Dass Habeck der Frau bei der Kandidaten­kür ohne Gezeter und Gemurre den Vortritt ließ, obwohl sie, im Gegensatz zu ihm, über keinerlei Regierungs­praxis und wenig Erfahrung in Spitzenpos­itionen verfügt. Wie groß der Schritt von der Führung der kleinsten Opposition­spartei im Bundestag zur Kanzlerkan­didatin im Fokus der Republik ist, haben die Grünen, inklusive Annalena Baerbock, offensicht­lich unterschät­zt – und waren deshalb nicht gut darauf vorbereite­t.

Dass im Wahlkampf nicht nur mit Wattebäusc­hen geworfen wird, scheint sie ebenso sehr zu überrasche­n wie der Umstand, dass Frauen, die etwas erreichen wollen, auch mit persönlich­en Angriffen zurechtkom­men müssen. „Dass diese Vorbereitu­ng fehlt, müsste einem als Grüner wirklich Sorge machen. Das zeigt nämlich, dass grundsätzl­ich etwas nicht funktionie­rt – im Team, in der Kampagne und in der grünen Spitze“, sagt Kommunikat­ionsberate­r Kretschmer. Auch in der „unklaren Führungsfr­age“sieht er ein Problem. „Baerbock ist nicht diejenige, die in der Konstrukti­on aus Doppelspit­ze, Beratungsu­mfeldern und Bundestags­geschäftss­telle den Hut aufhat.“Auffällig ist, wie wenig Habeck, der selbst Autor mehrerer Bücher ist, sich für die Ehrenrettu­ng der Kanzlerkan­didatin ins Zeug wirft.

Doch wie wieder rauskommen aus dem Sog ins Umfragetie­f? Dass Baerbocks Buch in der nächsten gedruckten Auflage und im E-Book mit Quellenang­aben versehen wird, wie der Ullstein-Verlag am Freitag bestätigte, ist sicherlich ein Schritt, der den Wählern signalisie­ren soll: Wir Grüne haben verstanden, dass unsere ersten Reaktionen auf die Plagiatsvo­rwürfe kontraprod­uktiv waren. Doch kann diese kommunikat­ive Wende die Beschädigu­ng der Kanzlerkan­didatin in den vergangene­n Wochen wieder wettmachen? Das hängt nach Einschätzu­ng des Politikwis­senschaftl­ers Debus von mehreren Faktoren ab: Der Anteil der Wählerinne­n und Wähler, die ihre Entscheidu­ng in den letzten Wochen vor der Wahl treffen, sei in den vergangene­n Jahrzehnte­n auf mehr als 40 Prozent gestiegen. „Insofern kann sich die Stimmungsl­age wieder drehen, auch in eine positive Richtung für die Grünen“, sagt er. Allerdings nur dann, wenn die aktuellen Debatten wieder abflauten.

Im Wahlkampf nicht nur von gegenseiti­gen Vorwürfen, Anschuldig­ungen und persönlich­en Angriffen zu hören, dies würde auch den Wählern entgegenko­mmen. Denn bereits jetzt wird die Frage laut, wie es denn sein könne, dass Politiker und Medien sich an Themen abarbeiten, die mit den eigentlich­en Problemen der Zeit wie den Folgen der Corona-Pandemie, dem Klimawande­l und dem Pflegenots­tand nichts zu tun haben.

Liegt darin eine Chance für die Grünen: in den kommenden Wochen mehr über Extremwett­er, Überschwem­mungen und Hitzetote zu reden als über sich selbst? Sie können sich immerhin auf die Fahnen schreiben, in der Klimapolit­ik schon zu einer Zeit Druck gemacht zu haben, als die anderen Parteien das Thema noch nicht wirklich interessie­rte. Aber auch das Klimathema, bei dem die Wähler den Grünen eine hohe Problemlös­ungskompet­enz zuschreibe­n, ist kein Selbstläuf­er – darin sind sich Kommunikat­ionsexpert­e und Politikwis­senschaftl­er einig. Denn das Label Ökopartei heften sich inzwischen irgendwie auch alle anderen ans Revers. „Niemand im politische­n Raum wendet sich mehr gegen Klimapolit­ik“, sagt Kretschmer. Deshalb sei es unsicher, ob das Thema „den Erfinder“überhaupt noch trägt.

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Grünen-Kanzlerkan­didatin Annalena Baerbock kämpft um ihre Glaubwür- digkeit.

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