Fast wie am Ganges
Der größte Hindu-Tempel Kontinentaleuropas steht in Westfalen – Ein Besuch im Industriegebiet von Hamm-Uentrop, wo unzählige Gottheiten angerufen werden
Im roten Sari und mit Girlanden geschmückt blickt Tempelgöttin Sri Kamadchi Ampal nach Osten zur aufgehenden Sonne. Auf dem Boden hockend beten Frauen in kunterbunten Saris, ihre Kinder, Männer – und Sunil. Er ist 27 Jahre alt, Hindu, Tamile mit deutschem Pass und arbeitet in der IT-Branche. Zweimal pro Woche geht er in den Tempel. Er faltet seine Hände vor dem Gesicht, mit den Fingerspitzen nach oben, und erweist Kamadchi Ampal und anderen Göttern Respekt, Dank und Hingabe. Was er sich wünscht, wissen wir nicht. Aber alle Hindus wissen, dass die Tempelgöttin Sri Kamadchi Ampal Wünsche von den Augen ablesen kann …
Bergbau noch bis 2010, Stahl, Chemie: Hamm ist keine aufregende Stadt. Aber in Hamm kann man ein authentisches Stück Indien erleben. Im Industriegebiet von Hamm-Uentrop steht der größte Hindu-Tempel Kontinentaleuropas: Grundfläche 27 mal 27 Meter, mit einem 17 Meter hohen Gopuram, dem Eingangsturm. Wie der nach Hamm kam? „Es war Gottes Wille“, sagt Hindu-Priester Arumugam Paskaran. Auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka führte ihn eine Odyssee über Moskau und Berlin Richtung Paris. „Während der Zugfahrt hatte ich plötzlich großen Hunger und ich stieg einfach aus“, erzählt der Mann mit dem langen weißen Bart. „So kam ich nach Hamm. Und ich blieb.“
Noch im gleichen Jahr, 1989, baute sich Paskaran einen Schrein in seine Wohnung. Drei Jahre später folgte ein kleiner Tempel, 2002 der jetzige große. Architekt war der Deutsche Heinz-Rainer Eichhorst aus Hamm, der keinerlei Erfahrung im Bau von hinduistischen Tempeln hatte. Doch während eines mehrwöchigen Aufenthaltes in Südindien ließ sich Eichhorst über die religiösen Vorschriften für Tempelbauten unterrichten. Der Kanchi-Kamadchi-Tempel im südindischen Kanchipuram wurde die Vorlage. Die Stadt Hamm stellte das Grundstück zur Verfügung und die Baukosten in Höhe von gut 1,5 Millionen Euro sammelte Paskaran durch Spenden und Darlehen ein. 20 000 Hindus aus ganz Europa feierten 13 Stunden lang die Einweihung des Sri-Kamadchi-Ampal-Tempels: „Die hinduistische Bevölkerung hatte nun einen Zufluchtsort für ihre religiösen Zeremonien“, sagt der 57-jährige Priester, den sie als ihren Guru, ihren Lehrer, achten. Immerhin 45 000 Hindus leben in Deutschland, „alle gut integriert“, glaubt Paskaran: „Viele haben inzwischen die deutsche Staatsangehörigkeit, fast alle sind berufstätig, in allen Schichten, vom Arbeiter bis zum Akademiker. Inzwischen wächst ja bereits die zweite Generation heran.“
Für viele westliche Betrachter wirkt der Hinduismus mit seinen Skulpturen, Mythologien und unzähligen Hindu-Gottheiten wie eine Mischung aus Religion, Kult und Fantasy. Allein im Tempel von Hamm findet man 200 Gottheiten. Im Hinduismus gibt es keinen einheitlichen Religionsstifter, kein gemeinsames Glaubensbekenntnis, keine zentrale religiöse Institution.
„Der Tempel ist für alle Menschen geöffnet. Jeder kann seine Sorgen spirituell mit den Göttern besprechen“, sagt Paskaran. Nur sollte man im Tempel respektvoll gekleidet sein, keine Leder- oder andere von Tieren stammende Kleidung tragen, nicht essen und trinken, sich ruhig verhalten sowie möglichst barfuß oder auf Socken gehen.
Der Duft von Räucherstäbchen liegt in der Luft: Eine der drei täglichen Zeremonien ist im Gange, sehr anmutig trotz der ohrenbetäubenden Trommeln. Für Waschungen geht’s 300 Meter weiter unter eine triste dunkle Brücke am Datteln-Hamm-Kanal – mit wenig einladendem Wasser. „Der Kanal ist unser Ganges-Ersatz. Wir glauben, dass Flüsse und Seen von Gott kommen“, sagt der Priester und ergänzt: „Mich stört es nicht, dass unser Tempel mitten in einem Industriegebiet liegt. Unsere Zeremonien sind oft laut, mit viel Musik und in einem Industriegebiet fühlt sich dadurch niemand beeinträchtigt.“
Zum jährlichen, zwei Wochen dauerndem Tempelfest kommen normalerweise 15 000 Menschen, in Corona-Zeiten sind es natürlich weniger: Es ist das größte HinduFest in Deutschland, das in diesem Jahr unter besonderen Hygieneauflagen stattfindet. Bei ekstatischen Tänzen und Kasteiungen stechen sich manche gläubigen Männer Spieße, Haken und Nägel in Mund, Wangen oder Rücken. Rituale, die Paskaran duldet, aber nicht fördert oder gar fordert. „Die Kasteiungen sind Sache der Gläubigen. Man opfert sich der Göttin und bittet durch Kasteiung um Hilfe für die Lösung eines Problems.“Blut fließt nicht, weil die Gläubigen unter dem Schutz der Göttin stehen und von einem Zeremonienmeister begleitet werden, „der die Techniken für die Einstechungen kennt und die Gläubigen mental auf ihre Strapaze einstimmt“, so der Priester. Die in der tamilischen Tradition oft stattfindenden Tieropfer werden allerdings nicht geduldet. Trotzdem wird der Tempel von Hamm als das Zentrum des Hinduismus im Exil angesehen. Und Göttin Sri Kamadchi Ampal hält schützend ihre Hand über Hamm, Tempel, Kanal – und Sunil.
Das große Tempel-Jahresfest steht im Zeichen von Corona: Zu den Festtagen vom 10. bis 12. Juli, inklusive der Prozession, muss sich die Teilnehmer auf www.hinduistische-gemeinde-deutschland.de für eventuelle Rückverfolgungen anmelden. Dieses Jahr sind pro Tag nur 1000 Personen zugelassen.
Hamm, 180 000 Einwohner, und seine hinduistische Gemeinde im Stadtviertel Uentrop liegen direkt an der A 2 zwischen Dortmund und Bielefeld. Tempelführungen mit dem Architekten sind derzeit wegen Corona noch ausgesetzt. Weitere Informationen: www.hamm.de, www.hinduistischegemeinde-deutschland.de