Sklavenarbeit für ein wenig Öl
Am Albtrauf sollten KZ-Häftlinge Treibstoff für die deutsche Kriegsführung gewinnen – Das Landesamt für Denkmalpflege ist der Geschichte durch eine Ausgrabung nochmals nachgegangen
- Dreck, Gestrüpp, Bäume, Steine und ein frisch gebaggertes Loch – mehr gibt ein erster Blick nicht her. Es braucht also eine Erklärung für den Ortstermin am westlichen Albtrauf unweit von Balingen. Sie folgt umgehend von Christian Bollacher, einem Wissenschaftler des Landesamts für Denkmalpflege: „Wo wir stehen, hat die NS-Diktatur im letzten Kriegsjahr in einer wahnsinnigen Verzweiflungstat versucht, Treibstoff für ihre Kriegsmaschinerie zu gewinnen.“
Die soeben getätigte Ausgrabung zeigt Ölschiefer, wie der mit Bauhelm und Signalweste ausgestattete drahtige Bollacher erklärt. „Die Rotfärbung des Gesteins kommt von den hohen Temperaturen, die hier herrschten.“Ein Satz, der den unbefangenen Betrachter des Loches für einen weiteren Moment ratlos zurücklässt. Der Chefausgräber ergänzt deshalb: „Wir stehen auf dem Grund eines Meilers.“
Womit sich erklärt, wie die Nazis hier Treibstoff produzieren wollten: mittels Meilerschwelverfahren. Sklavenarbeiter mussten Ölschieferbrocken aufschichten. Darüber kam eine Abdeckung mit gut brennbarem Material, vor allem Holz und Brenntorf. War es entzündet, sollte die Hitze den Meiler unter Luftabschluss durchdringen. Dadurch gab der Ölschiefer Schwelgas ab. Dieses wurde durch Rohre am Meilerboden angesaugt und weitertransportiert. Am Schluss stand das Kondensieren des Gases in einem nahen Werk zu einer Art Rohöl.
Das Unternehmen bekam den Decknamen „Wüste“. Zehn Ölschieferwerke waren zwischen Rottweil, Balingen und der Hechinger Gegend für die beschriebene Primitivtechnik projektiert. Hitlers Schreckensorganisation SS errichtete sieben Lager für KZ-Häftlinge. Dazu kamen Elendsquartiere für russische Kriegsgefangene. „Die standen bekanntlich in der NS-Hierarchie ganz unten und wurden wie KZHäftlinge behandelt“, erinnert Bollacher an die menschenverachtenden Gebräuche der Nazis.
Insgesamt zogen sie über 12 500 Sklavenarbeiter für das Unternehmen „Wüste“zusammen. Mehr als 3500 von ihnen starben: zu Tode geschunden, erschossen, aufgehängt, halb verhungert von Krankheiten hinweg gerafft. Die Verbrechen sind längst gut dokumentiert. Örtliche Vereine informieren. Gedenkstätten ziehen sich durch die ansonsten so beschauliche Landschaft. KZ-Friedhöfe sind zu finden. Im Eckerwald bei Schörzingen haben sich tief im Forst sogar ausgedehnte Ruinen einer Ölproduktionsanlage erhalten. Gespenstisch, aber durch einen Info-Pfad erschlossen.
Gegraben hat die Denkmalpflege dieser Tage jedoch bei Erzingen, einem zu Balingen gehörenden Dorf. Es drückt sich in eine Senke. Ein Bahnanschluss wertet den Flecken auf. Neben den Gleisen waren einst KZ-Häftlinge zusammengepfercht. Von dort lässt sich aufwärtsfahren. Ein Weiler mit Landwirtschaft und Einfamilienhäusern kommt, sinnigerweise Hungerberg genannt. Auf seinem Grund war das Lager für russische Gefangene. Einige hunderte Meter weiter liegt das Ausgrabungsloch auf einer Anhöhe.
Während ein Sommerregen den Parka durchnässt, schweifen von dort aus die Augen umher. Nach Westen hin folgen sie dem Horizont. Dort recken sich die Türme des Hohenzollern-Schlosses bei Hechingen empor. In der engeren Umgebung sind Wiesen, Felder, Wäldchen und einzelne Gehöfte. Lässt sich aber nicht doch noch irgendeine sichtbare oberirdische Spur des Naziterrors entdecken?
Immerhin zeigen alliierte Luftaufnahmen aus den letzten Kriegsmonaten im Jahr 1945 eine ausgedehnte Industrielandschaft mit riesigem Abbaufeld für den Ölschiefer, mit Feldbahn, Kondensationsanlage und KZ-Baracken. Aber Fehlanzeige. Nichts mehr da. „Einige Jahre nach Kriegsende ist alles rekultiviert worden“, berichet Bollacher. Bloß in einem nahen Waldstück versteckt, seien noch ein Öltank und ein Trafohäuschen der Anlage zu finden.
Beim Meiler verhält es sich wiederum folgendermaßen. Sein Standort wirkt bereits beim Blick auf die Landkarte verdächtig: ein Hunderte Meter langer schmaler, viereckiger, bewaldeter Streifen, der nicht in die Landschaftsstruktur passt. „Die ehemalige Meilerfläche“, bestätigt Bollacher. „360 Meter lang.“Aus der Nähe ist besser erkennbar, dass eine Art Wall übriggeblieben ist: rund vier Meter hoch und elf Meter breit. Der Länge nach waren acht Einzelmeiler aufgereiht. Am letzten Richtung Osten hat die Denkmalpflege gegraben.
Das Anrollen des Baggers dient dabei zwei Zwecken. Übergeordnet dreht es sich um ein vierjähriges Projekt bis 2022, bei dem die Standorte
ehemaliger KZs in BadenWürttemberg auf Denkmaleigenschaft geprüft werden. Zu finden sind hierzulande ausschließlich sogenannte Außenlager. Gemeint sind damit Töchter der großen KZs wie Dachau. Es gab im Südwesten acht Außenlager. Das bekannteste dürfte sich am Goldbacher Stollen befunden haben, einer unterirdischen Rüstungsschmiede, die Häftlinge bei Überlingen am Bodensee bauen mussten.
Wesentlich stärker auf dem Boden des heutigen Baden-Württemberg vertreten war jedoch das Groß-KZ Natzweiler-Struthof, errichtet in den elsässischen Vogesen. 35 seiner Außenlager standen hierzulande – darunter jene des Unternehmens „Wüste“. Dieser vom Elsass aus gesteuerten SS-Welt aus Straf- und Sklavenarbeit zollt das Landesamt für Denkmalpflege momentan viel Aufmerksamkeit. Was daran liegt, dass Teile davon 2017 das Europäische KulturerbeSiegel erhalten haben. Bollacher leitet wiederum das Forschungsprojekt „KZ-Komplex Natzweiler“.
Neben dem Check der Außenlager will die Denkmalpflege jedoch auch neue Erkenntnisse gewinnen. Im Meiler von Erzingen sollen die Prozesse der Ölschiefer-Verschwelung besser verstanden werden. Etwa, ob die Hitze den Ölschieferhaufen überhaupt durchdrungen hat. Dazu wird interdisziplinär gearbeitet. So ist Christoph Berthold mit dabei, Mineraloge von der Uni Tübingen und Leiter des Competence Center Archeometry Baden-Wuerttemberg. Die Einrichtung will mithilfe von Geowissenschaften, Chemie, Physik, Biologie et cetera Fragestellungen der Archäologie oder Geschichte klären.
Nach dem Betrachten erster Funde geht Berthold davon aus, „dass im Innern des Meilers durchaus Temperaturen von 1000 Grad erreicht worden sind“. Na und, könnte nun der Laie sagen. Aber das Team am Erzinger Ölschiefermeiler ringt um eine spezielle Erkenntnis: Wie brauchbar war überhaupt das Verfahren, für welches KZ-Häftlinge geschunden wurden? Das Ergebnis war nämlich nichtig.
Dahinter versteckt sich als nächste Frage, welcher Naziwahnsinn letztlich in dem Unternehmen „Wüste“steckte?
Auf den Gedanken, die Ölschiefervorkommen am Albtrauf zu nutzen, waren vor dem Dritten Reich schon andere gekommen: Tüftler im Kaiserreich, um 1930 herum dann der Staat Württemberg. „Jeder“, erklärt Denkmalpfleger Bollacher, „ist aber auf die Schnauze gefallen.“Der Grund dafür: Der örtliche Ölschiefer enthält nur fünf Prozent Bitumen. Diese klebrige Kohlenwasserstoffverbindung ist Ziel aller Begehrlichkeiten. Aus ihr lässt sich das Öl gewinnen. „Aber bei fünf Prozent Bitumen ist das Unterfangen völlig unrentabel. Das ist den Aufwand nicht wert“, sagt Bollacher.
Zum Vergleich: Lohnende Vorkommen wie jene in Estland haben einen Bitumengehalt von rund 25 Prozent. Derzeit deckt der Baltenstaat über 60 Prozent seines Strombedarfs aus der Verbrennung von Ölschiefer. Im Zweiten Weltkrieg hatte das Reich nach dem Einmarsch im Baltikum 1941 dankbar auf das estnische Gestein für die Ölgewinnung zurückgegriffen.
Dankbar schon deshalb, weil die Treibstoffversorgung von Anfang an die Achillesferse der deutschen Kriegsführung gewesen war. Im Reichsgebiet gab es nur wenige bescheidene Ölfelder. Weshalb die Vorkommen beim rumänischen Verbündeten in Ploiesti elementare Bedeutung hatten. Mehr wäre aber besser. 1942 schickte Hitler seine Armeen im Kampf ums Öl in Richtung Kaspisches Meer. Hauptziel: Baku, heute Hauptstadt von Aserbaidschan. Dem Generalfeldmarschall Erich von Manstein, seinem wohl besten Feldherren, sagte der Diktator: „Wenn wir das Öl bei Baku nicht kriegen, ist der Krieg verloren.“
Einmal davon abgesehen, dass bereits zu diesem Zeitpunkt nichts mehr zu gewinnen war, scheiterte der Vorstoß. Ab 1943 kam dann das rumänische Ploiesti in die Reichweite alliierter Bomber. Die Ölförderung brach ein. Ende August 1944 nahm schließlich die Rote Armee das Gebiet ein. Das Reich suchte inzwischen angestrengt nach Alternativen: synthetischer Treibstoff, Holzvergaser. Alles nur Hilfslösungen, während die Alliierten nun auch die großen Hydrierwerke wie in der sächsisch-anhaltinischen Stadt Leuna zerbombten.
In diesem Endzeitszenario schien der fünfprozentige Bitumenanteil im Ölschiefer am Albtrauf offenbar zunehmend verlockend. Erste Bestrebungen, ihn für Panzerund Flugzeugmotoren nutzbar zu machen, hatte es bereits 1942 gegeben. An der Technischen Hochschule Stuttgart war ein vermeintlich brauchbares Verfahren entwickelt worden. Versuche, dem Schiefer Treibstoff abzugewinnen, führten jedoch zum selben Ergebnis wie in der Vorkriegszeit: lohnt sich nicht.
Aber egal. Im Sommer 1944 wurde die beschauliche Region zwischen Rottweil und Balingen im Zeichen der Ölgewinnung zum Teil der KZ-Wirtschaft. Der Befehl dazu kam von Albert Speer, bekannt als Hitlers Stararchitekt, seinerzeit aber auch recht erfolgreicher Rüstungsminister. Wollte er einfach nach einem Strohhalm greifen, um das Ende des Dritten Reiches hinauszuschieben? Womöglich.
Bollacher spekuliert mit Blick auf seine Meiler-Ausgrabung: „Vielleicht sollte das Glück erzwungen werden, wo bisher nichts gelaufen war. Rentabilität spielte keine Rolle. Als Arbeitskräfte hatte man KZHäftlinge und Kriegsgefangene.“Demnach sollte der dringend benötigte Treibstoff durch einen billigen Großeinsatz gewonnen werden. Sklavenarbeiter waren zu zig Tausenden da. Wenn sie starben, folgten andere.
Barmherzigkeit war nicht vorgesehen – bloß zwölf Stunden Arbeit am Tag. „Dafür bekamen sie am Morgen ein Stück Brot mit etwas Margarine oder Marmelade – falls sie arbeiteten. Diejenigen, die zeitweise nicht arbeiten konnten, bekamen am Morgen nichts. Am Abend, wieder zurück in den Baracken, eine Schüssel Suppe“, hat der Überlebende Otto Gunsberger, ein ungarischer Jude, notiert. Der lothringische Häftling Julian Hagenbourger schrieb nach dem Krieg über das Beladen der Transportloren: „Der nasse und glitschige Schiefer war sehr schlecht hochzuschaufeln. Es passierte laufend, dass die ganze Schaufelladung schon beim Schwung der Schaufel wieder herunterfiel auf die Häftlinge.“
Weitere Zeitzeugenberichte besagen, dass oft sogar Werkzeug fehlte. Dann sei der Ölschiefer mit bloßen Händen ausgegraben worden. „Das muss man sich einmal vorstellen“, sagt Lukas Weiler am Erzinger Meiler. Er ist ein weiteres Mitglied des Forscherteams, kommt von der Uni Tübingen und arbeitet dort als Privatdozent an der Abteilung für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit. Werther bückt sich zu den Ölschiefersplittern hinunter, hebt einen auf, meint: „Die sind extrem scharfkantig.“In der Tat: Ein falscher Griff danach und das Blut läuft. Man mag sich gar nicht vorstellen, wie die Hände der Häftlinge ausgesehen haben.
Und was kam bei der Quälerei heraus? Nichts was die deutsche Kriegsführung brauchen konnte. Bis Kriegsende wurden gerade mal 1500 Tonnen minderwertiges Mineralöl gewonnen. Es war so schlecht, dass damit kein Panzeroder Flugzeugmotor lief. Das Ende der Geschichte des Unternehmens „Wüste“war jedoch noch nicht erreicht.
Als die Alliierten im April 1945 die Region erreichten, trieb die SS viele der verbliebenen Häftlinge in Todesmärschen Richtung Bayern und Vorarlberg. Bemerkenswerterweise blieb aber ein Ölschieferwerk aus dem Umfeld des „Wüste“-Projekts mit abgeänderter Technik noch für Jahre in Betrieb. Die französische Besatzungsmacht hatte es übernommen, betrieb es mit Internierten – bis ihr dämmerte, dass man mit ihnen auf keinen grünen Zweig kommt.
Erzingen wurde hingegen rasch stillgelegt. Einheimische erinnern sich aber daran, dass der Meiler noch über ein Jahr nach Kriegsende vor sich hinschwelte. Nach ihrer Befreiung sollen Häftlinge laut solcher Berichte einige ihrer Peiniger kopfüber in die Häufen gesteckt haben. Später überwucherte die Natur den Schrecken. Am Abend des Ausgrabungstags lässt Projektleiter Bollacher auch das Loch im Meiler wieder schließen. Zum Schluss meint der Denkmalpfleger noch kopfschüttelnd: „Das ganze Unternehmen ,Wüste‘ ist eigentlich gar nicht zu begreifen.“
Christian Bollacher vom , Landesamt für Denkmalpflege
„Das ganze Unternehmen ,Wüste’ ist eigentlich gar nicht zu begreifen.“