Viele Probleme in der Pipeline
Ukrainischer Staatschef Wolodymyr Selenskyj zu Besuch bei Kanzlerin Angela Merkel
- Für Wolodymyr Selenskyj ist es kein Höflichkeitsbesuch. „Zum Glück spürt Europa bisher nicht die Bedrohungen, die der Bau von Nord Stream 2 mit sich bringt“, sagte der ukrainische Staatschef vergangenen Mittwoch auf einer Pressekonferenz in Vilnius zu seinem Termin mit Angela Merkel (CDU) in Berlin. „Wenn Sie sich in Sicherheit fühlen, denken Sie an die Wirtschaft. Wenn bei Ihnen Krieg herrscht, denken Sie vor allem an Menschenleben.“
Morgen wird Selenskyj in der deutschen Hauptstadt erwartet, zu einem Besuch, bei dem die gastgebende Seite die Politik scheinbar eher an den Rand schieben möchte. Um zwölf Uhr empfängt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seinen ukrainischen Kollegen, die Kanzlerin erwartet Selenskyj erst um 19 Uhr - zum Abendessen. Aber der Ukrainer wird die Tischgespräche kaum im Plauderton führen.
Hauptdiskussionspunkt dürfte die kurz vor der Fertigstellung stehende russisch-deutsche Ostseepipeline sein. Merkel bezeichnet sie gern als „rein wirtschaftliches Projekt“, während man sie in der Ukraine als Sicherheitsrisiko betrachtet: Die Russen machen kein Hehl daraus, dass sie Nord Stream 2 bauen, um künftig kein Gas mehr durch das ukrainische Rohrleitungssystem nach Europa pumpen zu müssen. Kiew rechnet mit einem finanziellen Ausfall von drei Milliarden Dollar Transportgebühren. Aber vor allem fürchtet es neue militärische Angriffe Russlands, denen es bisher auch durch einen Transportstopp für das russische Gas Richtung Europa hätte begegnen können. „Alle dürften sich ruhiger fühlen, wenn Nordstream 2 erst gar nicht in Betrieb genommen wird“, sagte Außenminister Dmytro Kuleba unlängst während einer Tagung in Kiew.
Doch nicht allein Kuleba hegt nur noch schwache Hoffnungen auf ein Stopp für Nord Stream 2 im letzten Moment. Dabei glauben viele ukrainischen Beobachter, die Deutschen hätten wegen des umstrittenen Projekts durchaus ein schlechtes Gewissen, der Blogger Oles Donij bezeichnet die Einladung an Selenskyj nach Berlin als „Geste der Entschuldigung.“Und das politische Kiew diskutiert, welche Forderungen der Staatschef in der deutschen Hauptstadt stellen sollte, um die Schäden und Gefahren der neuen Ostseepipeline für die Ukraine zu kompensieren.
„Selenskyj wird Merkel bitten, einer Änderung des Minsker Verhandlungsformates zuzustimmen“, der Politologe Wadim Karassjew verweist gegenüber unserer Zeitung auf den klemmenden Friedensprozess im Donbass-Konflikt. „Außerdem eine Garantie, dass auch weiter russisches Gas durch die Ukraine gepumpt wird, vielleicht auch die Garantie, dass der 2024 auslaufende Transportvertrag mit Gasprom um weitere fünf Jahre verlängert wird.“
Die Ukrainer wünschen sich Berliner Sicherheiten. „Wie kann Deutschland juristisch garantieren“, fragt Michail Podoljak, Berater des ukrainischen Präsidialbüros, gegenüber dem Portal Fokus, „dass unsere Sicherheit nicht durch die deutsche Hilfe für Russland bei der Realisierung von Nord Stream 2 leidet?“
Man erwartet in Kiew ein deutsches Investitionsprogramm, das laut dem Journal „Spiegel“in Deutschland schon diskutiert wird und unter anderem eine Generalüberholung der zum Teil maroden ukrainischen Pipelines sowie gemeinsame Projekte zur Wasserstoffproduktion vorsehen soll. Aber man hofft außerdem auf deutsche Waffenlieferungen, auf mehr deutsche Unterstützung für die ukrainischen Bemühungen zum Nato-Beitritt. Und man wünscht sich eine Teilnahme hochrangiger Politiker Deutschlands an den Veranstaltungen der Krim-Plattform, einer Initiative, mit der Selenskyj die Rückgabe der von Russland annektierten Schwarzmeerhalbinsel wieder auf die internationale Tagesordnung bringen möchte.
Aber kaum jemand in der Ukraine traut den Deutschen noch ohne Einschränkungen. Wie in anderen osteuropäischen Ländern ist man auch in Kiew wenig begeistert vom gemeinsamen, wenn auch vorerst gescheiterten, Vorstoß Merkels und Emmanuel Macrons, wieder EUGipfel mit Wladimir Putin zu veranstalten. Deutschland sei bereit, die faktische Besetzung ukrainischer Gebiete zu ignorieren, um sein Verhältnis mit Russland komfortabler zu gestalten, schimpft Sergei Garmasch, ukrainischer Unterhändler in der Donbass-Kontaktgruppe. „Wir können nicht auf Deutschland und Frankreich als grundsätzliche Befürworter des internationalen Rechts und damit der Souveränität der Ukraine rechnen.“Und viele Kiewer Medien verweisen jetzt darauf, dass nicht nur Merkel nach ihrem Termin mit Selenskyj zu Joe Biden nach Washington reisen wird, sondern auch der ukrainische Staatschef. Wohl auch in der Hoffnung, dass Merkel nicht das letzte Wort zum Thema Ukraine haben wird.