Der „Messias“muss schnell liefern
Auf Neu-Bundestrainer Hansi Flick liegen große Hoffnungen – Er muss die Erkenntnisse der EM richtig deuten
(SID/dpa) - Hansi Flick wird genug haben vom Zuschauerdasein. Natürlich ist ein EM-Finale zwischen Italien und England für einen künftigen Bundestrainer Pflicht, aber im Fernsehsessel kreisen schon die Gedanken. Rund drei Wochen vor seinem Amtsantritt tüftelt Flick an seinem Masterplan, um die tief gefallene Nationalmannschaft wieder zu altem Glanz zu führen. Das Vertrauen in ihn ist dabei so gigantisch wie der Erwartungsdruck.
„Jetzt hat er es relativ leicht, weil er ja kaum Widerstand kriegen wird. Er ist ja der Messias“, sagte Bayern Münchens früherer Präsident Uli Hoeneß am Sonntag im Sport1-Doppelpass: „Wenn er jetzt geschickt ist, kann er viel durchsetzen. Aber wenn man der Messias ist, muss man auch Erfolg haben. Der Druck auf ihn ist ungeheuer groß.“Als Nachfolger von Joachim Löw, der nach 15 Jahren abdankte, sind die Fußstapfen riesig.
Flicks Mission, die offiziell am 1. August beginnt, hat DFB-Direktor Oliver Bierhoff bereits eindringlich umrissen. Dass dem Vorrunden-Aus bei der WM 2018 nun die AchtelfinalNiederlage bei der EM gegen England (0:2) folgte, traf die Verantwortlichen beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) tief. „Ich kann nicht damit zufrieden sein, dass wir Außenseiter sind“, sagte Flicks Chef, DFB-Direktor Oliver Bierhoff, beim Blick in die Zukunft. Er erwartet, dass Fußball made by Hansi Flick nicht erst zur Heim-Europameisterschaft 2024 wieder konkurrenzund titelfähig ist: „Ja, wir wollen zurück an die Weltspitze. Das ist unser erklärtes Ziel“, formulierte der 53 Jahre alte Bierhoff deutlich.
Der Umschwung muss zügig gelingen, auch das machte Bierhoff klar. „Am Ende ist der Auftrag, erfolgreich zu spielen. Dafür wird ihm wenig Zeit gegeben, wir haben im September wieder drei Spiele“, so Bierhoff. Am 2. September gibt Flick sein Debüt in der WM-Qualifikation im Schweizer St. Gallen gegen Liechtenstein – nur 53 Tage nach dem enttäuschenden Aus gegen England, das am 29. Juni das Ende der Löw-Ära markierte.
Flick dürfte bei dieser EM-Endrunde also ganz genau hingeschaut haben. Der neue Bundestrainer muss die internationalen Trends erkennen und entsprechend deuten, um mit Blickrichtung Weltmeisterschaft 2022 in Katar die notwendigen Maßnahmen und Schritte für eine Renaissance Deutschlands als gefürchtete TurnierMannschaft zu ergreifen.
Der bisherige Bayern-Coach hat während der EM beharrlich geschwiegen. „Meine Vorfreude ist riesig“, hatte Flick zuvor bei der Unterschrift unter seinen DFB-Vertrag bis 2024 gesagt. Der 56-Jährige glaubt an das Potenzial, das in Anführern wie Joshua Kimmich und Leon Goretzka oder Youngstern wie Jamal Musiala (18) steckt. „Ich sehe die Klasse der Spieler, gerade auch der jungen Spieler in Deutschland“, sagte er.
„Ich bin mit mir selber im Reinen“, sagte wiederum Löw zum Abschied am Tag nach dem 0:2 gegen England. Danach verschwand der 61-Jährige von der Bildfläche. Löw überlässt die EM-Aufarbeitung exklusiv seinem Nachfolger. „Hansi hat seine eigenen Vorstellungen. Er wird vom ersten Tag an seine Gedanken, seine Ideen einbringen“, sagte Löw. Bierhoff kündigte eine Zäsur an: „Hansi wird die Mannschaft nicht neu erfinden, aber er wird vieles anders machen.“
Das ist auch zwingend erforderlich. In EM-Teamstatistiken belegte das DFB-Team vor dem Endspiel mit den im Halbfinale gescheiterten Spaniern die Spitzenplätze bei Ballbesitz und Passgenauigkeit. Aber das deutsche Spiel litt an Tempo, Esprit, an Gefahr im Strafraum. Besonders auffällig: Erfolgreich waren Mannschaften, die von Nationaltrainern wie Englands Gareth Southgate, Italiens Roberto Mancini, Spaniens Luis Enrique oder Dänemarks Kasper Hjulmand quasi wie Vereinsteams über eine längere Zeit hinweg entwickelt wurden.
Ein roter Faden ist nötig. Flick muss kurzfristig in den noch sieben Länderspielen 2021 das WM-Ticket lösen. Aber er muss vor allem einen klaren personellen Kurs fahren. Seine Lieblingssysteme sind das 4-2-3-1 oder 4-3-3. Sie haben sich beim Gewinn von sieben Vereinstiteln mit dem FC Bayern bewährt – allerdings fehlt in der DFB-Auswahl ein Weltklasse-Stürmer wie Robert Lewandwoski. Flick muss also flexibel sein. Das Duo Kimmich/ Goretzka bietet sich nach dem Rücktritt von Toni Kroos als neues Kraftzentrum im Mittelfeld an. Wie zu hören ist, soll Champions-League-Sieger Kai Havertz (22) der Fixpunkt in der Offensive werden. Löw wechselte Havertz zum Beispiel aus, als dieser gegen Ungarn gerade ein Tor erzielt hatte – einer von einigen Coaching-Fehlern. Flick hätte sich Havertz schon während seiner Bayern-Zeit als Spieler gewünscht. Genauso wie Stürmer Timo Werner, der beim neuen Coach wieder wichtiger werden könnte.
Dass Flick aus München Danny Röhl als Co-Trainer mitbringt, ist ein Hinweis dafür, dass viele Bayern-Erfahrungen ins DFB-Team einfließen sollen. Das könnte für einige Spieler positiv sein, für andere problematisch. Flick setzt – gerade fürs Pressing – auf eine sehr hochstehende Abwehrkette. Das erfordert schnelle Innenverteidiger und spricht nicht gerade für eine DFB-Zukunft von Mats Hummels (32).
Eine Aufklärung zu Hummels, Müller oder Ilkay Gündogan könnte noch dauern. Flick will erst in einigen Wochen seine Vorstellungen als Bundestrainer skizzieren. Und nach dem Bundesligastart Mitte August muss er dann sein erstes Aufgebot für die drei Quali-Partien gegen Liechtenstein, Tabellenführer Armenien und Island benennen.