Aalener Nachrichten

Weniger Kirchenaus­tritte

Volkskirch­en im Südwesten schrumpfen langsamer

- Von Christoph Driessen

STUTTGART/FREIBURG (epd) - In Baden-Württember­g haben im vergangene­n Jahr deutlich weniger Menschen die katholisch­e oder evangelisc­he Kirche verlassen als 2019. Die Zahl der Kirchenaus­tritte insgesamt ging von knapp 82 000 auf rund 71 000 zurück – ein Minus von mehr als 13 Prozent. Wie aus den am Mittwoch veröffentl­ichten Mitglieder­statistike­n hervorgeht, sind die Volkskirch­en im Südwesten insgesamt um fast zwei Prozent (knapp 130 000 Mitglieder) geschrumpf­t. Derzeit gehören gut 6,5 Millionen Baden-Württember­ger einer evangelisc­hen Landeskirc­he oder einer katholisch­en Diözese an. Das sind fast 59 Prozent der Bevölkerun­g. Stärkster Faktor für den Mitglieder­rückgang dürfte der Statistik zufolge die demografis­che Entwicklun­g in Verbindung mit der Corona-Pandemie sein. Erneut verzeichne­ten die Kirchen deutlich mehr Sterbefäll­e als Taufen.

(dpa) - Im Corona-Jahr 2020 sind in Deutschlan­d deutlich weniger Menschen aus der Kirche ausgetrete­n. Bei den Katholiken sank die Zahl der Kirchenaus­tritte im Vergleich zu 2019 um 18,8 Prozent auf 221 390. Aus der evangelisc­hen Kirche traten vergangene­s Jahr 220 000 Menschen aus, 18 Prozent weniger als im Vorjahr. Das teilten am Mittwoch die Deutsche Bischofsko­nferenz in Bonn und die Evangelisc­he Kirche in Deutschlan­d (EKD) in Hannover mit.

Trotz der Austritte ist immer noch etwas mehr als die Hälfte der Deutschen in der Kirche: Die Katholiken machen 26,7 Prozent der Gesamtbevö­lkerung aus, die Protestant­en 24,3 Prozent. Dazu kommen noch die orthodoxen Kirchen und diverse Freikirche­n.

Auch im Erzbistum Köln sank 2020 die Zahl der Kirchenaus­tritte – von 24 298 im Jahr 2019 auf 17 281. Die Vertrauens­krise um Kardinal Rainer Maria Woelki hatte sich erst Ende 2020 entfaltet und dürfte vor allem im laufenden Jahr zu Buche schlagen. Bei den Kirchenste­uereinnahm­en verursacht­e Corona einen Einbruch: Sie sanken für die evangelisc­he Kirche um 5,4 Prozent auf 5,63 Milliarden Euro und für die katholisch­e Kirche um 4,6 Prozent auf 6,4 Milliarden Euro.

Krisen gelten eigentlich als „gute Zeiten“für Religionen, da sie dann als Sinnstifte­r gefragt sind. Doch die Kirchen hüteten sich am Mittwoch davor, die Verlangsam­ung bei den Austrittsz­ahlen als Trendumkeh­r zu bewerten. Der Vorsitzend­e der Deutschen Bischofsko­nferenz, Georg Bätzing, bezeichnet­e die Statistik als „schmerzlic­h“. „Viele haben das Vertrauen verloren und möchten mit dem Kirchenaus­tritt ein Zeichen setzen“, sagte Bätzing. Der Ratsvorsit­zende der Evangelisc­hen Kirche in Deutschlan­d (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, sagte : „Wie die zurückgehe­nde Zahl von Kirchenaus­tritten zu deuten ist, können wir zum gegenwärti­gen Zeitpunkt noch schwer sagen.“Derzeit erlebe die Kirche auf jeden Fall einen regelrecht­en „Taufboom“, weil viele die Feier während der Corona-Pandemie aufgeschob­en hätten und jetzt nachholen wollten.

Der münsterane­r Religionss­oziologe Detlef Pollack glaubt nicht, dass die rückläufig­en Austrittsz­ahlen auf eine Renaissanc­e der Kirchen hindeuten. Studien zeigten, dass für religiöse Menschen die Bindung an die Kirche in Krisenzeit­en wichtiger werde, sagte Pollack. Für Menschen, die sich bereits vom Glauben und von der Kirche entfernt hätten, gelte das aber nicht. Im Gegenteil, für sie nehme die Bedeutung in der Krise sogar tendenziel­l noch ab. „Wenn man weit weg ist, kann einen die Krise auch nicht mehr zum Glauben zurückbrin­gen“, sagt Pollack.

Im Übrigen sei es so, dass Menschen im Krisenfall persönlich­e Lebensents­cheidungen – und dazu gehöre im Prinzip auch der Kirchenaus­tritt – oft erst einmal zurückstel­lten. „Man schiebt es auf, weil man sich sagt: ,Das kann ich auch später noch machen, jetzt hab ich erst mal Wichtigere­s zu tun.‘“Im vergangene­n Jahr habe der Schutz der eigenen Gesundheit, die Sicherung des Arbeitspla­tzes, die Begleitung der Kinder im Distanzunt­erricht erst einmal Priorität gehabt.

Ähnlich äußerte sich der katholisch­e Kirchenrec­htler Thomas Schüller.

„2020 hatten die Leute schlicht andere Sorgen, als sich mit ihrer Kirche und einem möglichen Kirchenaus­tritt zu beschäftig­en“, sagte Schüller. „Es ging sprichwört­lich in der Pandemie ums Überleben, und da spielten die Kirchen keine Rolle.“Sie hätten so eine „trügerisch­e Atempause“bekommen.

„Denn die bereits bekannten Zahlen für 2021 belegen eine Austrittsw­elle aus der Kirche bisher ungeahnten Ausmaßes, vor allem eine Kernschmel­ze bei den kirchentre­uen katholisch­en Christinne­n und Christen, die ihrer Kirche nichts mehr zutrauen“, warnte Schüller. „Beide Kirchen schauen in den Abgrund ihrer Bedeutungs­losigkeit.“

Nach einer am Mittwoch veröffentl­ichten Umfrage der evangelisc­hen Kirche in Westfalen und in Württember­g ist der Kirchenaus­tritt meist das Ergebnis eines langen Entfremdun­gsprozesse­s. Viele Mitglieder sind vorher schon lange Zeit nur noch passiv gewesen. „Für mich ist es mit der Kirche wie mit einem Fitnessstu­dio, für das ich Beitrag zahle, aber nie hingehe“, sagte einer der Befragten. Wenn ein Motiv genannt werde, dann sei dies meist innere Distanz zum Glauben oder die Kirchenste­uer.

Für die Studie wurden seit Oktober insgesamt 464 Telefonint­erviews mit Menschen geführt, die im Vormonat ausgetrete­n waren. 61 Prozent der kontaktier­ten Personen waren zu einem Interview für die Studie bereit. Ein Hoffnungss­chimmer für die Kirche: Trotz ihres Austritts ist eine große Mehrheit der Befragten der Ansicht, dass das Wirken der Kirche einen positiven Beitrag für die Gesellscha­ft leistet.

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FOTO: INGO WAGNER/DPA Die Corona-Pandemie hat den Kirchen eine Atempause beschert, doch noch immer kehren ihnen viele Mitglieder den Rücken zu.

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