Schmerzen kann man aushalten
Kunsthalle Tübingen stellt mit Marina Abramovic eine aufregende Künstlerin vor
Fast hätte er sie umgebracht. Es wäre ein tragischer Liebestod wie in der Oper gewesen: der Pfeil direkt im Herz. Aber Marina Abramovic und Ulay lassen die Muskeln spielen, sie zittern bereits wegen der enormen Kraftanstrengung. 1980 griffen die beiden bei einer Performance zu Pfeil und Bogen. Sie hielt den Bogen, er den Pfeil – und hätte einer losgelassen, hätte Marina Abramovic nicht mehr erlebt, wie sie eine der aufregendsten und erfolgreichsten Künstlerinnen der Welt wurde.
Nun aber war sie fidel und höchstpersönlich in Tübingen und hat dort gemeinsam mit Nicole Fritz, der Direktorin der Kunsthalle, eine höchst sehenswerte Ausstellung entwickelt. „Jenes Selbst/Unser Selbst“zeichnet mit Videos und sogar einer begehbaren 3D-Simulation die Stationen ihres Werkes und Lebenswegs nach, der von vielen Schmerzen gezeichnet war. Die Klagelaute hallen sogar durch die Ausstellungsräume – in einer Videoarbeit sieht man die Künstlerin, wie sie sich selbst auspeitscht, bis das Blut vom Rücken tropft.
Immer wieder hat sich Marina Abramovic in ihren Performances Schmerzen zugefügt. Sie ritzte und verbrannte sich, tanzte in Ekstase bis zum Zusammenbruch. Einmal wäre sie vom Publikum, dem sie ihren Körper überlassen hatte, sogar beinahe erschossen worden. Sie tat das nie, weil sie masochistisch ist. Im Gegenteil. Ihre Performances waren der Versuch, sich zu beweisen, dass man Schmerzen ertragen kann. Sie brachte sich körperlich wie geistig in Extremsituationen, um dem Publikum vor Augen zu führen, wovor wir Menschen uns am meisten fürchten: Schmerz und Tod.
So stockt einem auch heute noch der Atem, wenn sie in einer Videoarbeit unbeweglich auf dem Stuhl sitzt und stoisch erduldet, wie sich zwei armdicke Schlangen um ihren Körper schlingen und zischelnd ihr Gesicht ins Visier nehmen. Aber auch in den frühen Arbeiten mit Ulay (19432020), einem deutschen Künstler, sind die Motive angelegt, die sie später weiterverfolgte. Zwölf Jahre waren die beiden ein Paar, in einem Bus reisten sie durch die Welt und lebten in völliger Symbiose. Die Arbeiten dieser Zeit hinterfragen oft ihre Beziehung und erzählen davon, wie sehr man sich einander ausliefern und vertrauen darf.
Als die Beziehung auseinanderbrach, stürzte Abramovic in eine schwere Krise. Aber ihr gelang der künstlerische Neubeginn. Die Tübinger Ausstellung zeigt eindrucksvoll, wie stark sie sich in all den Jahren weiterentwickelt hat und anfing, auch psychisch an Grenzen zu gehen und in mitunter quälenden Achtsamkeitsritualen ihren Geist zu domestizieren. Letztlich geht es immer darum, Kontrolle über sich zu erlangen und frei zu werden. „Cleaning the house“nannte sie denn auch eine Übung, bei der ihre Studierenden fünf Tage lang üben mussten, ohne Essen, Zigaretten, Alkohol, Bücher, ohne zu malen oder zu schreiben, sich selbst aushalten.
Heute ist Marina Abramovic ein Weltstar. Oft kommen Hunderttausende zu ihren Ausstellungen und Aktionen. Es war wohl auch Glück dabei, dass die Konzentrationsübungen, die ihre Performances letztlich immer auch waren, heute in unserer reizüberfluteten Zeiten ganz neue Aktualität erhalten. In Tübingen macht die 74-Jährige zwar keine Performance, aber lehrt das Publikum doch, loszulassen: In einer MixedReality-Installation taucht sie virtuell auf. Wie ein Geistwesen aus höheren Sphären animiert sie mit minimalen Gesten wie bei Exerzitien, sich auf den eigenen Geist zu besinnen.
Damit ist Abramovic, die sich heute gern auch als eine Art Weihepriesterin inszeniert und in einer VideoInstallation sogar in die Rolle einer Heiligen schlüpft, endgültig unsterblich geworden. Und sie hat ihren Frieden mit sich und der Welt gemacht. 1946 wurde sie in Belgrad geboren, ihre Eltern hatten hohe Posten im serbischen Militär. Es muss eine unterkühlte Kindheit gewesen sein. Deshalb ist Abramovic später immer wieder bewusst durch die Hölle gegangen – und letztlich geläutert daraus hervorgegangen.
Schon in frühen Jahren waren Abramovic und Ulay mehrfach in Tübingen. Ein Video erinnert an eine Performance, die 1975 in der Galerie Ingrid Dacic stattfand und bei der Abramovic die ersten Versuche unternahm, sich zu befreien von der Vergangenheit in Serbien, allerdings durchaus ironisch. So sagte sie in 50 Minuten frei assoziierend, was ihr gerade in den Sinn kam „Eishockey, Rugby, König Nikola, Museum der Revolution, Kruzifix, Cevapcici …“
Dauer: bis 13. Februar, Öffnungszeiten: Di., Mi., Fr.-So. 11-18 Uhr, Do. 11-19 Uhr. Mehr unter www.kunsthalle-tuebingen.de