Wo wieder Bier fließt und Leben eingekehrt ist
Die Allgäuer Genussmanufaktur in Urlau bei Leutkirch bietet regionale Produkte und einheimisches Handwerk unter einem Dach
Eine Manufaktur (von lateinisch manus „Hand“, und facere „machen, herstellen“) ist ein Ort, an dem Handwerker ihrer Profession nachgehen und Waren noch selbst herstellen. Kommt außerdem das Wort „Genuss“hinzu, verheißt das Sinn für Tradition und Qualität. So dachte der Leutkircher Christian Skrodzki und ersann 2017 die Idee der Allgäuer Genussmanufaktur. Zwei Jahre später öffnete sie in dem 700-Seelen-Dorf Urlau bei Leutkirch ihre Pforten. Besucher können auf fast 900 Quadratmetern bummeln, einheimisches Handwerk begutachten sowie regionale Produkte erwerben und genießen.
18 Betriebe geben in dem alten Backsteingebäude auf drei Stockwerken Einblicke in ihre Kunst. Es wird gebacken, getöpfert, gewebt, gebraut, gebrannt. „Kinder können sehen, dass Lebensmittel wie Brezeln noch von Hand gemacht werden und nicht nur im Supermarkt aus Automaten kommen“, sagt Skrodzki. Ein Käseveredler offeriert seine Produkte ebenso wie eine Bio-Ölmühle, eine Kachelofenmanufaktur, eine Goldschmiedin, eine Handweberin und ein Hersteller von Schnupftabak.
Die Schäfereigenossenschaft Finkhof aus Arnach präsentiert ihre Waren aus Schafwolle, die Allgäuer Alphornakademie bietet Musikkurse an, die Nähstube Fadenzauber gibt Einblicke in die Kunst des Nähens. Susann Maurus fertigt vor Ort nachhaltige Bienenwachstücher als
Verpackungsmaterial für Lebensmittel. Das gesamte Erdgeschoss beherbergt die Kaffeerösterei sowie den Dorfladen mit vielen lokalen und regionalen Dingen – beides selbstverständlich mit Einkehrmöglichkeit.
Zur Vorgeschichte: Bereits 1997 hatte Skrodzki die Idee, den imposanten, aber völlig maroden Bahnhof in Leutkirch der Deutschen Bahn abzukaufen und einer öffentlichen Nutzung
zur Verfügung zu stellen. Nach zahlreichen Umwegen gelang das gewagte Vorhaben. 15 Jahre später wurde der Bürgerbahnhof feierlich eröffnet – mit einer großen Gastronomie und eigener Brauerei, Büroräumen sowie einem Bürgersaal im obersten Stockwerk.
Skrodzki und seine Mitstreiter hatten zuvor 707 Leutkircherinnen und Leutkircher überzeugen können, 1111 Anteile zu je 1000 Euro zu kaufen. Mit dem eingezahlten Geld konnte die neu gegründete Genossenschaft den Bahnhof grundlegend sanieren. Die gelungene Gemeinschaftsaktion heimste bundesweit zahlreiche Preise ein.
Weil das Projekt so erfolgreich war, recycelte der 54-Jährige die Idee. Bei der Urlauer Genussmanufaktur sind es bis heute über 950 Genossinnen
und Genossen, die Anteile gelöst haben und damit den Erhalt sichern. Das historische Brauereigebäude aus dem Jahr 1904 war zuletzt nur noch als Produktionsstätte und Lagerhaus sowie als Wohnung genutzt worden. Der letzte Liter Bier wurde hier 1929 gebraut. Ein Antiquar hatte in den Räumen früher rund 40 000 Bücher und Zeitschriften aufbewahrt. Nach einer intensiven Umbau- und Renovierungsphase
öffneten sich im September 2019 die Tore des Heimatprojekts. 90 Jahre nach dem letzten Sud fließt wieder Bier durch die glänzenden Braukessel. „Was wir hier haben, ist 100 Prozent Allgäu-Oberschwaben“, sagt Skrodzki, „Nur regionale Produzenten unter einem Dach, das ist einzigartig.“Man verstehe sich als „Einkaufscenter 4.0“, so der Mitinhaber einer Werbeagentur.
Auch die inzwischen „weißer Saal“genannte Bibliothek ist neu hergerichtet; 15 000 ausgewählte Bände stehen wieder bis unter die Decke des großzügigen, meterhohen Raumes, der auch für Veranstaltungen eingesetzt werden kann.
Wem das alles noch nicht genug ist, der kann nach einem kleinen Spaziergang durch das Dorf vorbei an Pfarrhaus und Kirche auch noch eine Einkehr im historischen Gasthof „Hirsch“machen. Diese Wirtschaft stand 27 Jahre lang leer und wurde 2013 nach einer grundlegenden Sanierung neu eröffnet. Auch das ist ein Projekt des findigen Allgäuers Christian Skrodzki und seiner Freunde – und wieder eine ganz andere Geschichte.
Öffnungszeiten Genussmanufaktur: Dienstag bis Sonntag von zehn bis 17 Uhr. Der Dorfladen und die Bäckerei öffnen samstags und sonntags bereits um neun Uhr. Eintrit: drei Euro; dienstags Eintritt frei. Weitere Informationen zu Öffnungszeiten und Führungen gibt es unter www.allgaeuer-genussmanufaktur.de Die Beiträge dieser Serie finden Sie auch unter www.schwäbische.de/sommerzeit