Bernar Venet
Ausstellung „Reliefs“in der Städtischen Galerie Tuttlingen
- Eine Linie verbindet zwei Punkte, manchmal gerade, manchmal krumm. Wie das Leben so bestehen die Skulpturen von Bernar Venet aus Kurven, Drehungen, Geraden, manchmal Winkeln. Jetzt zeigt die Galerie der Stadt Tuttlingen eine Retrospektive des französischen Künstlers: „Reliefs“, also dreidimensionale Linien. Zur Eröffnung kam der 80-jährige, nach wie vor jungenhaft wirkende Bildhauer in die Donaustadt, um die Installation seiner Werke zu überwachen und zu begleiten.
Drei Etagen, drei Werkgruppen. Im Untergeschoss sind es Arbeiten aus vorgefundenem Karton, monochrom bemalt, aus den frühen 1960er-Jahren, als Venet seine Karriere in Angriff nahm. Im Erdgeschoss dann Linien aus Stahl, die die Galerie einer statischen Belastungsprobe unterziehen, bis zu einer Tonne schwer. Und im Obergeschoss dann weitere Linien, diesmal aber aus Holz. Bögen, Halbkreise, Geraden, unbestimmte Linien mit wilden Verläufen.
Bernar Venet, geboren 1941 in Château Arnoux Saint-Auban im Département Alpes-de-HauteProvence, hat früh zur Kunst gefunden. Eine Krankheit ebnet ihm den Weg: Der junge Schüler leidet an Asthma, muss viel Zeit daheim verbringen und trifft als Zehnjähriger auf einen örtlichen Künstler, der ihn anregt, zu zeichnen und zu malen. Eine erste Aufnahmeprüfung an einer Akademie besteht er ein paar Jahre später nicht, doch nach und nach macht er seinen Weg.
Zu seinen ersten Materialien gehören Pappkartons, teils gefaltet, mit Farbe oder mit Teer bemalt, manchmal sogar mittels einer Dampfwalze. An Verdienst ist noch nicht zu denken, hin und wieder muss er sich seine Farbe stehlen, erinnert er sich beim Gespräch in Tuttlingen an seine ersten Jahre als Künstler. Seinen Durchbruch schafft er in Deutschland bei Ausstellungen in Düsseldorf, wo er, selbst noch völlig unbekannt, auf Leute wie Christo und Joseph Beuys trifft. Der Direktor des Kaiser-Wilhelm-Museums in Krefeld, Paul Wember, gehört zu seinen frühesten Förderern und erwirbt zwei Werke.
Danach ist der Weg bereitet. Und nicht nur ein Weg; Venet wird ein vielseitiger Künstler, der malt, Performances veranstaltet, Ballette konzipiert, sich theoretisch mit Kunst beschäftigt. Selbst eine Brücke hat er entworfen. An der Sorbonne lehrt er Kunst und Kunsttheorie. Wichtig wird die Konfrontation mit den Strömungen in den USA, mit dem Minimalismus eines Sol LeWitt oder dem Spiel mit geometrischen Formen eines Frank Stella etwa. Folgerichtig zieht er bereits 1966 nach New York, eine Verbindung, die bis ins vergangene Jahr hält, als er aus den USA nach Frankreich zurückkehrt.
Die Tuttlinger Retrospektive ist eine der ersten Ausstellungen nach dieser Rückkehr; der Künstler hat die Auswahl mit den Werken aus seinem Atelier persönlich vorgenommen und ihren Aufbau überwacht. Eigentlich hätte sie bereits 2020 stattfinden sollen, wurde aber pandemiebedingt verschoben. Heute lebt Bernar Venet in Le Muy in der Provence, wo er einen großen Skulpturenpark in seinem Garten eingerichtet hat. Dort arbeitet er in seinem Atelier und stellt mittlerweile auch seine eigene Sammlung von Künstlerfreunden wie Dan Flavin aus. Er sieht freundlich aus, doch er hat einen radikalen Blick auf sein Tun und legt an sich selbst eine hohe Messlatte: „Es ist nicht Kunst, wenn es nicht unser Verständnis von Kunst verändert“, steht auf einem Panel in der Tuttlinger Schau.
Venets Werke stehen in den Metropolen dieser Welt, in Paris natürlich, in Hongkong, New York. Eines der bekanntesten seit 1987 in Berlin, ein Geschenk Frankreichs zur 750Jahr-Feier der Hauptstadt. Er ist Träger zahlreicher Auszeichnungen, Ritter der französischen Ehrenlegion, war Teilnehmer der documenta. Wie kommt solch ein Schwergewicht der Szene ins kleine Tuttlingen? Über eine gut vernetzte Kuratorin. Die Leiterin der Galerie der Stadt, Anna-Maria EhrmannSchindlbeck, hat schon vor Jahren bei Aufenthalten in den USA Frank Stella kennengelernt und später mit dem großen Maler und Objektkünstler zwei Ausstellungen in Tuttlingen veranstaltet; Kontakte zahlen sich aus. Stella wiederum ist befreundet mit Venet – voilà!
Jetzt beeindrucken seine Wandobjekte in der Galerie und tragen selbst dort eine Spur der Monumentalität in sich, die seine großen Plastiken im öffentlichen Raum auszeichnet.
Venet arbeitet nach mathematischen Prinzipien, vereint Raum, Zeit und Bewegung in seinem Ouevre.
Ausgangspunkt ist stets die Linie, manchmal in Holz, manchmal in Stahl, schwer und doch leicht. Eines seiner größten Objekte aus Le Muy hat dann allerdings doch nicht den Weg nach Tuttlingen geschafft – verschachtelte Linien aus Stahl. Mit einem Gesamtgewicht von 150 Tonnen.
Öffnungszeiten: Di.-So. 11-18 Uhr, es gelten die 3G-Regeln. Mehr auf
Zur Ausstellung ist ein umfangreicher Katalog in englischer Sprache erschienen, Preis: 30 Euro. Mehr zu Bernar Venets Skulpturenpark in Le Muy auf