Erste Evakuierte zurück in Deutschland
Rettungsmission aus Kabul angelaufen – Bundesregierung setzt Entwicklungshilfe aus
BERLIN/KABUL (dpa/AFP) - Die ersten Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Kabul sind nach ihrer Evakuierung aus Afghanistan zurück in Deutschland. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur landeten sie am Dienstagnachmittag mit einer Linienmaschine auf dem Berliner Flughafen Schönefeld. In der Nacht zu Montag waren sie unter den ersten 40 deutschen Staatsbürgern, die mit einem US-Flugzeug nach Doha im Golfemirat Katar ausgeflogen worden waren.
Inzwischen läuft auch eine Bundeswehrmission zur Evakuierung deutscher Staatsbürger sowie afghanischer Ortskräfte von Bundeswehr, Bundesministerien und Hilfsorganisationen. Ein Transportflugzeug der Bundeswehr brachte am Dienstag 125 Menschen in die usbekische Hauptstadt Taschkent. Die rasche Evakuierung war nötig geworden, nachdem die Taliban die Macht im Land übernommen hatten.
Die Bundesregierung entschied unterdessen, sowohl die Entwicklungshilfe als auch alle anderen staatlichen Zahlungen an Afghanistan auszusetzen, wie Außenminister Heiko Maas (SPD) nach einer Sitzung
des Krisenstabes sagte – insgesamt 430 Millionen Euro allein für dieses Jahr. Man wolle sich zunächst die weitere Entwicklung ansehen. Afghanistan war bisher die Nummer eins unter den Empfängerländern deutscher Entwicklungshilfe.
Die Rückkehr der Taliban an die Macht wird nach Ansicht der Bundesregierung eine Fluchtbewegung aus dem Land auslösen. Mit Blick auf Forderungen, Deutschland solle Flüchtlingskontingente aufnehmen, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU): „Bevor man über Kontingente spricht, muss man erst mal über sichere Möglichkeiten für Flüchtlinge in der Nachbarschaft von Afghanistan reden.“„Dann kann man in einem zweiten Schritt darüber nachdenken, ob besonders betroffene Personen kontrolliert und auch unterstützt nach Europa und in die europäischen Länder kommen.“
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zeigte sich besorgt über die Entwicklung: „Wir erleben in diesen Tagen eine menschliche Tragödie, für die wir Mitverantwortung tragen, und eine politische Zäsur, die uns erschüttert und die Welt verändern wird.“
BERLIN - Die Rettungsmission der Bundeswehr in Afghanistan ist angelaufen, aber die Lage ist unübersichtlich und gefährlich. Vermutlich können viel weniger Menschen ausgeflogen werden als eigentlich geplant.
Wie läuft die Evakuierung? ●
Am Dienstagmittag landete in Kabul ein zweiter Militärtransporter A400M der Bundeswehr und hob mit mehr als 120 Menschen an Bord wieder Richtung Usbekistan ab. Weitere Flüge wurden vorbereitet. Am Vorabend war der erste deutsche Militär-Airbus eingetroffen und hatte erste Bundeswehrsoldaten abgesetzt, nahm allerdings nur sieben Menschen für den Rückflug an Bord. Begründet wurde dies mit chaotischen Zuständen am Flughafen Kabul und der nächtlichen Ausgangssperre. Geplant ist nach Angaben von Ministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) nun, mit zwei Maschinen im Pendelverkehr zwischen Kabul und Taschkent zu fliegen. Die Bundeswehr arbeitet mit zwei Szenarien: entweder nur eine „sehr kurze“Zeit für die Evakuierung zu haben – oder womöglich bis in die nächste Woche hinein eine Luftbrücke aufbauen zu können.
Wer wird evakuiert? ●
„Wir nehmen alles mit, was vom Platz her in unsere Flugzeuge passt", sagt Kramp-Karrenbauer. Aber im Moment können offenbar nur Menschen mit internationalen Pässen den Flughafen erreichen. Wie Generalinspekteur Eberhard Zorn berichtet, haben die Taliban Kabul weitgehend unter Kontrolle und lassen nur ausländische Staatsangehörige zum Flughafen. Das bedeutet, dass Ortskräfte, Menschenrechtler, Frauen und andere Afghanen, denen die Bundesregierung auch Hilfe zugesagt hatte, derzeit keine Chance haben. Das gilt erst recht für Gefährdete, die sich außerhalb der Hauptstadt zum Beispiel im Norden des Landes befinden, wo die Bundeswehr bis vor wenigen Wochen stationiert war.
Warum die A400M? ●
Die noch relativ neuen Transportflieger der Bundeswehr können offiziell knapp 130 Menschen mit an Bord nehmen. Die Maschinen können in großer Höhe und vollgeladen über 3000 Kilometer weit fliegen. Sie sind eingeschränkt gegen Beschuss geschützt, unter anderem können sie infrarotgesteuerte Luftabwehrraketen mit dem Abfeuern von Täuschungskörpern ablenken.
War die Idee des Neuaufbaus des afghanischen Staates falsch?
Es ist sowieso schon extrem schwierig, auf ein besonderes Land wie Afghanistan – aufgrund seiner geografischen und kulturellen Gegebenheiten und ohne eine Tradition staatlicher Zentralisierung – von außen Einfluss zu nehmen. Noch schwieriger wird es, wenn es bewaffneten Widerstand gibt, der ja in den vergangenen Jahren noch zugenommen hat. Außerdem ist es nie gelungen, eine Verwaltung aufzubauen, die sich über das ganze Land erstreckt hätte, was aber eine wichtige Voraussetzung ist, ein Land zu einen. Diese Regierung hat nie eine hohe Legitimität genossen. Es gab ein hohes Ausmaß an Korruption, eine Bevorzugung eigener Gruppen und wenig Gemeinwohlorientierung. Hinzu kommt, dass man vor dem Abzug keine Friedenslösung erreicht hat. Das ist der politisch größte Fehler der Amerikaner und aller Verbündeten.
Der Versuch der Amerikaner, nach
einem Krieg in einem Land von außen eine neue staatliche Struktur zu errichten, hat vor 75 Jahren in Westdeutschland ganz gut funktioniert. Fallen Ihnen seitdem weitere erfolgreiche Beispiele ein? Das deutsche Beispiel hat sich unter sehr besonderen historischen Bedingungen vollzogen. Und Deutschland hatte ganz andere ökonomische Bedingungen als viele andere Länder, über die wir heute reden, die zum Beispiel von kolonialer Fremdherrschaft oder einer langen Geschichte der Gewalt betroffen waren. Wenn man Stabilität und eine Abkehr von der Gewalt zum Maßstab nimmt, fallen mir Beispiele wie Kosovo, Namibia, Sierra Leone oder Osttimor ein. Nicht zufällig sind das allerdings deutlich kleinere Länder als Afghanistan. Größe spielt hier durchaus eine Rolle.
Hat sich die Idee des Nation Building denn überlebt?
Die Euphorie aus den 1990er-Jahren gibt es nicht mehr, als viele dachten, man könne Staaten von außen demokratisieren. Heute liegt der Schwerpunkt der Außenpolitik eher auf Stabilisierung.
Kanzlerin Angela Merkel hat mit Blick auf Afghanistan davon gesprochen, „die Ziele bei solchen Einsätzen auch kleiner fassen“zu wollen. Wie könnte das aussehen? Damit solche externen Missionen in einen nachhaltigen Frieden münden, ist es zunächst einmal wichtig, die Kriegsparteien zu entwaffnen und ein Gewaltmonopol des Staates zu errichten, das von allen akzeptiert wird. Das hat es in Afghanistan zu keinem Zeitpunkt gegeben. Außerdem muss es einen Friedensschluss und eine politische Integration geben, die sicherstellt, dass keine Gruppen von politischen Prozessen ausgeschlossen werden. Letztlich müssen alle Bevölkerungsteile von wirtschaftlicher Entwicklung profitieren können. Der Staat muss, auch mit internationaler Hilfe, allen Gruppen Zugang zu öffentlichen Gütern wie Bildung und Gesundheit garantieren.
Was sollen die Bundeswehr-Soldaten vor Ort leisten?
Am Mittwoch will das Kabinett das Evakuierungsmandat für bis zu 600 Soldaten beschließen. Damit wäre das deutsche Kontingent nach den USA und Großbritannien eines der größten. Nach Angaben von KrampKarrenbauer haben die bereits eingetroffenen Soldaten am Flughafen Kabul Stellung bezogen, um die Rettungsflüge abzusichern. Ihre wichtigste Aufgabe sei es, „diejenigen, die abfliegen, zum Flugzeug zu bringen. Dazu brauchen wir eigene Kräfte." Wie lange die Mission dauern wird, ist offen.
Wie viele Menschen fliehen gegenwärtig aus Afghanistan?
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) schätzt die Zahl der fliehenden Afghanen auf etwa 30 000 pro Woche. „Aber diese Zahl kann schwanken, da die Flucht oft erschwert ist, zum Beispiel für Frauen, die das Haus nicht alleine verlassen dürfen“, erklärt Victoria Rietig von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Die meisten Afghanen fliehen ihren Angaben zufolge zunächst in die Nachbarländer, vor allem nach Pakistan und in den Iran. Denn dort leben bereits viele Afghanen – etwa drei Millionen in Pakistan und eine knappe Million im Iran.
Wie kann geholfen werden? ●
„Hilfen für die direkten Nachbarländer vor Ort, also vor allem für Pakistan und Iran, sind jetzt ein essenzielles Puzzleteil der Lösung“, betont Rietig. „Deutschland, Europa und auch die USA sollten gemeinsam Gespräche mit diesen Ländern führen und Anreize geben, damit diese Nachbarländer die Menschen erst einmal versorgen, so gut es geht.“Auch Deutschland könne einen Beitrag leisten. Zum einen könne es besonders schutzbedürftige Afghanen und ihre Familien evakuieren, etwa Menschenrechtlerinnen. Zudem könnte eine zeitweise Lockerung des Familiennachzugs für Afghanen den Anreiz für irreguläre Migration senken, sagt sie. „Drittens sollte Deutschland für weitere mögliche Flüchtlingsströme in die Türkei planen“, betont Rietig. Zurzeit gilt die EU-Türkei-Erklärung von 2016 nicht für Afghanen. „Sie sollte ausgeweitet werden, so dass auch sie in der Türkei temporären Schutz bekommen können.“Bereits jetzt lebten mehr als hunderttausend Afghanen dort.
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