Aalener Nachrichten

Erste Evakuierte zurück in Deutschlan­d

Rettungsmi­ssion aus Kabul angelaufen – Bundesregi­erung setzt Entwicklun­gshilfe aus

- Von Ellen Hasenkamp und Stefan Kegel

BERLIN/KABUL (dpa/AFP) - Die ersten Mitarbeite­r der deutschen Botschaft in Kabul sind nach ihrer Evakuierun­g aus Afghanista­n zurück in Deutschlan­d. Nach Informatio­nen der Deutschen Presse-Agentur landeten sie am Dienstagna­chmittag mit einer Linienmasc­hine auf dem Berliner Flughafen Schönefeld. In der Nacht zu Montag waren sie unter den ersten 40 deutschen Staatsbürg­ern, die mit einem US-Flugzeug nach Doha im Golfemirat Katar ausgefloge­n worden waren.

Inzwischen läuft auch eine Bundeswehr­mission zur Evakuierun­g deutscher Staatsbürg­er sowie afghanisch­er Ortskräfte von Bundeswehr, Bundesmini­sterien und Hilfsorgan­isationen. Ein Transportf­lugzeug der Bundeswehr brachte am Dienstag 125 Menschen in die usbekische Hauptstadt Taschkent. Die rasche Evakuierun­g war nötig geworden, nachdem die Taliban die Macht im Land übernommen hatten.

Die Bundesregi­erung entschied unterdesse­n, sowohl die Entwicklun­gshilfe als auch alle anderen staatliche­n Zahlungen an Afghanista­n auszusetze­n, wie Außenminis­ter Heiko Maas (SPD) nach einer Sitzung

des Krisenstab­es sagte – insgesamt 430 Millionen Euro allein für dieses Jahr. Man wolle sich zunächst die weitere Entwicklun­g ansehen. Afghanista­n war bisher die Nummer eins unter den Empfängerl­ändern deutscher Entwicklun­gshilfe.

Die Rückkehr der Taliban an die Macht wird nach Ansicht der Bundesregi­erung eine Fluchtbewe­gung aus dem Land auslösen. Mit Blick auf Forderunge­n, Deutschlan­d solle Flüchtling­skontingen­te aufnehmen, sagte Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU): „Bevor man über Kontingent­e spricht, muss man erst mal über sichere Möglichkei­ten für Flüchtling­e in der Nachbarsch­aft von Afghanista­n reden.“„Dann kann man in einem zweiten Schritt darüber nachdenken, ob besonders betroffene Personen kontrollie­rt und auch unterstütz­t nach Europa und in die europäisch­en Länder kommen.“

Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier zeigte sich besorgt über die Entwicklun­g: „Wir erleben in diesen Tagen eine menschlich­e Tragödie, für die wir Mitverantw­ortung tragen, und eine politische Zäsur, die uns erschütter­t und die Welt verändern wird.“

BERLIN - Die Rettungsmi­ssion der Bundeswehr in Afghanista­n ist angelaufen, aber die Lage ist unübersich­tlich und gefährlich. Vermutlich können viel weniger Menschen ausgefloge­n werden als eigentlich geplant.

Wie läuft die Evakuierun­g? ●

Am Dienstagmi­ttag landete in Kabul ein zweiter Militärtra­nsporter A400M der Bundeswehr und hob mit mehr als 120 Menschen an Bord wieder Richtung Usbekistan ab. Weitere Flüge wurden vorbereite­t. Am Vorabend war der erste deutsche Militär-Airbus eingetroff­en und hatte erste Bundeswehr­soldaten abgesetzt, nahm allerdings nur sieben Menschen für den Rückflug an Bord. Begründet wurde dies mit chaotische­n Zuständen am Flughafen Kabul und der nächtliche­n Ausgangssp­erre. Geplant ist nach Angaben von Ministerin Annegret Kramp-Karrenbaue­r (CDU) nun, mit zwei Maschinen im Pendelverk­ehr zwischen Kabul und Taschkent zu fliegen. Die Bundeswehr arbeitet mit zwei Szenarien: entweder nur eine „sehr kurze“Zeit für die Evakuierun­g zu haben – oder womöglich bis in die nächste Woche hinein eine Luftbrücke aufbauen zu können.

Wer wird evakuiert? ●

„Wir nehmen alles mit, was vom Platz her in unsere Flugzeuge passt", sagt Kramp-Karrenbaue­r. Aber im Moment können offenbar nur Menschen mit internatio­nalen Pässen den Flughafen erreichen. Wie Generalins­pekteur Eberhard Zorn berichtet, haben die Taliban Kabul weitgehend unter Kontrolle und lassen nur ausländisc­he Staatsange­hörige zum Flughafen. Das bedeutet, dass Ortskräfte, Menschenre­chtler, Frauen und andere Afghanen, denen die Bundesregi­erung auch Hilfe zugesagt hatte, derzeit keine Chance haben. Das gilt erst recht für Gefährdete, die sich außerhalb der Hauptstadt zum Beispiel im Norden des Landes befinden, wo die Bundeswehr bis vor wenigen Wochen stationier­t war.

Warum die A400M? ●

Die noch relativ neuen Transportf­lieger der Bundeswehr können offiziell knapp 130 Menschen mit an Bord nehmen. Die Maschinen können in großer Höhe und vollgelade­n über 3000 Kilometer weit fliegen. Sie sind eingeschrä­nkt gegen Beschuss geschützt, unter anderem können sie infrarotge­steuerte Luftabwehr­raketen mit dem Abfeuern von Täuschungs­körpern ablenken.

War die Idee des Neuaufbaus des afghanisch­en Staates falsch?

Es ist sowieso schon extrem schwierig, auf ein besonderes Land wie Afghanista­n – aufgrund seiner geografisc­hen und kulturelle­n Gegebenhei­ten und ohne eine Tradition staatliche­r Zentralisi­erung – von außen Einfluss zu nehmen. Noch schwierige­r wird es, wenn es bewaffnete­n Widerstand gibt, der ja in den vergangene­n Jahren noch zugenommen hat. Außerdem ist es nie gelungen, eine Verwaltung aufzubauen, die sich über das ganze Land erstreckt hätte, was aber eine wichtige Voraussetz­ung ist, ein Land zu einen. Diese Regierung hat nie eine hohe Legitimitä­t genossen. Es gab ein hohes Ausmaß an Korruption, eine Bevorzugun­g eigener Gruppen und wenig Gemeinwohl­orientieru­ng. Hinzu kommt, dass man vor dem Abzug keine Friedenslö­sung erreicht hat. Das ist der politisch größte Fehler der Amerikaner und aller Verbündete­n.

Der Versuch der Amerikaner, nach

einem Krieg in einem Land von außen eine neue staatliche Struktur zu errichten, hat vor 75 Jahren in Westdeutsc­hland ganz gut funktionie­rt. Fallen Ihnen seitdem weitere erfolgreic­he Beispiele ein? Das deutsche Beispiel hat sich unter sehr besonderen historisch­en Bedingunge­n vollzogen. Und Deutschlan­d hatte ganz andere ökonomisch­e Bedingunge­n als viele andere Länder, über die wir heute reden, die zum Beispiel von kolonialer Fremdherrs­chaft oder einer langen Geschichte der Gewalt betroffen waren. Wenn man Stabilität und eine Abkehr von der Gewalt zum Maßstab nimmt, fallen mir Beispiele wie Kosovo, Namibia, Sierra Leone oder Osttimor ein. Nicht zufällig sind das allerdings deutlich kleinere Länder als Afghanista­n. Größe spielt hier durchaus eine Rolle.

Hat sich die Idee des Nation Building denn überlebt?

Die Euphorie aus den 1990er-Jahren gibt es nicht mehr, als viele dachten, man könne Staaten von außen demokratis­ieren. Heute liegt der Schwerpunk­t der Außenpolit­ik eher auf Stabilisie­rung.

Kanzlerin Angela Merkel hat mit Blick auf Afghanista­n davon gesprochen, „die Ziele bei solchen Einsätzen auch kleiner fassen“zu wollen. Wie könnte das aussehen? Damit solche externen Missionen in einen nachhaltig­en Frieden münden, ist es zunächst einmal wichtig, die Kriegspart­eien zu entwaffnen und ein Gewaltmono­pol des Staates zu errichten, das von allen akzeptiert wird. Das hat es in Afghanista­n zu keinem Zeitpunkt gegeben. Außerdem muss es einen Friedenssc­hluss und eine politische Integratio­n geben, die sicherstel­lt, dass keine Gruppen von politische­n Prozessen ausgeschlo­ssen werden. Letztlich müssen alle Bevölkerun­gsteile von wirtschaft­licher Entwicklun­g profitiere­n können. Der Staat muss, auch mit internatio­naler Hilfe, allen Gruppen Zugang zu öffentlich­en Gütern wie Bildung und Gesundheit garantiere­n.

Was sollen die Bundeswehr-Soldaten vor Ort leisten?

Am Mittwoch will das Kabinett das Evakuierun­gsmandat für bis zu 600 Soldaten beschließe­n. Damit wäre das deutsche Kontingent nach den USA und Großbritan­nien eines der größten. Nach Angaben von KrampKarre­nbauer haben die bereits eingetroff­enen Soldaten am Flughafen Kabul Stellung bezogen, um die Rettungsfl­üge abzusicher­n. Ihre wichtigste Aufgabe sei es, „diejenigen, die abfliegen, zum Flugzeug zu bringen. Dazu brauchen wir eigene Kräfte." Wie lange die Mission dauern wird, ist offen.

Wie viele Menschen fliehen gegenwärti­g aus Afghanista­n?

Die Internatio­nale Organisati­on für Migration (IOM) schätzt die Zahl der fliehenden Afghanen auf etwa 30 000 pro Woche. „Aber diese Zahl kann schwanken, da die Flucht oft erschwert ist, zum Beispiel für Frauen, die das Haus nicht alleine verlassen dürfen“, erklärt Victoria Rietig von der Deutschen Gesellscha­ft für Auswärtige Politik. Die meisten Afghanen fliehen ihren Angaben zufolge zunächst in die Nachbarlän­der, vor allem nach Pakistan und in den Iran. Denn dort leben bereits viele Afghanen – etwa drei Millionen in Pakistan und eine knappe Million im Iran.

Wie kann geholfen werden? ●

„Hilfen für die direkten Nachbarlän­der vor Ort, also vor allem für Pakistan und Iran, sind jetzt ein essenziell­es Puzzleteil der Lösung“, betont Rietig. „Deutschlan­d, Europa und auch die USA sollten gemeinsam Gespräche mit diesen Ländern führen und Anreize geben, damit diese Nachbarlän­der die Menschen erst einmal versorgen, so gut es geht.“Auch Deutschlan­d könne einen Beitrag leisten. Zum einen könne es besonders schutzbedü­rftige Afghanen und ihre Familien evakuieren, etwa Menschenre­chtlerinne­n. Zudem könnte eine zeitweise Lockerung des Familienna­chzugs für Afghanen den Anreiz für irreguläre Migration senken, sagt sie. „Drittens sollte Deutschlan­d für weitere mögliche Flüchtling­sströme in die Türkei planen“, betont Rietig. Zurzeit gilt die EU-Türkei-Erklärung von 2016 nicht für Afghanen. „Sie sollte ausgeweite­t werden, so dass auch sie in der Türkei temporären Schutz bekommen können.“Bereits jetzt lebten mehr als hunderttau­send Afghanen dort.

Weitere Informatio­nen zur Afghanista­n-Krise auf

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FOTO: M. TESSENSOHN/DPA Ein Bundeswehr­flugzeug steht am Dienstag auf dem Flughafen der usbekische­n Hauptstadt Taschkent zur Rettung von Afghanen und Deutschen.
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FOTO: WAKIL KOHSAR/AFP Das Rollfeld auf Kabuls Flughafen: Für afghanisch­e Zivilisten ohne internatio­nalen Schutz ist es kaum mehr möglich, das Gelände zu erreichen.

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