„Bei uns war er der Hadde“
Zum Tod von Gerd Müller – Weggefährten berichten von ihren Begegnungen mit dem Jahrhundertstürmer
NÖRDLINGEN - Zwischen dem gelben Fachwerkhaus am Stänglesbrunnen in Nördlingen und dem hübsch sanierten Gebäude in der Bergerstraße spendet ein großer Ahorn über einer Parkbank Schatten. Der Wind an diesem frischen Montagmorgen rauscht nicht nur durch die Blätter, sondern weht auch durch das graue Haar von Helmut Wurm. Er sitzt zwischen den beiden Häusern, in denen Gerd Müller aufgewachsen ist und erzählt die Geschichte einer Freundschaft, die ihm bislang immer deutlich leichter von den Lippen gegangen ist. An diesem Montag ist das anders. 24 Stunden zuvor ist sein Schulfreund in einem Münchner Pflegeheim gestorben.
Die gesamte Fußballwelt trauert. Kondoliert wird international. Schöne Gesten gibt es auch in Nördlingen. Am Kriegerbrunnen legen Trauernde Kerzen und Rosen ab. Darüber ist ein in Folie gepackter Zettel festgebunden, auf dem steht: „Zum Gedenken an Gerd Müller“. 75 Jahre alt ist er geworden. Vor 63 Jahren lernte Helmut Wurm den „Hadde“kennen.
Gerd Müller sagte in Nördlingen damals kaum jemand. Die Kurzform von Gerhard ist den Nordschwaben lieber.
Auf dem Platz unter dem Ahorn, der heute mit großen Kopfsteinen gepflastert ist und um den rundherum Autos parken, lag früher Kies. Mit dem Hadde kickten dort und an einigen anderen Plätzen in der Stadt viele junge Nördlinger, erinnert sich Helmut Wurm. Er war auch dabei. Nicht nur auf der Straße, sondern auch bei den Turnieren der katholischen und evangelischen Schulen. Müller besuchte die evangelische Volksschule, die damals in dem Gebäude untergebracht war, in dem heute die Stadtbibliothek ist. Wurm erinnert sich, dass der Rektor mit Strafen drohte, sollten die Schüler die Begegnung mit der katholischen Schule verlieren. „Solange der Hadde bei uns spielte, mussten wir uns aber keine Sorgen machen“, sagt Wurm und blickt geradeaus von der Parkbank zum müller’schen Geburtshaus, an dem eine Passantin kurz stehenbleibt und einen Blick auf das Klingelschild wirft, dann aber weitergeht.
Andere Schulkameraden und Nachbarn, darunter Ernst Mayer, schildern Ähnliches aus ihrer Bubenzeit und weisen ebenfalls zu allererst darauf hin: „Bei uns war er der Hadde.“Er war der Spielführer, er organisierte die Spiele, erinnert sich Mayer. Für die Mannschaften sei am Anfang jeder recht gewesen, der sich dem Gegner in den Weg stellen konnte. So oder so ähnlich soll er einmal die Spieltaktik formuliert haben: „Mayerle, du gosch ins Tor, und dia andre in ‘d Verteidigung.“Gerhard Müller, so sei er nur von seiner Lehrerin genannt worden, die vermutlich mit Blick auf das
Zeugnis nicht so zufrieden war wie die Fußballtrainer. Der Schulfreund erzählt, dass das Fußballspiel nur wenig Zeit für schulische Erfolge ließ, musste er doch nach Unterrichtsschluss am Platz beim Berger Tor sein, wo sich die Lehrlinge der Sixenbrauerei und der Gärtnerei Ortlieb einfanden und die kurze Mittagspause zum Fußballspielen nutzten. Mayer sagt: „Dazu gehörte immer der wuselige, schwarzhaarige Hadde, der die großen Lackel ausschnickte und seiner ihm zugelosten Mannschaft zum stets haushohen Sieg verhalf.“
Alles, was rund wie ein Ball war, hat den Nördlinger mehr fasziniert als die Schule. Als Stadtmeister im Tischtennis erwies er sich ebenfalls als talentiert. Selbst beim Schafkopfen glänzte er, erinnern sich die Schulfreunde. Gerd Müller sei fair und gerecht und bei allen beliebt gewesen – er war schon in jungen Jahren ein Idol. Ernst Mayer sagt: „Irgendwie waren die Klassenkameraden und Freunde immer stolz, wenn sie, was in aller Welt vorkommen konnte, auf Gerd Müller angesprochen wurden und sagen konnten: ,Der war in meiner Schulklasse’, oder, ,mit dem habe ich als Junge Fußball gespielt’.“
Helmut Wurm geht es da ähnlich. Er war bei den Verhandlungen dabei, als Müller vom TSV Nördlingen zum TSV 1860 München oder dem FC Bayern wechseln sollte. Der 75-jährige Schulfreund erzählt, dass die Bayern
so clever gewesen seien, früher in ein Nördlinger Wirtshaus zu kommen, um den 60ern einen Schritt voraus zu sein. So kam es, dass Müller bei den Bayern unterschrieb, auch wenn er als Club-Fan eigentlich mit den Nürnbergern geliebäugelt habe. Die aber wollten ihn nicht. Helmut Wurm blieb auch in den Anfangsjahren beim FC Bayern noch regelmäßig mit Gerd Müller in Kontakt. Noch enger befreundet waren die Nördlinger Martin Jeromin und Peter Kraus mit ihm, erzählt er weiter.
Emil Klaß steht am Montag im Stadion-Stüberl im Rieser Sportpark. Dort war Müller bei seinem letzten Besuch im Ries 2011. Der TSV Nördlingen feierte 150. Geburtstag und Müller machte mit roter Hose, weißer Trainingsjacke und Schulterbandage auf den Besucherrängen Fotos mit den Nördlingern.
Müllers schwierige Zeiten werden nur angeschnitten. Was den Nördlingern in diesen Tagen wichtig ist, sind die Erinnerungen an die guten alten Zeiten, die Erinnerungen an ihren Hadde.