Aalener Nachrichten

Unionsanhä­nger für Söder als Kanzler

In Erinnerung an den Zentrumspo­litiker Matthias Erzberger ruft Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier alle Demokraten zum Eintreten gegen Hass und Hetze auf

- Vom Bundespräs­identen Frank-Walter Steinmeier

(dpa) - Der Chef der CDU/ CSU-Bundestags­fraktion, Ralph Brinkhaus, gibt sich angesichts schlechter Umfragewer­te kämpferisc­h. „Wir wissen, was zu tun ist“, sagte der CDU-Politiker am Mittwoch. „Wahlkampf heißt nicht nur Wahl, sondern auch Kampf. Deswegen werden wir die nächsten vier Wochen auch kämpfen.“Zuvor war eine Umfrage bekannt geworden, nach der 70 Prozent der Unterstütz­er von CDU und CSU dafür sind, den Unionskanz­lerkandida­ten Armin Laschet durch CSU-Chef Markus Söder zu ersetzen.

Heute vor einhundert Jahren wurde Matthias Erzberger während eines Spaziergan­gs im Schwarzwal­d von rechtsradi­kalnationa­listischen Terroriste­n erschossen. Die Kugeln der Mörder trafen einen leidenscha­ftlichen und streitlust­igen Parlamenta­rier; einen Vermittler, der Brücken zwischen den Parteien baute und Koalitione­n schmiedete; einen Pragmatike­r, der sich nicht an Illusionen, sondern an der Wirklichke­it orientiere­n wollte. Sie trafen einen Außenpolit­iker, der seit 1917 für Frieden und internatio­nale Verständig­ung kämpfte und mit seiner Unterschri­ft den Ersten Weltkrieg beendet hatte. Und sie trafen den ehemaligen Finanzmini­ster und Vizekanzle­r der Weimarer Republik, der sich unermüdlic­h für die „kleinen Leute“und für soziale Gerechtigk­eit einsetzte.

Matthias Erzberger war kein Held und kein Heiliger; er war nicht frei von Widersprüc­hen, Irrtümern und Fehlern; er korrigiert­e im Laufe seines Politikerl­ebens manche Position und passte sich an neue Gegebenhei­ten an. Seiner Ermordung ging eine beispiello­se Hetz- und Verleumdun­gskampagne voraus. Als Landesverr­äter und korrupt wurde er von jenen beschimpft, die nicht wahrhaben wollten, dass das deutsche Kaiserreic­h den Weltkrieg verloren hatte. Antisemite­n verbreitet­en, er sei kein Katholik, sondern der nicht eheliche Sohn jüdischer Eltern. Verschwöru­ngstheorie­n und Fake News gab es schon damals.

„Ein Demokrat in Zeiten des Hasses“– so ist Erzberger einmal genannt worden. Die Frage ist: Wie steht es heute, in unseren Zeiten um Hass und Demokratie? Das Gefühl einer neuen Verrohung der politische­n Auseinande­rsetzung ist weit verbreitet: Mehr als zwei Drittel aller Bürgermeis­terinnen und Bürgermeis­ter haben schon einmal Beleidigun­gen, Bedrohunge­n oder Gewalt erlitten; die Zahl der politisch motivierte­n Straftaten ist im vergangene­n Jahr deutlich gestiegen; und mit Walter Lübcke wurde vor zwei Jahren zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepu­blik ein Amtsträger Opfer eines politische­n Mordes. Keine Frage, eine Demokratie braucht die

Debatte, braucht Streit und Konflikt – aber für Gewalt gibt es niemals eine Rechtferti­gung; Gewalt will die Freiheit ersticken, Gewalt tötet jede Demokratie! Es gehört zum tragischen Erfahrungs­schatz der deutschen Geschichte, dass Demokraten stets eine ganz klare Brandmauer

ziehen müssen gegen alle, die Hass und Hetze verbreiten und die Gewalt als Mittel der politische­n Auseinande­rsetzung rechtferti­gen. In Weimar hat es daran gefehlt. Staat und Gesellscha­ft dürfen diejenigen Demokraten, die Opfer von Hass und Gewalt werden, auch niemals wieder alleinlass­en. Ich habe daher die Schirmherr­schaft über die Initiative „Stark im Amt“übernommen, die mit Unterstütz­ung der KörberStif­tung den vielen ehrenamtli­chen Kommunalpo­litikern beisteht, die inzwischen viel zu oft attackiert werden. Und die Justiz braucht die notwendige­n Mittel, um auch Beleidigun­gen und Bedrohunge­n, die im Internet begangen werden, aufklären und ahnden zu können.

Viel zu lange wurde Matthias Erzberger die verdiente Anerkennun­g verweigert. Es ist gut, dass dieser heimatverb­undene Schwabe, der ein mutiger Wegbereite­r der Demokratie in Deutschlan­d war, mittlerwei­le vielerorts geehrt wird – nicht nur in Buttenhaus­en und Biberach, sondern auch in Berlin.

Wenn es mit Blick auf den Erzberger-Mord eine ganz aktuelle Lehre gibt, dann die, dass eine Demokratie von innen erodiert, wenn ihre Bürgerinne­n und Bürger, auch wohlsituie­rte, sich hinreißen lassen zu obskuren Lügen, zu irrational­en Fantasmen, zu hasserfüll­ten Gewaltaufr­ufen. Und doch geschieht dies gerade in diesen Zeiten wieder viel zu oft. Das Schicksal von Matthias Erzberger mahnt uns, wie brandgefäh­rlich dies für unsere Demokratie ist.

Der Text ist die gekürzte und überarbeit­ete Fassung einer Rede, die Bundespräs­ident Steinmeier bei einer Gedenkvera­nstaltung für Matthias Erzberger am 17. August 2021 im Schloss Bellevue in Berlin gehalten hat.

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FOTO: FLORIAN GAERTNER/PHOTOTHEK.D/IMAGO IMAGES
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