Der Bergbauer, der den Massen trotzt
Der Tiroler Luis Melmer setzte sich für sanften Tourismus ein, als den Begriff noch niemand kannte – Im Kampf gegen ein Mammut-Skigebiet stellte er sich gegen den eigenen Vater
Eine grandiose Berglandschaft unweit von Innsbruck. Am Talschluss steht der 3298 Meter hohe Lüsener Fernerkogel. Weitere Gipfel folgen. Hochweiden ziehen sich die Hänge entlang, weiter unten stehen Wälder aus Zirbelkiefern und Fichten. „Das ist die Heimat, die ich bewahren will“, meint Luis Melmer, 75 Jahre alt, immer noch ein kerniger Alpenbewohner.
Daheim ist er im rund zehn Kilometer langen Lüsenstal. Nichts stört dort das Auge bei der Hochgebirgsumschau: weder Großhotels noch Seilbahnen. Dass es so was noch gibt? Und dies nicht einmal abgelegen. Mit dem Auto reichen 40 Minuten bis in Tirols Landeshauptstadt. Für die Idylle hat Melmer jedoch kämpfen müssen – gegen seinen Vater, gegen fremde Investoren, gegen Talbewohner, die vom großen Geld durch ausufernde Wintersportgebiete träumten.
Wie Melmer erklärt, sei es dabei um seine Überzeugung, um seine Seele gegangen. „Der Mensch kommt und geht, die Berge bleiben“, meint er mit philosophischem Anklang. Heimat bedeutet in diesem Zusammenhang für ihn ein Lebensgefühl. Sie ist die Natur und das, was die Vorfahren im Einklang mit ihr geschaffen haben. Folgerichtig begreift er sich als erdverbundener Bergbauer auf seinen Almwiesen.
Melmer ist jedoch auch Wirt und Hotelier im Weiler Praxmar, einer Streusiedlung mit vielleicht 25 ständigen Einwohnern. Sein Berggasthof liegt auf 1700 Metern neben einem Kirchlein und dem Stall – dort, wo die Almwiesen anfangen. Wie der Weiler heißt das im ortsüblichen Tiroler Stil gebaute Wirtshaus mit dem angeschlossenen Hotelbetrieb Praxmar. Gäste gehören zu Melmers Leben, Wanderer, Skitourengeher, Erholungssuchende. „Ausdrücklich und sehr gerne“, wie Melmer betont.
Aber für ihn muss sich der Fremdenverkehr eben ins Tal einfügen – und nicht umgekehrt. Modern ausgedrückt propagiert er sanften Tourismus, beziehungsweise Nachhaltigkeit, wie das spröde Modewort dazu lautet.
Der Weg zu Melmer führt übers Sellraintal. Dann kommt mit einer Abzweigung der Anfang des Lüsenstals. Das Sträßchen nach Praxmar quert Wald und Bäche. Die Berge rücken näher. Melmer war überall schon droben. Vor seinem Stall stehend, will er nun aber etwas anderes zeigen. „Dass es nämlich nicht selbstverständlich ist, dass es hier so unverbaut aussieht.“
Mit einem Quad geht es auf Viehwegen in die Höhe. Melmer steigt aus. Seine rechte Hand beschreibt einen Bogen über Weiden, Kühe und Felsen. „Das alles“, erklärt der Mann, „wäre beinahe ein Skigebiet mit Pisten, Liften und Seilbahnen geworden. Hier stünde eine Mittelstation mit Restaurant, dort unten eine Talstation, da drüben wären Abfahrten.“
Ein Steinadler kreist oben. Irgendwo pfeifen Murmeltiere. Vorher hat sich eine Gams blicken lassen. Man denkt trotz vieler eigener zurückliegender Pistentage in Großskigebieten: So etwas hier oben? Dies hätte Alptraumcharakter.
Dass der Gegend die kommerzielle Verschandlung erspart blieb, hat tatsächlich viel mit Melmer zu tun. Als einer der Ersten stemmte er sich in den Tiroler Bergen gegen den totalen Tourismus. Damals wirkten Melmer oder andere kritische Geister aus den Alpenvereinen wie versprengte Idealisten – belächelt eben. Denn bis die Alpenländer die erste Konvention zum Schutz der Berge beschließen, wird es 1991.
Melmers Geschichte geht viel weiter zurück, nämlich bis in die 1970er- und 1980er-Jahre. In den Bergen herrscht Aufbruchstimmung. Die Internationale Alpenschutzkommission CIPRA beschreibt den Zeitgeist: „Eine eigentliche Euphoriephase erlebte der alpine Skisport in den Siebzigerjahren. Die mit Seilbahnen und Skiliften ausgestatteten Wintersportgebiete bildeten das Rückgrat einer skisportverrückten Wohlstandsgesellschaft, in der sich jetzt fast jedermann Winterferien leisten konnte.“
Im Text wird darauf verwiesen, dass auch die französischen Retorten-Skiorte wie Lac de Tignes damals entstanden seien. Weiter heißt es: „In vielen Alpenregionen wurde in dieser Zeit extrem viel Bauland für Zweit- und Ferienwohnungen verbraucht und damit traditionelle Landschaften und alte Ortsbilder zerstört.“
Jedem potenziellen Abfahrtshang droht seinerzeit die Erschließung. Kleine Pensionen mutieren zu Sternehotels. Seilbahnbarone und Großhoteliers träumen vom unbegrenzten Wachstum. In Tirol schließen sie sich zum mächtigen Adlerclub zusammen. Den Landeshauptmännern in Innsbruck wird klargemacht, wer anschafft. Die Politik versteht, hat meist ein offenes Ohr für die Wünsche der Großtouristiker.
Der Rubel rollt. In Tirol wird heute jeder dritte Euro im Tourismus verdient. Den Löwenanteil bringen die Wintergäste ein – vor allem dort, wo die Maschinerie mit Skifahren und Après-Ski hochtourig läuft. In Ischgl etwa. Melmer hat eine solche Entwicklung aber selbst in der Nachbarschaft beobachten können: in Kühtai, einer Passhöhe zwischen Sellrain- und Ötztal.
Ursprünglich sind dort bloß Almen gewesen. Später kommt ein Jagdschlößchen hinzu. Nach dem Zweiten Weltkrieg wächst Kühtai aber zum klassischen Pistenskigebiet heran. Ähnlich wie in Frankreich entsteht eine Retorten-Hotelsiedlung: winters quirlig, sommers ein ödes Geisterdorf.
Wessen Geistes Kind die KühtaiVerantwortlichen sind, macht 2001 nochmals der örtliche Fremdenverkehrsobmann deutlich: „Hoteliers und Liftanlagen investieren jährlich viel Geld. Wenn Kühtai Zukunft haben will, muss es aber auch erlaubt sein, eine Skigebietserweiterung zu fordern. Überall in Europa werden solche Maßnahmen getroffen. Wenn wir nur zuschauen, werden wir bald keine Rolle mehr spielen.“
Nicht dass nun Melmer Kühtai in
Bausch und Bogen verurteilen würde. „So etwas muss es auch geben“, meint er. Ihm ist bewusst: Solche Tourismuszentren schaffen Freiräume, um anderswo alternativ vorgehen zu können. „Wir dürfen aber eben nicht alles zubauen“, fügt Melmer an. Und sein Lüsenstal wollte er vor diesem Schicksal bewahren.
Die Verbindung der Familie zur Heimat geht Ewigkeiten zurück. Sie ist in Praxmar seit 22 Generationen ansässig. Man ist hier Bergbauer, Holzknecht, Jäger gewesen. Bitter arm hat man gelebt. So wie überall in abgelegenen Alpentälern.
Erst der Fremdenverkehr bringt die Wende. Die Gäste verheißen Einnahmen – auch für Melmers Vorfahren. Ihren Hof bauen sie zu einen Berggasthof aus. Ab den 1960er-Jahren kommen zwei Skilifte dazu. Melmer erinnert sich: „Eine Pistenraupe gab es nicht, da habe ich vormittags mit den Gästen zusammen den Hang platt getreten.“
Auf welche Art und Weise soll es aber weitergehen? Seilbahnen bauen? Pisten bis zum Abwinken? „Mein Vater“, berichtet Melmer, „wollte das ganze Gebiet erschließen. Der Plan war fix und fertig, ein großer Liftbetreiber als Investor an Bord. Es gab allerdings ein Problem, und das war ich.“
Der Junior mag einfach nicht, legt sich mit seinem Vater an – ebenso mit Nachbarn. Die meisten in den Talorten, berichtet er, seien für das Skigebiet gewesen, inklusive des zuständigen Bürgermeisters von St. Sigmund in Sellrain. „Aber mir war klar, dass wir selber die Investitionen gar nicht hätten bezahlen können. Es wäre nur mit Investoren von sonst wo her gegangen“, sagt er. „Ich wusste, dass ich meine Heimat verliere, wenn man solche Leute holt.“Seine Erkenntnis: Die finanzstarken Fremden würden ihre Interessen verfechten. Einheimische blieben auf der Strecke.
Melmer sorgt fortan für Wirbel, organisiert eine Protestskitour hoch zu jenem Gipfel, der das geplante Skigebiet bekrönen sollte, die 2876 Meter hohe Lampsenspitze. Drei Stunden Aufstieg für Normalgeübte. Sympathisanten von Melmer gehen damals mit. Die schweißtreibende Berg-Demo schafft es sogar in die Medien.
Nun wäre es zu schön, um wahr zu sein, wenn der Alpen-Aufstand die Skigebietsanhänger eines Besseren belehrt hätte. Aber auch im Lüsenstal ist man nicht im Märchen. Das Großprojekt scheitert zwar – aber mehr aus handfesten Gründen.
So lassen sich im Tal keine Parkflächen erwerben.
Im Weiteren zerstreiten sich Befürworter und Investoren. „So haben wir hier herinnen unsere Ruhe gehabt. Aber ich war der Buhmann, der Spinner, derjenige, der alles verhindert. Die Nachbarn sind teilweise heut noch bös.“Allein für die Projektierung habe sich die Gemeinde heillos verschuldet. Bis in die Gegenwart sei die finanzielle Belastung gegangen.
Aber die einstigen Gräben scheinen sich zu verfüllen. Hört man sich in den Orten um, wird Melmer heute überwiegend zugebilligt, nicht falsch gelegen zu haben. Gäste kommen nämlich, vor allem ein Zielpublikum, das sommers zu Fuß oder winters auf Fell bespannten Skiern unterwegs sein will. Allein die schon erwähnte Lampsenspitze erhält in normalen Wintern Besuch von rund 25 000 Tourengehern.
Anfangs, erinnert sich Melmer, sei er gefragt worden, „was ich denn mit den Rucksacktouristen wolle“. Die hätten doch kein Geld. Die Zweifler lernen jedoch, dass vermeintlich rustikale Skitourengeher oft Tausende von Euro für ihre Ausrüstung ausgeben – und sich dann durchaus auch ein Hotelzimmer
Luis Melmer
leisten. Zudem trifft sowieso allerlei Kundschaft in Praxmar ein – bis hin zu stadtgeplagten Familien. Offenbar zieht sie an, was woanders kaputt ist: eine gewisse Ursprünglichkeit.
Fast schon zähneknirschend gestehen selbst hartleibigste Großtouristiker ein Stück weit ein, dass sanfter Fremdenverkehr funktionieren kann. Etwa Franz Hörl, Hotelier im Zillertal, Politiker der konservativen ÖVP und Obmann der österreichischen Seilbahner. Wobei er Chancen für sanfte Formen eher in Gegenden sieht, die mit modernen Anlagen nicht erschließbar oder die geschützt seien.
Hörl attestiert jedoch auch: „Wenn ein kleineres Tal drei Millionen Nächtigungen macht, dann nützt der sanfte Tourismus als Hauptwirtschaftsform aber überhaupt nichts, weil ich damit nur ein paar Hunderttausend Nächtigungen akquirieren kann.“Das soll wohl heißen, dass er in denen, die keine Seilbahnen, gewalzte Abfahrten und Beschneiungsanlagen wollen, doch wieder nur naive Naturromantiker sieht. Einen Stiefel, den sich Melmer generell nicht anziehen möchte. Schon weil er lebt, was ihn umtreibt.
Theoretisch hätte der Mann als Wirt und Hotelier an einem prächtigen Bauchansatz arbeiten können. Hat er jedoch nicht. Sein Tag beginnt noch heute im Kuhstall. Sommers ist Pensionsvieh auf den eigenen Weiden. Dazu Haflinger, die sich Berggräser einverleiben dürfen. Stundenlang macht sich Melmer auf den Weg, um nach dem Rechten zu schauen, etwa um Zäune zu kontrollieren.
Er geht zum Jagen: Hirsch, Gams, Murmeltier. Das Waidwerk gehört hier zum Jahreslauf. Ebenso wie das Holzmachen oder das Mähen der Wiesen. Gleichzeitig versucht Melmer bei geführten Wanderungen oder abends im Wirtshaus, Gästen das Leben in den Bergen nahezubringen. „Damit die Leute schätzen lernen, was die Natur wert ist.“
Um Gastronomie und Zimmer kümmern sich in erster Linie seine Frau Maria und die beiden Töchter Renate und Andrea. Dem Nachwuchs hat Melmer jüngst das ganze Gästegewerbe übergeben. Tochter Renate betont: „Das Konzept passt.“
Für Fremdenverkehrsforscher ist dies wiederum keine Überraschung. „Die Zahl jener, die sich auf Einheimische, Kultur, Kulinarik und dem Brauchtum der Region einlassen will, steigt“, hat etwa Herta Neiß, Tourismusexpertin an der Universität Linz, in einer Studie festgestellt.
Melmer selber wollte nach eigenen Worten immer konsequent sein, aber nicht dogmatisch. So hat er vor rund 15 Jahren die beiden Skilifte aus den 1960er-Jahren stillgelegt: „Das lohnte sich nicht mehr.“Damit ist verschwunden, was einst der Anfang eines riesigen Skigebiets hätte sein können. Wenigstens fast.
Von Melmers Stall aus sieht man auf einer Viehweide einen Bau, der verdächtig nach Liftstation aussieht. „Ja, das war die Talstation“, bestätigt Melmer. „Ich habe sie als Schuppen für unsere Pistenraupe stehen lassen.“Und für was braucht er die Maschine noch? „Winters fürs Herrichten einer Rodelbahn“, lautet die Antwort. Ein Kompromiss zwischen ganz sanftem Tourismus und einem Angebot an die Gäste.
„Mein Vater wollte das Gebiet erschließen. Der Plan war fix und fertig. Es gab allerdings ein Problem, und das war ich.“