Elend lässt sich nicht überschminken
Der Corona-Lockdown hat Zwangsprostitution und Frauenhandel nicht gebremst – Wie ein Bündnis auf der Ostalb Frauen hilft
- Wenn einer so lebensfrohen Frau wie Marietta Hageney plötzlich die Gesichtszüge einfrieren, dann fühlt sich auch die Luft im Zimmer auf einmal zwei Grad kälter an. Gerade im Kontrast zum ansteckenden Lachen der 60-Jährigen, bei dem es einem schnell warm ums Herz wird. Und das eben noch den Raum der Solwodi-Beratungsstelle (Solidarität mit Frauen in Not) in Aalen erfüllt hat. Dass ihr in ihrer Arbeit mit Mädchen und Frauen, deren Schicksal in Deutschland die sexuelle Ausbeutung ist, immer mal wieder der Atem stockt, ist sie gewohnt. Aber die Sache mit den fehlenden Schneidezähnen ist auch für Sie etwas, das sie sich nicht hat vorstellen können. „In kurzen Abständen bin ich mehreren Frauen begegnet, und ich habe mich gefragt, warum sie beim Sprechen immer die Hand vor den Mund gehalten haben.“Wie sich herausstellte, nicht etwa, um schlecht gepflegte Zähne oder Lücken zu kaschieren. „Da fehlte oben eine ganze Zahnreihe“, erinnert sich Marietta Hageney.
Der Grund dafür ist ebenso grausam wie abstoßend. Es hat mit einer bestimmten Sexualpraktik zu tun, bei der Zähne im Oberkiefer stören. Und es hat damit zu tun, dass Frauen nach auszehrenden Jahren in Bordellen ausgebrannt sind und mit der Verstümmelung versucht wird, ihren Marktwert für eine sexuelle Mode noch einmal aufzupolieren. Ob freiwillig oder unter Zwang – für Marietta Hageney sind das keine Kategorien, die dabei wirklich eine Rolle spielen. Denn wer würde sich ernsthaft aus freien Stücken die Zähne für einen solchen Zweck ziehen lassen? „Zwang und Freiwilligkeit sind in diesem Gewerbe sowieso relativ. Prostitution ist immer Gewalt“, sagt Hageney und tauscht den fassungslosen Gesichtsausdruck wieder mit dem kämpferischen. Sie presst ihren Mund entschlossen zusammen und fährt sich mit den Händen durch die dunklen Wuschelhaare.
Das Elend in den Bordellen ist oft nur schwerlich hinter einer dicken Schicht Schminke zu verbergen sei, hinter Tabletten, Alkohol und anderen Drogen. Dass der Kampf dagegen einer gegen Windmühlen ist, das will Marietta Hageney trotz allem nicht hören. „Wir bewegen sehr wohl etwas.“Gemeinsam mit dem Ostalb-Bündnis gegen Menschenhandel und (Zwangs-) Prostitution. Auch wenn die Aufgaben gewaltig sind, bis eine Frau endgültig die Prostitution hinter sich lassen kann und den Ausstieg schafft. Den Wechsel in ein normales Leben ohne Gewalt und sexueller Ausbeutung. „Sie müssen sich vor Augen führen, dass manche Frauen zunächst überhaupt nicht wohnfähig sind.“Anfangs sind es fast noch Kinder, wenn die jungen Mädchen – sehr oft aus Rumänien, wie Hageney weiß – aus Armut und Perspektivlosigkeit die Heimat verlassen oder mit falschen Versprechungen nach Deutschland gelockt werden. Und dann in einem hermetischen Umfeld existieren müssen. „Im Bordell wird ihnen ja alles zugetragen“, erklärt Hageney. Die Frauen müssen sich zwar um nichts kümmern und kommen kaum mit der Außenwelt in Kontakt. Dafür können sie allerdings auch keine eigenständige Lebensfähigkeit entwickeln. Die Abhängigkeit von den Zuhältern, die sie ausnutzen, bedeutet trotz der Gewalt, trotz der Krankheiten und der Trennung von der Familie einen starken Sog. Einen, den Marietta Hageney und ihre Mitstreiterinnen manchmal zu überwinden helfen können. Oft genug aber auch nicht.
Und Corona? „Die Pandemie hat einmal mehr offengelegt, wie gut die Drahtzieher hinter Prostitution und Menschenhandel organisiert sind“, sagt Hageney. Denn als klar war, dass es einen Lockdown geben würde und das Geschäft mit dem Sexkauf einen herben Dämpfer erfahren würde, seien Mitte März 2020 plötzlich massenhaft Frauen, die zuvor in Deutschland angeschafft hatten, an der Grenze zu Rumänien aufgetaucht. „Sie glauben doch wohl nicht, dass die alle zufällig mehr oder weniger zeitgleich da waren?“, fragt Hageney und kennt die Antwort durch Informationen ihrer Verbindungsleute ganz genau. „Die Organisationen hinter der Prostitution haben den Rücktransport nach Osteuropa organisiert und sie an die Grenzen gekarrt. Die rumänische Polizei hat dann Busse organisiert und in Konvois wurden die Frauen dann mit diesen Bussen auf die Heimatorte verteilt.“Und warum der Aufwand? „Ganz einfach: Frauen, die keine Freier mehr bedienen können, weil wegen des Verbots kaum noch jemand kommt, liegen den Zuhältern auf der Tasche. Denn sie müssen ja essen und wohnen.“
Eigentlich hätte die Corona-Zeit eine gute Blaupause dafür sein können, was mit einer Gesellschaft passiert, wenn Prostitution plötzlich von heute auf morgen illegal wird. Befürworter von käuflichem Sex führen als eines der Hauptargumente ins Feld, dass die Möglichkeit, sexuelle Dienstleistungen zu kaufen, dafür sorge, dass es weniger Übergriffe auf Frauen gibt – und am Ende auch weniger Vergewaltigungsopfer. Aber: „Kennen Sie einen Mann, oder haben Sie von einem gehört, der in den vergangenen Monaten geplatzt ist?“, fragt Marietta Hageney und weiß die Antwort. Nämlich, dass die Statistik für 2020 – das Jahr, indem die Prostitution stark ausgebremst war – keine signifikanten Auffälligkeiten zeigt. Kein signifikanter Anstieg von Vergewaltigungen. Kein signifikanter Anstieg sexuell motivierter Übergriffe: Die amtliche Kriminalitätsstatistik verzeichnet für das Jahr 2020 bei den Delikten „Vergewaltigung, sexuelle Nötigung und sexuelle Übergriffe im besonders schweren Fall“9752 Fälle. Zum Vergleich: Im Jahr davor waren es 9425 Fälle, wobei das Anzeigeverhalten grundsätzlich zunehme.
„Man muss sich auch mal auf der Zunge zergehen lassen, was hinter diesem Vergewaltigungs-Argument für ein Männerbild steckt. Das ist Männerdiskriminierung.“Anzunehmen, nur weil man sich keine Frau einfach so kaufen könne, würden Männer gleich reihenweise über Frauen herfallen, das habe mit der Realität nichts zu tun.
Das baden-württembergische Sozialministerium schreibt auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“, dass während Corona ja lediglich die Prostitutionsstätten geschlossen gewesen seien. „Prostitution hat weiterhin über Terminbuchungen im Internet, Straßenstrich und so weiter stattgefunden.“Auch Marietta Hageney hat beobachtet, dass jene Frauen, die nicht kurzerhand zurück nach Osteuropa geschafft wurden, zum Beispiel in Ferienwohnungen Freier empfangen hätten. Also in privaten Appartements, in denen staatliche Kontrolle über das Prostitutionsgeschehen faktisch nicht stattfinde. „Es fehlen dafür auch einfach die Kapazitäten“, sagt Hageney. Zur grundsätzlichen Frage, ob und wie das novellierte Prostituiertenschutzgesetz von 2017 vor Ort in Baden-Württemberg wirkt, verweist das Ministerium auf den Bund – und eine Evaluation, die am 1. Juli 2022 einsetzen soll. Ein Evaluationsbericht soll dann spätestens am 1. Juli 2025 vorliegen. Will heißen: Man schaut mal, wie es jetzt so läuft. Ungefähr drei Jahre lang. Dabei ist nach Ansicht von Schutzorganisationen seit der generellen Liberalisierung um die Jahrtausendwende zu beobachten, dass die Situation immer schlimmer wird. Ursprünglich sollte das Prostituiertenschutzgesetz Frauen aus der Illegalität herausholen und Prostitution – mit Zugang zu den Sozialkassen – zu einem mehr oder weniger normalen Dienstleistungsberuf machen. 2017 besserte der Gesetzgeber nach – Prostituierte müssen sich seitdem zum Beispiel behördlich registrieren, Bordell und Wohnung müssen getrennt sein und es gilt eine generelle Kondompflicht. All das wirkungsvoll und flächendeckend zu kontrollieren – dazu fehlt selbst nach Angaben der Polizei das nötige Personal.
Aus Sicht von Marietta Hageney und ihrer Kollegin Rodica Knab von Solwodi in Augsburg ist die Politik der Liberalisierung von Prostitution komplett gescheitert. Knab ist unter anderem Traumatherapeutin, hat rumänische Wurzeln und spricht daher die Mutttersprache vieler betroffener Frauen. Und auch sie kann nicht erkennen, wie man unter den gegebenen Umständen bei Prostitution von einer selbstbestimmten und freiwilligen Arbeit sprechen könne. „Entweder lässt den Frauen ihre Armut keine Wahl – oder sie werden, wenn sie erst mal in Deutschland angekommen sind, systematisch gezwungen.“Die gern bemühten Beispiele von selbstbewussten Frauen, die der Prostitution wie einer ganz normalen und bürgerlichen Arbeit nachgingen – „das ist eine Illusion“, sagt Marietta Hageney. In Berufsverbänden für Prostituierte organisiere sich nur ein schwindend geringer Teil der Szene, deren Mitglieder seien nicht im Mindesten repräsentativ. Jedenfalls was die überwältigende Mehrheit der Frauen aus Ostund Südosteuropa angehe, die schweige und ertrage. Die eigentlich vorhandene Möglichkeit, sich als Prostituierte in den Sozialsystemen anzumelden, nimmt so gut wie keine Frau wahr: Gemäß einer kleinen Anfrage an die Bundesregierung durch die FDP im Bundestag, waren es im Jahr 2018 ganze 76. Während es keine Pflicht zur Sozialversicherung für Prostituierte gibt, besteht aber eine behördliche Registrierungspflicht: 2019 gab es laut Statistischem Bundesamt rund 40 000 offiziell gemeldete Prostituierte in Deutschland. Wie viele es wirklich sind – darüber gibt es nur Schätzungen. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi geht von mehr als dem Zehnfachen aus.
Was also tun gegen die Missstände? Aufklärung, das ist ein zentrales Ziel, das sich Solwodi und das Ostalb-Bündnis auf die Fahnen geschrieben haben. „Wir gehen in die Schulen – hier und in Rumänien.“Wenn sie in Temeschwar in einer Schulklasse mit jungen Mädchen ihren Vortrag gemeinsam mit dem pensionierten Kriminalhauptkommisar Manfred Paulus aus Ulm halte, schnellten bei der Frage, wer später gerne in den Westen – nach Deutschland, Österreich oder in die Schweiz – gehen wolle, mindestens 70 Prozent der Arme hoch. Welches Leben ihnen wirklich blühen könnte, wenn sie sich auf so manche Versprechungen vom goldenen Westen einlassen – das schockiere die jungen Frauen. Umgekehrt in
Deutschland sei durch die legale Prostitution das Bewusstsein schon bei männlichen Schülern verbreitet, dass man Frauen einfach kaufen könne. „Später kommen dann diese jungen Männer mit dieser Vorstellung ins Bordell“, glaubt Marietta Hageney. Mit vorgehaltenem Handy, auf dem ein entsprechendes Video läuft, verlangten diese Freier von den Frauen das, was gerade auf den pornografischen Kanälen im Internet angesagt sei.
„Wir brauchen einen Bewusstseinswandel“, fordert Hageney. Einen, der sich gegen Männer richte, die sexuelle Dienstleistungen kaufen. „In Schweden gilt es als ausgesprochen peinlich, Frauen für Sex zu kaufen.“In Deutschland hätten indes Junggesellenpartys Konjunktur, die im Puff endeten. Doch in Diskotheken komme es zu herabwürdigenden Spielchen – für Marietta Hageney indiskutabel: „Da werden 50 Euro Preisgeld für die Frau ausgelobt, die sich auf der Tanzfläche die meisten Wiener Würstchen in den Mund stecken kann.“Oder es gebe Gratisgetränke für Frauen, die an der Bar ihren Büstenhalter abgäben. „Was macht das mit den jungen Männern? Was bedeutet das für das Frauenbild?“Hageney und ihre Mitstreiterinnen setzten bereits da schon an. Konfrontieren Diskothekenbetreiber direkt, gehen auf die Jugendlichen zu, um das Bild der stets verfügbaren Frauen zu korrigieren. „Denn am Ende haben Sie Männer, die in der Mittagspause auf einen Quicki ins Bordell gehen – und hinterher wieder mit Frauen im Büro in einem Meeting sitzen.“Es bleibe das Bild in den Köpfen der Männer zurück: „Frauen kann man kaufen – jederzeit und für alles!“Wer Gleichberechtigung in einer Gesellschaft ernsthaft durchsetzten wolle, könne nicht zulassen, dass mit Frauen als käufliche Ware so umgegangen werde. „Darum fordern wir auch das nordische Modell“, betont Hageney. Schweden, Norwegen, Island, Kanada, Frankreich, Irland, und Israel wenden es an. Es setzt auf die Verfolgung von Freiern – und sanktioniert nicht die Prostituierten.
Wie schwer, ja nahezu unmöglich, es ist, Frauen von polizeilicher Seite besser zu schützen, geht aus einer Stellungnahme des Polizeipräsidiums Ulm hervor, wo es seit 2018 eine Koordinierungsstelle Rotlicht gibt. Darin heißt es: „Die Ermittlungen wegen Menschenhandels, Zwangsprostitution und Zuhälterei gestalten sich oft schwierig. Die Gründe liegen im fehlenden Opferbewusstsein, in der Unkenntnis des in Deutschland geltenden Rechts und insbesondere darin, dass Sexarbeiterinnen oft nicht bereit sind, bei den Ermittlungsbehörden auszusagen. Sei es aus Angst vor Repressalien infolge der Abhängigkeit von ihrem Zuhälter, oder weil sie selbst Vorbehalte gegenüber den Behörden haben. Die Überwindung dieser Hemmschwelle und der Aufbau von Vertrauen ist eines der Ziele, die wir mit Kontrollen im Rotlichtmilieu verfolgen.“
Wie viel Luft nach oben beim Schutz von Frauen ist, zeigt wohl eine Vergleichszahl am deutlichsten: Seit vor 20 Jahren das Sexkaufverbot in Schweden eingeführt wurde, kam es in dem Land zu einem einzigen Mord an einer Prostituierten. Laut Interpol waren es im gleichen Zeitraum in Deutschland weit über 100. Es stimme zwar, dass auch in Schweden die Prostitution nicht vollständig verschwunden sei. Aber der Vergleich mit Ländern des nordischen Modells zeigt, dass es noch einen anderen Weg geben kann. Einen, für den Marietta Hageney und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter nicht müde werden, einzutreten. „Um Europas Bordell, was Deutschland zweifelsfrei ist, zu schließen.“
„Entweder lässt den Frauen ihre Armut keine Wahl – oder sie werden systematisch zur Prostitution gezwungen.“
Marietta Hageney Solwodi-Beratungsstelle