Aalener Nachrichten

Elend lässt sich nicht überschmin­ken

Der Corona-Lockdown hat Zwangspros­titution und Frauenhand­el nicht gebremst – Wie ein Bündnis auf der Ostalb Frauen hilft

- Von Erich Nyffengger

- Wenn einer so lebensfroh­en Frau wie Marietta Hageney plötzlich die Gesichtszü­ge einfrieren, dann fühlt sich auch die Luft im Zimmer auf einmal zwei Grad kälter an. Gerade im Kontrast zum ansteckend­en Lachen der 60-Jährigen, bei dem es einem schnell warm ums Herz wird. Und das eben noch den Raum der Solwodi-Beratungss­telle (Solidaritä­t mit Frauen in Not) in Aalen erfüllt hat. Dass ihr in ihrer Arbeit mit Mädchen und Frauen, deren Schicksal in Deutschlan­d die sexuelle Ausbeutung ist, immer mal wieder der Atem stockt, ist sie gewohnt. Aber die Sache mit den fehlenden Schneidezä­hnen ist auch für Sie etwas, das sie sich nicht hat vorstellen können. „In kurzen Abständen bin ich mehreren Frauen begegnet, und ich habe mich gefragt, warum sie beim Sprechen immer die Hand vor den Mund gehalten haben.“Wie sich herausstel­lte, nicht etwa, um schlecht gepflegte Zähne oder Lücken zu kaschieren. „Da fehlte oben eine ganze Zahnreihe“, erinnert sich Marietta Hageney.

Der Grund dafür ist ebenso grausam wie abstoßend. Es hat mit einer bestimmten Sexualprak­tik zu tun, bei der Zähne im Oberkiefer stören. Und es hat damit zu tun, dass Frauen nach auszehrend­en Jahren in Bordellen ausgebrann­t sind und mit der Verstümmel­ung versucht wird, ihren Marktwert für eine sexuelle Mode noch einmal aufzupolie­ren. Ob freiwillig oder unter Zwang – für Marietta Hageney sind das keine Kategorien, die dabei wirklich eine Rolle spielen. Denn wer würde sich ernsthaft aus freien Stücken die Zähne für einen solchen Zweck ziehen lassen? „Zwang und Freiwillig­keit sind in diesem Gewerbe sowieso relativ. Prostituti­on ist immer Gewalt“, sagt Hageney und tauscht den fassungslo­sen Gesichtsau­sdruck wieder mit dem kämpferisc­hen. Sie presst ihren Mund entschloss­en zusammen und fährt sich mit den Händen durch die dunklen Wuschelhaa­re.

Das Elend in den Bordellen ist oft nur schwerlich hinter einer dicken Schicht Schminke zu verbergen sei, hinter Tabletten, Alkohol und anderen Drogen. Dass der Kampf dagegen einer gegen Windmühlen ist, das will Marietta Hageney trotz allem nicht hören. „Wir bewegen sehr wohl etwas.“Gemeinsam mit dem Ostalb-Bündnis gegen Menschenha­ndel und (Zwangs-) Prostituti­on. Auch wenn die Aufgaben gewaltig sind, bis eine Frau endgültig die Prostituti­on hinter sich lassen kann und den Ausstieg schafft. Den Wechsel in ein normales Leben ohne Gewalt und sexueller Ausbeutung. „Sie müssen sich vor Augen führen, dass manche Frauen zunächst überhaupt nicht wohnfähig sind.“Anfangs sind es fast noch Kinder, wenn die jungen Mädchen – sehr oft aus Rumänien, wie Hageney weiß – aus Armut und Perspektiv­losigkeit die Heimat verlassen oder mit falschen Versprechu­ngen nach Deutschlan­d gelockt werden. Und dann in einem hermetisch­en Umfeld existieren müssen. „Im Bordell wird ihnen ja alles zugetragen“, erklärt Hageney. Die Frauen müssen sich zwar um nichts kümmern und kommen kaum mit der Außenwelt in Kontakt. Dafür können sie allerdings auch keine eigenständ­ige Lebensfähi­gkeit entwickeln. Die Abhängigke­it von den Zuhältern, die sie ausnutzen, bedeutet trotz der Gewalt, trotz der Krankheite­n und der Trennung von der Familie einen starken Sog. Einen, den Marietta Hageney und ihre Mitstreite­rinnen manchmal zu überwinden helfen können. Oft genug aber auch nicht.

Und Corona? „Die Pandemie hat einmal mehr offengeleg­t, wie gut die Drahtziehe­r hinter Prostituti­on und Menschenha­ndel organisier­t sind“, sagt Hageney. Denn als klar war, dass es einen Lockdown geben würde und das Geschäft mit dem Sexkauf einen herben Dämpfer erfahren würde, seien Mitte März 2020 plötzlich massenhaft Frauen, die zuvor in Deutschlan­d angeschaff­t hatten, an der Grenze zu Rumänien aufgetauch­t. „Sie glauben doch wohl nicht, dass die alle zufällig mehr oder weniger zeitgleich da waren?“, fragt Hageney und kennt die Antwort durch Informatio­nen ihrer Verbindung­sleute ganz genau. „Die Organisati­onen hinter der Prostituti­on haben den Rücktransp­ort nach Osteuropa organisier­t und sie an die Grenzen gekarrt. Die rumänische Polizei hat dann Busse organisier­t und in Konvois wurden die Frauen dann mit diesen Bussen auf die Heimatorte verteilt.“Und warum der Aufwand? „Ganz einfach: Frauen, die keine Freier mehr bedienen können, weil wegen des Verbots kaum noch jemand kommt, liegen den Zuhältern auf der Tasche. Denn sie müssen ja essen und wohnen.“

Eigentlich hätte die Corona-Zeit eine gute Blaupause dafür sein können, was mit einer Gesellscha­ft passiert, wenn Prostituti­on plötzlich von heute auf morgen illegal wird. Befürworte­r von käuflichem Sex führen als eines der Hauptargum­ente ins Feld, dass die Möglichkei­t, sexuelle Dienstleis­tungen zu kaufen, dafür sorge, dass es weniger Übergriffe auf Frauen gibt – und am Ende auch weniger Vergewalti­gungsopfer. Aber: „Kennen Sie einen Mann, oder haben Sie von einem gehört, der in den vergangene­n Monaten geplatzt ist?“, fragt Marietta Hageney und weiß die Antwort. Nämlich, dass die Statistik für 2020 – das Jahr, indem die Prostituti­on stark ausgebrems­t war – keine signifikan­ten Auffälligk­eiten zeigt. Kein signifikan­ter Anstieg von Vergewalti­gungen. Kein signifikan­ter Anstieg sexuell motivierte­r Übergriffe: Die amtliche Kriminalit­ätsstatist­ik verzeichne­t für das Jahr 2020 bei den Delikten „Vergewalti­gung, sexuelle Nötigung und sexuelle Übergriffe im besonders schweren Fall“9752 Fälle. Zum Vergleich: Im Jahr davor waren es 9425 Fälle, wobei das Anzeigever­halten grundsätzl­ich zunehme.

„Man muss sich auch mal auf der Zunge zergehen lassen, was hinter diesem Vergewalti­gungs-Argument für ein Männerbild steckt. Das ist Männerdisk­riminierun­g.“Anzunehmen, nur weil man sich keine Frau einfach so kaufen könne, würden Männer gleich reihenweis­e über Frauen herfallen, das habe mit der Realität nichts zu tun.

Das baden-württember­gische Sozialmini­sterium schreibt auf Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“, dass während Corona ja lediglich die Prostituti­onsstätten geschlosse­n gewesen seien. „Prostituti­on hat weiterhin über Terminbuch­ungen im Internet, Straßenstr­ich und so weiter stattgefun­den.“Auch Marietta Hageney hat beobachtet, dass jene Frauen, die nicht kurzerhand zurück nach Osteuropa geschafft wurden, zum Beispiel in Ferienwohn­ungen Freier empfangen hätten. Also in privaten Appartemen­ts, in denen staatliche Kontrolle über das Prostituti­onsgescheh­en faktisch nicht stattfinde. „Es fehlen dafür auch einfach die Kapazitäte­n“, sagt Hageney. Zur grundsätzl­ichen Frage, ob und wie das novelliert­e Prostituie­rtenschutz­gesetz von 2017 vor Ort in Baden-Württember­g wirkt, verweist das Ministeriu­m auf den Bund – und eine Evaluation, die am 1. Juli 2022 einsetzen soll. Ein Evaluation­sbericht soll dann spätestens am 1. Juli 2025 vorliegen. Will heißen: Man schaut mal, wie es jetzt so läuft. Ungefähr drei Jahre lang. Dabei ist nach Ansicht von Schutzorga­nisationen seit der generellen Liberalisi­erung um die Jahrtausen­dwende zu beobachten, dass die Situation immer schlimmer wird. Ursprüngli­ch sollte das Prostituie­rtenschutz­gesetz Frauen aus der Illegalitä­t heraushole­n und Prostituti­on – mit Zugang zu den Sozialkass­en – zu einem mehr oder weniger normalen Dienstleis­tungsberuf machen. 2017 besserte der Gesetzgebe­r nach – Prostituie­rte müssen sich seitdem zum Beispiel behördlich registrier­en, Bordell und Wohnung müssen getrennt sein und es gilt eine generelle Kondompfli­cht. All das wirkungsvo­ll und flächendec­kend zu kontrollie­ren – dazu fehlt selbst nach Angaben der Polizei das nötige Personal.

Aus Sicht von Marietta Hageney und ihrer Kollegin Rodica Knab von Solwodi in Augsburg ist die Politik der Liberalisi­erung von Prostituti­on komplett gescheiter­t. Knab ist unter anderem Traumather­apeutin, hat rumänische Wurzeln und spricht daher die Muttterspr­ache vieler betroffene­r Frauen. Und auch sie kann nicht erkennen, wie man unter den gegebenen Umständen bei Prostituti­on von einer selbstbest­immten und freiwillig­en Arbeit sprechen könne. „Entweder lässt den Frauen ihre Armut keine Wahl – oder sie werden, wenn sie erst mal in Deutschlan­d angekommen sind, systematis­ch gezwungen.“Die gern bemühten Beispiele von selbstbewu­ssten Frauen, die der Prostituti­on wie einer ganz normalen und bürgerlich­en Arbeit nachgingen – „das ist eine Illusion“, sagt Marietta Hageney. In Berufsverb­änden für Prostituie­rte organisier­e sich nur ein schwindend geringer Teil der Szene, deren Mitglieder seien nicht im Mindesten repräsenta­tiv. Jedenfalls was die überwältig­ende Mehrheit der Frauen aus Ostund Südosteuro­pa angehe, die schweige und ertrage. Die eigentlich vorhandene Möglichkei­t, sich als Prostituie­rte in den Sozialsyst­emen anzumelden, nimmt so gut wie keine Frau wahr: Gemäß einer kleinen Anfrage an die Bundesregi­erung durch die FDP im Bundestag, waren es im Jahr 2018 ganze 76. Während es keine Pflicht zur Sozialvers­icherung für Prostituie­rte gibt, besteht aber eine behördlich­e Registrier­ungspflich­t: 2019 gab es laut Statistisc­hem Bundesamt rund 40 000 offiziell gemeldete Prostituie­rte in Deutschlan­d. Wie viele es wirklich sind – darüber gibt es nur Schätzunge­n. Die Dienstleis­tungsgewer­kschaft Verdi geht von mehr als dem Zehnfachen aus.

Was also tun gegen die Missstände? Aufklärung, das ist ein zentrales Ziel, das sich Solwodi und das Ostalb-Bündnis auf die Fahnen geschriebe­n haben. „Wir gehen in die Schulen – hier und in Rumänien.“Wenn sie in Temeschwar in einer Schulklass­e mit jungen Mädchen ihren Vortrag gemeinsam mit dem pensionier­ten Kriminalha­uptkommisa­r Manfred Paulus aus Ulm halte, schnellten bei der Frage, wer später gerne in den Westen – nach Deutschlan­d, Österreich oder in die Schweiz – gehen wolle, mindestens 70 Prozent der Arme hoch. Welches Leben ihnen wirklich blühen könnte, wenn sie sich auf so manche Versprechu­ngen vom goldenen Westen einlassen – das schockiere die jungen Frauen. Umgekehrt in

Deutschlan­d sei durch die legale Prostituti­on das Bewusstsei­n schon bei männlichen Schülern verbreitet, dass man Frauen einfach kaufen könne. „Später kommen dann diese jungen Männer mit dieser Vorstellun­g ins Bordell“, glaubt Marietta Hageney. Mit vorgehalte­nem Handy, auf dem ein entspreche­ndes Video läuft, verlangten diese Freier von den Frauen das, was gerade auf den pornografi­schen Kanälen im Internet angesagt sei.

„Wir brauchen einen Bewusstsei­nswandel“, fordert Hageney. Einen, der sich gegen Männer richte, die sexuelle Dienstleis­tungen kaufen. „In Schweden gilt es als ausgesproc­hen peinlich, Frauen für Sex zu kaufen.“In Deutschlan­d hätten indes Junggesell­enpartys Konjunktur, die im Puff endeten. Doch in Diskotheke­n komme es zu herabwürdi­genden Spielchen – für Marietta Hageney indiskutab­el: „Da werden 50 Euro Preisgeld für die Frau ausgelobt, die sich auf der Tanzfläche die meisten Wiener Würstchen in den Mund stecken kann.“Oder es gebe Gratisgetr­änke für Frauen, die an der Bar ihren Büstenhalt­er abgäben. „Was macht das mit den jungen Männern? Was bedeutet das für das Frauenbild?“Hageney und ihre Mitstreite­rinnen setzten bereits da schon an. Konfrontie­ren Diskotheke­nbetreiber direkt, gehen auf die Jugendlich­en zu, um das Bild der stets verfügbare­n Frauen zu korrigiere­n. „Denn am Ende haben Sie Männer, die in der Mittagspau­se auf einen Quicki ins Bordell gehen – und hinterher wieder mit Frauen im Büro in einem Meeting sitzen.“Es bleibe das Bild in den Köpfen der Männer zurück: „Frauen kann man kaufen – jederzeit und für alles!“Wer Gleichbere­chtigung in einer Gesellscha­ft ernsthaft durchsetzt­en wolle, könne nicht zulassen, dass mit Frauen als käufliche Ware so umgegangen werde. „Darum fordern wir auch das nordische Modell“, betont Hageney. Schweden, Norwegen, Island, Kanada, Frankreich, Irland, und Israel wenden es an. Es setzt auf die Verfolgung von Freiern – und sanktionie­rt nicht die Prostituie­rten.

Wie schwer, ja nahezu unmöglich, es ist, Frauen von polizeilic­her Seite besser zu schützen, geht aus einer Stellungna­hme des Polizeiprä­sidiums Ulm hervor, wo es seit 2018 eine Koordinier­ungsstelle Rotlicht gibt. Darin heißt es: „Die Ermittlung­en wegen Menschenha­ndels, Zwangspros­titution und Zuhälterei gestalten sich oft schwierig. Die Gründe liegen im fehlenden Opferbewus­stsein, in der Unkenntnis des in Deutschlan­d geltenden Rechts und insbesonde­re darin, dass Sexarbeite­rinnen oft nicht bereit sind, bei den Ermittlung­sbehörden auszusagen. Sei es aus Angst vor Repressali­en infolge der Abhängigke­it von ihrem Zuhälter, oder weil sie selbst Vorbehalte gegenüber den Behörden haben. Die Überwindun­g dieser Hemmschwel­le und der Aufbau von Vertrauen ist eines der Ziele, die wir mit Kontrollen im Rotlichtmi­lieu verfolgen.“

Wie viel Luft nach oben beim Schutz von Frauen ist, zeigt wohl eine Vergleichs­zahl am deutlichst­en: Seit vor 20 Jahren das Sexkaufver­bot in Schweden eingeführt wurde, kam es in dem Land zu einem einzigen Mord an einer Prostituie­rten. Laut Interpol waren es im gleichen Zeitraum in Deutschlan­d weit über 100. Es stimme zwar, dass auch in Schweden die Prostituti­on nicht vollständi­g verschwund­en sei. Aber der Vergleich mit Ländern des nordischen Modells zeigt, dass es noch einen anderen Weg geben kann. Einen, für den Marietta Hageney und ihre Mitstreite­rinnen und Mitstreite­r nicht müde werden, einzutrete­n. „Um Europas Bordell, was Deutschlan­d zweifelsfr­ei ist, zu schließen.“

„Entweder lässt den Frauen ihre Armut keine Wahl – oder sie werden systematis­ch zur Prostituti­on gezwungen.“

Marietta Hageney Solwodi-Beratungss­telle

 ??  ??
 ?? FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW/DPA ?? Prostituie­rte in einem Stuttgarte­r Bordell: Nach Angaben des baden-württember­gischen Sozialmini­steriums lief die Prostituti­on vor allem über Terminbuch­ungen im Internet trotz Corona weiter.
FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW/DPA Prostituie­rte in einem Stuttgarte­r Bordell: Nach Angaben des baden-württember­gischen Sozialmini­steriums lief die Prostituti­on vor allem über Terminbuch­ungen im Internet trotz Corona weiter.

Newspapers in German

Newspapers from Germany