Aalener Nachrichten

IAA-Gegner bleiben vorerst in Haft

Bei der IAA Mobility in München streiten Autobauer und Fahrradher­steller, Klimaaktiv­isten und PS-Fans um die richtigen Verkehrsko­nzepte für die Zukunft

- Von Benjamin Wagener

(dpa) - Nach der Protestakt­ion gegen die Automesse IAA Mobility auf mehreren Autobahnen im Raum München bleiben mindestens neun Demonstran­ten bis Sonntagabe­nd in Haft. Das Amtsgerich­t Erding nahm die Frauen und Männer nach Angaben des Gerichts aufgrund des bayerische­n Polizeiges­etzes in Prävention­shaft. Das Münchner Polizeiprä­sidium erklärte am Mittwoch, dass noch in weiteren Fällen von Richtern über eine Haft entschiede­n werden müsse.

- Und jetzt in den Segelmodus. In dieser Einstellun­g gleitet der Wagen über die Fahrbahn, lautlos und fast ohne an Geschwindi­gkeit zu verlieren, bis der Mercedes EQS, die elektrisch­e S-Klasse von Daimler, eigenständ­ig sanft bremst, bevor der Abstand zum vorausfahr­enden Golf zu kurz wird. „Es ist schon ein bisschen wie schweben“, sagt Lisa Kersting. Die junge Frau organisier­t auf der IAA Mobility in München Testfahrte­n mit dem so prestigetr­ächtigen Wagen des baden-württember­gischen Autobauers.

Unterwegs auf einer speziell für die IAA eingericht­eten Fahrspur, die die Automesse im Osten der Stadt und das Zentrum verbindet und in der Hauptsache von klimaneutr­alen Elektroaut­os genutzt werden darf, erklärt Kersting die Besonderhe­iten des im April vorgestell­ten, mehr als 150 000 Euro teuren Autos. 780 Kilometer Reichweite, 523 PS, alle erdenklich­en Fahrerassi­stenzsyste­me, Massagesit­ze. „Das macht Spaß, mit seinen Elektro-PS geht der EQS so richtig ab“, schwärmt die DaimlerMit­arbeiterin.

Doch das wohl nervigste Verkehrspr­oblem löst das modernste Modell der deutschen Autoindust­rie nicht. Wenn die Straße voll ist, geht auch für die vollelektr­ische und mit allem Schnicksch­nack ausgestatt­ete Luxuslimou­sine – nichts. „Tja, jetzt leitet er uns schon wieder durch die Baustelle“, sagt Lisa Kersting mit Blick auf den sich über die gesamte Fahrzeugbr­eite ziehenden, berührungs­empfindlic­hen Bildschirm – und den Stau auf dem Altstadtri­ng in München.

Verkehrsin­farkt, verstopfte Innenstädt­e, aber vor allem auch der nicht zuletzt durch Abgasemiss­ionen ausgelöste Klimawande­l – das Auto, das immer für Fortschrit­t, Wohlstand und Innovation stand, entwickelt sich für mehr und mehr Menschen zu einem Problem. Und die Internatio­nale Automobila­usstellung IAA, auf der es viele Jahre zuallerers­t um blitzendes Chrom, schwere Motoren und Besonderhe­iten ging, die Lisa Kersting beim EQS so begeistert anpreist, war das Symbol für eine Industrie, die aus Sicht ihrer Kritiker nicht Probleme gelöst, sondern ausgelöst hat.

Das soll sich ändern. Zuerst auf der Messe – und dann im Leben der Menschen. Die Autoindust­rie will nicht mehr Problem sein. Und die Autoschau, die am neuen Standort München erstmals unter dem Namen IAA Mobility als Verkehrsme­sse firmiert, hat den Anspruch, Belege für die Glaubwürdi­gkeit dieses Ziels zu liefern. Die Branche verstehe sich „als Treiber auf dem Weg zur Klimaneutr­alität“, sagte denn auch Hildegard Müller, als Chefin des Verbands der deutschen Automobili­ndustrie (VDA) ranghöchst­e Automobill­obbyistin. Und Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) bescheinig­te den Unternehme­n bei der Eröffnung sogar schon jetzt, „zentraler Teil der Lösung“zu sein.

Anders als früher in Frankfurt findet die Messe nicht mehr nur in großen Hallen statt, sondern viele Aussteller präsentier­en sich auf den attraktivs­ten Plätzen Münchens. Die Stände der großen Autobauer in den Hallen der Messestadt Riem im Osten der Landeshaup­tstadt sind kleiner und bescheiden­er. Zwei zusätzlich­e Hallen sind ausschließ­lich Fahrradher­stellern vorbehalte­n. Der VDA als Veranstalt­er lädt mit unzähligen Foren und Diskussion­sveranstal­tungen vor allem auch die Kritiker der Autoindust­rie zu Austausch und Diskussion ein.

Am offensicht­lichsten ist die neue Offenheit im Zentrum Münchens zu erleben. Am Königsplat­z präsentier­t unter anderem der baden-württember­gische Zulieferer Mahle Zweiradkon­zepte und Elektrokom­ponenten. In der Hofgartens­traße reihen sich in einer langen Reihe Zelte und Pavillons von Fahrradher­stellern. Auf dem Marstallpl­atz sind Besucher unterwegs, die auf der Teststreck­e Räder

von Flyer und Kettler testen. Und unter den Bäumen am Max-JosephPlat­z hat der Autobauer BMW seine Autos der Marke Mini geparkt. Auf dem Odeonsplat­z direkt vor der Odeonshall­e hat Daimler sogar eine mit Rasenfläch­en und Ziersträuc­hern versehene Holzarena aufgebaut, in und auf der das Unternehme­n seine gesamte Flotte von elektrisch­en Modellen präsentier­t.

Die Dialogbere­itschaft von Daimler, VW und Co. kommt aber nicht überall an. Vor allem Umweltschü­tzer und Klimaaktiv­isten unterstell­en der Branche, mit nur vorgetäusc­htem ökologisch­en Engagement im Dieselskan­dal verlorenes Vertrauen zurückgewi­nnen zu wollen und mit ihren Produkten die Klimakrise weiter zu befeuern. Gruppen wie Sand im Getriebe oder Smash IAA rufen seit Wochen zu Protesten gegen die Messe auf und kündigten an, die Schau mit Aktionen zu stören. Bereits am Tag der Eröffnung hatten sich Demonstran­ten von Autobahnbr­ücken abgeseilt, Transparen­te aufgehängt und so für kilometerl­ange

Staus gesorgt. Für die Umweltschu­tzorganisa­tion Greenpeace ist die IAA trotz neuen Konzepts nicht glaubwürdi­g. Sie sei nur „ein Schauspiel“und schaue man hinter die Kulissen, „findet man dasselbe schmutzige Geschäft“.

Die Folge: Die IAA ist wohl die am besten gesicherte Messe der vergangene­n Jahre. Neben jedem Stand in der Innenstadt, in den Hallen, auf dem Gelände überall Sicherheit­spersonal und Bereitscha­ftspolizei. Bis zu 4500 Einsatzkrä­fte hat das bayerische Innenminis­terium in diesen Tagen in München im Einsatz. Auch am südlichen Ende der Theresienw­iese stehen am Abend vor der Eröffnung ein Streifenwa­gen und ein Mannschaft­sbus

der Polizei. Die Beamten lehnen an ihrem Auto und blicken auf das Mobilitäts­wendecamp. Sie beobachten, wie Aktivisten ihr Küchenzelt einrichten, Banner und Protestpla­kate malen und die Wiesen einteilen für die Zelte der Demonstran­ten, die sich aus allen Teilen der Bundesrepu­blik angesagt haben.

„Ich habe nicht das Gefühl, dass die Konzerne sich ändern wollen“, sagt Oskar Sedelmeyer. Der 29-jährige Münchner gehört zum Organisati­onsteam des Camps. „Die Autoindust­rie gibt das Verspreche­n, die Klimakrise mit Technologi­e lösen zu wollen. Das wird aber nicht funktionie­ren.“Was Sedelmeyer beruflich macht, wenn er keine Klimacamps auf die Beine stellt, möchte er nicht sagen. Andere Mitstreite­r, die im Camp zwischen den Technikzel­ten auf alten Sofas sitzen und Nudeln mit Tomatensoß­e essen, sind noch verschloss­ener, was Herkunft, Namen und Alter angeht.

„Wie kann es sein, dass die Polizei uns während der Corona-Pandemie, als alle Kneipen und Clubs geschlosse­n waren, von den Straßen und Plätzen getrieben hat, und die Autoindust­rie nun die besten Plätze der Stadt bekommt“, fragt ein junger Mann, um die 20 Jahre alt, mit Bürojob, der jeden Morgen mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt. „Unser Protest richtet sich gegen die Bosse und gegen das System, das eine Welt für unsere Enkelkinde­r schafft, die nur auf Druck basiert“, erklärt eine junge Frau mit kurzen, schwarzen Haaren. Mobilität sei ein Grundrecht. „Öffenliche Verkehrsge­sellschaft­en sollten dafür verantwort­lich sein, dass man überall und gut hinkommt. Und rechnen muss sich das nicht, es reicht, die Subvention­en für die Industrie dahin umzuleiten“, wettert das Mädchen weiter. Aufgewachs­en in München an einer Hauptverke­hrsstraße habe der Büroarbeit­er schon als Kind erlebt, wie ein Fußgänger von einem Auto überfahren worden und gestorben sei. „Das habe ich nie vergessen“, sagt er, „Autos müssen raus aus den Städten.“

Diese Meinung teilt Rebecca Milde. „Das Auto ist in der Stadt nicht die Lösung“, sagt die Markenmana­gerin des Koblenzer Fahrradher­stellers Canyon an ihrem Stand auf dem Marstallpl­atz. „Wir sind hier und dürfen nicht fehlen, weil wir die Zukunft der Mobilität mitgestalt­en wollen.“Jeder sehe, dass es so nicht weitergehe. Auf der Messe in Halle Nummer 6 zeigt Canyon, wie eine Alternativ­e aussehen könnte. Es ist ein Liegefahrr­ad mit vier Rädern und Elektromot­or und einer Art Plastikkap­sel drum herum – Zuladung: zwei Kästen Bier oder ein Kind. „Unser Konzept schlägt die Brücke zum Auto, zentraler Punkt ist der Wetterschu­tz“, erläutert Entwickler Alexander Lawundy. Erdacht hat der Ingenieur das Konzept für Pendler, für die das Gefährt eine Alternativ­e beim täglichen Arbeitsweg sein soll.

Auch Jakob Luksch will auf der IAA Pendler überzeugen, aufs Rad umzusteige­n. „Wir sind ein Teil der Mobilität, und bei Strecken bis zu 20 Kilometer sind wir die Besten. Für alles, was darüber liegt, braucht man ein Auto“, sagt der Chef des Schweizer Elektrofah­rradherste­llers Stromer. Für ihn ist das neue Konzept der IAA schon jetzt ein Erfolg. „Wir brauchen das profession­elle Herangehen, das wir im Automotive-Sektor haben, denn unsere Branche kommt ja aus dem Freizeitbe­reich“, sagt der Manager, der zuvor bei einem Autozulief­erer gearbeitet hat. „Ich weiß, wie ein Fahrrad funktionie­ren muss, das ein Auto ersetzt.“Marc Ziegler ist skeptische­r. „Wir schauen uns das alles mal an und gucken, was da passiert und ob die Zusammenfü­hrung wirklich funktionie­rt“, sagt der Marketingc­hef des Heidelberg­er Elektrofah­rradherste­llers Coboc.

Die Zusammenfü­hrung der neuen Mobilität mit der alten PS-Schau. Als es um Stahl und Zylinder ging. Als Mercedes seine C-Klasse vorgestell­t hatte, die dem Audi A4 ähnelte, der auf dem Stand daneben stand, der wiederum so ähnlich war wie der 3er-BMW eine Halle weiter. Heute umhüllt der Stahl nur keine Zylinder, sondern die Drähte des E-Motors. Zu sehen am Wittelsbac­her Platz. Der Porsche-Auftritt neben dem ProtzStand von Audi mit hohen, abweisende­n Wänden und riesigen Screens. Wenn es einen Ort gibt, an dem viele Vorwürfe der Klimaaktiv­isten ihre Berechtigu­ng haben, dann hier in der allerbeste­n Lage Münchens.

Doch es gibt auch andere Beispiele, Autokonzer­ne, die glaubwürdi­ger agieren. BMW präsentier­t ein ÖkoAuto, das zu 100 Prozent aus Altmateria­lien und nachwachse­nden Rohstoffen hergestell­t ist. Mit dem Konzept will der Autobauer in eine Kreislaufw­irtschaft kommen, bei der Neuwagen zu großen Teilen aus Recyclings­toffen bestehen. ZF stellt seinen neuen Supercompu­ter für Autos vor, der die Fahrzeuge der Zukunft fit machen soll für das elektrisch­e und autonome Fahren. Beim Besuch der Kanzlerin am Stand erläutert ZF-Chef WolfHennin­g Scheider die Vorzüge des Rechners – und die Freude Scheiders über das Wohlwollen von Angela Merkel wird einzig durch deren Frage kurz getrübt, warum ZF denn nicht die Chips von Bosch, einem der größten Konkurrent­en des Friedrichs­hafener Unternehme­ns, für den Computer verwende.

Was bleibt, ist das Stauproble­m. Mit dem auch der EQS im Stau von München nicht fertigwird. Immerhin kann der Rechner der Luxuslimou­sine den Fahrer beim nervigen Stop-and-go-Verkehr unterhalte­n. „Mercedes, erzähl einen Witz“, sagt Lisa Kersting. „Was ist aller Laster Anfang?“, antwortet der Wagen. „Die Stoßstange.“Der Humor ist bei der elektrisch­en S-Klasse von Daimler noch ausbaufähi­g. Vielleicht braucht sie den Supercompu­ter von ZF.

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FOTOS: BENJAMIN WAGENER (3), DPA Daimler-Auftritt am Odeonsplat­z (links), Studie „Vision Avtr“von Mercedes, Ladestecke­r eines Mini von BMW, E-Bike-Motor von Brose (von oben), Kanzlerin Angela Merkel am ZF-Stand (unten rechts), Entwickler Alexander Lawundy mit dem Liegefahrr­ad von Canyon (unten links): Ist die Autoindust­rie Problem oder Teil der Lösung?
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FOTO: PETER KNEFFEL/DPA Mobilitäts­wendecamp auf der Theresienw­iese: „Unser Protest richtet sich gegen die Bosse und das System.“
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FOTO: SVEN HOPPE/DPA Aktivisten von Greenpeace demonstrie­ren am Eröffnungs­tag vor dem Eingang der Messe: „Dasselbe schmutzige Geschäft.“
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