IAA-Gegner bleiben vorerst in Haft
Bei der IAA Mobility in München streiten Autobauer und Fahrradhersteller, Klimaaktivisten und PS-Fans um die richtigen Verkehrskonzepte für die Zukunft
(dpa) - Nach der Protestaktion gegen die Automesse IAA Mobility auf mehreren Autobahnen im Raum München bleiben mindestens neun Demonstranten bis Sonntagabend in Haft. Das Amtsgericht Erding nahm die Frauen und Männer nach Angaben des Gerichts aufgrund des bayerischen Polizeigesetzes in Präventionshaft. Das Münchner Polizeipräsidium erklärte am Mittwoch, dass noch in weiteren Fällen von Richtern über eine Haft entschieden werden müsse.
- Und jetzt in den Segelmodus. In dieser Einstellung gleitet der Wagen über die Fahrbahn, lautlos und fast ohne an Geschwindigkeit zu verlieren, bis der Mercedes EQS, die elektrische S-Klasse von Daimler, eigenständig sanft bremst, bevor der Abstand zum vorausfahrenden Golf zu kurz wird. „Es ist schon ein bisschen wie schweben“, sagt Lisa Kersting. Die junge Frau organisiert auf der IAA Mobility in München Testfahrten mit dem so prestigeträchtigen Wagen des baden-württembergischen Autobauers.
Unterwegs auf einer speziell für die IAA eingerichteten Fahrspur, die die Automesse im Osten der Stadt und das Zentrum verbindet und in der Hauptsache von klimaneutralen Elektroautos genutzt werden darf, erklärt Kersting die Besonderheiten des im April vorgestellten, mehr als 150 000 Euro teuren Autos. 780 Kilometer Reichweite, 523 PS, alle erdenklichen Fahrerassistenzsysteme, Massagesitze. „Das macht Spaß, mit seinen Elektro-PS geht der EQS so richtig ab“, schwärmt die DaimlerMitarbeiterin.
Doch das wohl nervigste Verkehrsproblem löst das modernste Modell der deutschen Autoindustrie nicht. Wenn die Straße voll ist, geht auch für die vollelektrische und mit allem Schnickschnack ausgestattete Luxuslimousine – nichts. „Tja, jetzt leitet er uns schon wieder durch die Baustelle“, sagt Lisa Kersting mit Blick auf den sich über die gesamte Fahrzeugbreite ziehenden, berührungsempfindlichen Bildschirm – und den Stau auf dem Altstadtring in München.
Verkehrsinfarkt, verstopfte Innenstädte, aber vor allem auch der nicht zuletzt durch Abgasemissionen ausgelöste Klimawandel – das Auto, das immer für Fortschritt, Wohlstand und Innovation stand, entwickelt sich für mehr und mehr Menschen zu einem Problem. Und die Internationale Automobilausstellung IAA, auf der es viele Jahre zuallererst um blitzendes Chrom, schwere Motoren und Besonderheiten ging, die Lisa Kersting beim EQS so begeistert anpreist, war das Symbol für eine Industrie, die aus Sicht ihrer Kritiker nicht Probleme gelöst, sondern ausgelöst hat.
Das soll sich ändern. Zuerst auf der Messe – und dann im Leben der Menschen. Die Autoindustrie will nicht mehr Problem sein. Und die Autoschau, die am neuen Standort München erstmals unter dem Namen IAA Mobility als Verkehrsmesse firmiert, hat den Anspruch, Belege für die Glaubwürdigkeit dieses Ziels zu liefern. Die Branche verstehe sich „als Treiber auf dem Weg zur Klimaneutralität“, sagte denn auch Hildegard Müller, als Chefin des Verbands der deutschen Automobilindustrie (VDA) ranghöchste Automobillobbyistin. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bescheinigte den Unternehmen bei der Eröffnung sogar schon jetzt, „zentraler Teil der Lösung“zu sein.
Anders als früher in Frankfurt findet die Messe nicht mehr nur in großen Hallen statt, sondern viele Aussteller präsentieren sich auf den attraktivsten Plätzen Münchens. Die Stände der großen Autobauer in den Hallen der Messestadt Riem im Osten der Landeshauptstadt sind kleiner und bescheidener. Zwei zusätzliche Hallen sind ausschließlich Fahrradherstellern vorbehalten. Der VDA als Veranstalter lädt mit unzähligen Foren und Diskussionsveranstaltungen vor allem auch die Kritiker der Autoindustrie zu Austausch und Diskussion ein.
Am offensichtlichsten ist die neue Offenheit im Zentrum Münchens zu erleben. Am Königsplatz präsentiert unter anderem der baden-württembergische Zulieferer Mahle Zweiradkonzepte und Elektrokomponenten. In der Hofgartenstraße reihen sich in einer langen Reihe Zelte und Pavillons von Fahrradherstellern. Auf dem Marstallplatz sind Besucher unterwegs, die auf der Teststrecke Räder
von Flyer und Kettler testen. Und unter den Bäumen am Max-JosephPlatz hat der Autobauer BMW seine Autos der Marke Mini geparkt. Auf dem Odeonsplatz direkt vor der Odeonshalle hat Daimler sogar eine mit Rasenflächen und Ziersträuchern versehene Holzarena aufgebaut, in und auf der das Unternehmen seine gesamte Flotte von elektrischen Modellen präsentiert.
Die Dialogbereitschaft von Daimler, VW und Co. kommt aber nicht überall an. Vor allem Umweltschützer und Klimaaktivisten unterstellen der Branche, mit nur vorgetäuschtem ökologischen Engagement im Dieselskandal verlorenes Vertrauen zurückgewinnen zu wollen und mit ihren Produkten die Klimakrise weiter zu befeuern. Gruppen wie Sand im Getriebe oder Smash IAA rufen seit Wochen zu Protesten gegen die Messe auf und kündigten an, die Schau mit Aktionen zu stören. Bereits am Tag der Eröffnung hatten sich Demonstranten von Autobahnbrücken abgeseilt, Transparente aufgehängt und so für kilometerlange
Staus gesorgt. Für die Umweltschutzorganisation Greenpeace ist die IAA trotz neuen Konzepts nicht glaubwürdig. Sie sei nur „ein Schauspiel“und schaue man hinter die Kulissen, „findet man dasselbe schmutzige Geschäft“.
Die Folge: Die IAA ist wohl die am besten gesicherte Messe der vergangenen Jahre. Neben jedem Stand in der Innenstadt, in den Hallen, auf dem Gelände überall Sicherheitspersonal und Bereitschaftspolizei. Bis zu 4500 Einsatzkräfte hat das bayerische Innenministerium in diesen Tagen in München im Einsatz. Auch am südlichen Ende der Theresienwiese stehen am Abend vor der Eröffnung ein Streifenwagen und ein Mannschaftsbus
der Polizei. Die Beamten lehnen an ihrem Auto und blicken auf das Mobilitätswendecamp. Sie beobachten, wie Aktivisten ihr Küchenzelt einrichten, Banner und Protestplakate malen und die Wiesen einteilen für die Zelte der Demonstranten, die sich aus allen Teilen der Bundesrepublik angesagt haben.
„Ich habe nicht das Gefühl, dass die Konzerne sich ändern wollen“, sagt Oskar Sedelmeyer. Der 29-jährige Münchner gehört zum Organisationsteam des Camps. „Die Autoindustrie gibt das Versprechen, die Klimakrise mit Technologie lösen zu wollen. Das wird aber nicht funktionieren.“Was Sedelmeyer beruflich macht, wenn er keine Klimacamps auf die Beine stellt, möchte er nicht sagen. Andere Mitstreiter, die im Camp zwischen den Technikzelten auf alten Sofas sitzen und Nudeln mit Tomatensoße essen, sind noch verschlossener, was Herkunft, Namen und Alter angeht.
„Wie kann es sein, dass die Polizei uns während der Corona-Pandemie, als alle Kneipen und Clubs geschlossen waren, von den Straßen und Plätzen getrieben hat, und die Autoindustrie nun die besten Plätze der Stadt bekommt“, fragt ein junger Mann, um die 20 Jahre alt, mit Bürojob, der jeden Morgen mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt. „Unser Protest richtet sich gegen die Bosse und gegen das System, das eine Welt für unsere Enkelkinder schafft, die nur auf Druck basiert“, erklärt eine junge Frau mit kurzen, schwarzen Haaren. Mobilität sei ein Grundrecht. „Öffenliche Verkehrsgesellschaften sollten dafür verantwortlich sein, dass man überall und gut hinkommt. Und rechnen muss sich das nicht, es reicht, die Subventionen für die Industrie dahin umzuleiten“, wettert das Mädchen weiter. Aufgewachsen in München an einer Hauptverkehrsstraße habe der Büroarbeiter schon als Kind erlebt, wie ein Fußgänger von einem Auto überfahren worden und gestorben sei. „Das habe ich nie vergessen“, sagt er, „Autos müssen raus aus den Städten.“
Diese Meinung teilt Rebecca Milde. „Das Auto ist in der Stadt nicht die Lösung“, sagt die Markenmanagerin des Koblenzer Fahrradherstellers Canyon an ihrem Stand auf dem Marstallplatz. „Wir sind hier und dürfen nicht fehlen, weil wir die Zukunft der Mobilität mitgestalten wollen.“Jeder sehe, dass es so nicht weitergehe. Auf der Messe in Halle Nummer 6 zeigt Canyon, wie eine Alternative aussehen könnte. Es ist ein Liegefahrrad mit vier Rädern und Elektromotor und einer Art Plastikkapsel drum herum – Zuladung: zwei Kästen Bier oder ein Kind. „Unser Konzept schlägt die Brücke zum Auto, zentraler Punkt ist der Wetterschutz“, erläutert Entwickler Alexander Lawundy. Erdacht hat der Ingenieur das Konzept für Pendler, für die das Gefährt eine Alternative beim täglichen Arbeitsweg sein soll.
Auch Jakob Luksch will auf der IAA Pendler überzeugen, aufs Rad umzusteigen. „Wir sind ein Teil der Mobilität, und bei Strecken bis zu 20 Kilometer sind wir die Besten. Für alles, was darüber liegt, braucht man ein Auto“, sagt der Chef des Schweizer Elektrofahrradherstellers Stromer. Für ihn ist das neue Konzept der IAA schon jetzt ein Erfolg. „Wir brauchen das professionelle Herangehen, das wir im Automotive-Sektor haben, denn unsere Branche kommt ja aus dem Freizeitbereich“, sagt der Manager, der zuvor bei einem Autozulieferer gearbeitet hat. „Ich weiß, wie ein Fahrrad funktionieren muss, das ein Auto ersetzt.“Marc Ziegler ist skeptischer. „Wir schauen uns das alles mal an und gucken, was da passiert und ob die Zusammenführung wirklich funktioniert“, sagt der Marketingchef des Heidelberger Elektrofahrradherstellers Coboc.
Die Zusammenführung der neuen Mobilität mit der alten PS-Schau. Als es um Stahl und Zylinder ging. Als Mercedes seine C-Klasse vorgestellt hatte, die dem Audi A4 ähnelte, der auf dem Stand daneben stand, der wiederum so ähnlich war wie der 3er-BMW eine Halle weiter. Heute umhüllt der Stahl nur keine Zylinder, sondern die Drähte des E-Motors. Zu sehen am Wittelsbacher Platz. Der Porsche-Auftritt neben dem ProtzStand von Audi mit hohen, abweisenden Wänden und riesigen Screens. Wenn es einen Ort gibt, an dem viele Vorwürfe der Klimaaktivisten ihre Berechtigung haben, dann hier in der allerbesten Lage Münchens.
Doch es gibt auch andere Beispiele, Autokonzerne, die glaubwürdiger agieren. BMW präsentiert ein ÖkoAuto, das zu 100 Prozent aus Altmaterialien und nachwachsenden Rohstoffen hergestellt ist. Mit dem Konzept will der Autobauer in eine Kreislaufwirtschaft kommen, bei der Neuwagen zu großen Teilen aus Recyclingstoffen bestehen. ZF stellt seinen neuen Supercomputer für Autos vor, der die Fahrzeuge der Zukunft fit machen soll für das elektrische und autonome Fahren. Beim Besuch der Kanzlerin am Stand erläutert ZF-Chef WolfHenning Scheider die Vorzüge des Rechners – und die Freude Scheiders über das Wohlwollen von Angela Merkel wird einzig durch deren Frage kurz getrübt, warum ZF denn nicht die Chips von Bosch, einem der größten Konkurrenten des Friedrichshafener Unternehmens, für den Computer verwende.
Was bleibt, ist das Stauproblem. Mit dem auch der EQS im Stau von München nicht fertigwird. Immerhin kann der Rechner der Luxuslimousine den Fahrer beim nervigen Stop-and-go-Verkehr unterhalten. „Mercedes, erzähl einen Witz“, sagt Lisa Kersting. „Was ist aller Laster Anfang?“, antwortet der Wagen. „Die Stoßstange.“Der Humor ist bei der elektrischen S-Klasse von Daimler noch ausbaufähig. Vielleicht braucht sie den Supercomputer von ZF.