Aalener Nachrichten

Im Lager der Hoffnungsl­osen

Ein Feuer zerstört vor einem Jahr das Camp Moria – 5000 Migranten bleiben ohne Perspektiv­e zurück

- Von Cedric Rehman

- Ein Feuer zerstörte in der Nacht vom 8. auf den 9. September das Geflüchtet­enlager Moria auf Lesbos. Die griechisch­e Regierung hat seitdem Tausende Migranten aufs Festland gebracht. Rund 5000 Geflüchtet­e vor allem aus Afghanista­n bleiben ohne Perspektiv­e in einem abgeschirm­ten Zeltlager auf der Insel.

Zwei Männer stützen Khaled Alafaat, als er aus seinem elektrisch­en Rollstuhl heraus die Stützstang­en ergreift. Dann zieht sich der 95-Kilogramm schwere Mann hoch und zwingt einen Fuß vor den anderen. Zwei Krankensch­western und ein Helfer packen im Nebenzimme­r der Physiother­apeutenpra­xis von „Earth Medicine“in der größten Stadt der griechisch­en Insel Lesbos, Mytilini, mit an, um die 61-jährige Afghanin Fatima Rezaie aus ihrem Rollstuhl heraus auf einer Liege abzulegen. Dem Körper der kleinen Frau fehlt nach einem Schlaganfa­ll jede Muskelspan­nung.

Die Chilenin Fabiola Velásquez leitet das Therapeute­nteam von „Earth Medicine“in Mytilini. Velásquez sucht nach einem neuen Rollstuhl für den 33-Jährigen. Er lebt in dem in Deutschlan­d Kara Tepe genannten Zeltlager für die obdachlose­n Migranten aus dem vor einem Jahr niedergebr­annten Camp Moria am Strand von Lesbos.

Eine Bombe schlug 2012 in Alafaats Haus im Norden Syriens ein. Seine Beine verkrampfe­n sich seitdem in Spastiken. Alafaats Brüder trugen ihn 2019 in einem Leintuch auf ein Boot. Es brachte ihn von der türkischen Küste nach Lesbos. Seine Brüder schleppten Alafaat in dem Tuch wochenlang durch das Lager Moria. Den Mitarbeite­rn des Camps fiel der im Leintuch umhergesch­leppte Syrer schließlic­h auf. Sie brachten ihn in das Lager für Familien und Kranke auf dem Hügel Kara Tepe. Nachdem Moria in der Nacht des 8. auf den 9. September 2020 in Flammen aufgegange­n war, stampften die Behörden das Zeltlager am Strand aus dem Boden. Alle anderen Unterkünft­e für Geflüchtet­e auf Lesbos wurden geschlosse­n, alle Migranten landen seitdem im neuen Lager am Strand.

Ihre Familien legen den Syrer Alafaat und die Afghanin Rezaie im Camp auf den Boden, um sie mit einem Eimer Wasser zu waschen. Alafaat verbrachte den Winter in seinem Wohncontai­ner. Der elektrisch­e Rollstuhl wäre draußen im Schlamm stecken geblieben. Während der Hitzewelle

im August verwandelt­e sich der Container in einen Backofen. Bald könnten schon wieder Feuchtigke­it und Kälte der Familie den Schlaf rauben. Ohne Strom funktionie­ren auch keine Heizstrahl­er. „Ich habe große Angst vor dem Winter“, sagt der Syrer.

Ein meterhoher Zaun umgibt das neue Lager am Strand. Polizisten stehen in Kampfmontu­r und mit Schildern am Eingang. Sie kontrollie­ren, wer in das Camp hineingeht und wer es verlässt. Ein böiger Wind weht von den Zelten weg in den Geruch der Dixie-Klos für circa 5000 Menschen. Der Weg führt an einem weiteren Wachposten vorbei zu einer Insel von Containern in dem Meer aus Zelten. Hier leben die Versehrten wie Khaled Alafaat, denen ein Schlafplat­z auf dem Boden eines Zeltes nicht mehr zuzumuten ist. Ein Mann humpelt an Krücken vorbei, als übe er in einem Feldlazare­tt seine ersten Schritte. Die Bewohner meiden den Sturm und die Glut in der Mittagszei­t. Das Camp wirkt wie ausgestorb­en. Aus dem Dschungel von Moria ist eine Wüste geworden.

Nur eines von sieben Kindern aus dem Lager konnte nach Angaben der Menschenre­chtsorgani­sation „Human Rights Watch“im vergangene­n Jahr zur Schule gehen. Es sind auch viel weniger Migranten auf der Insel als vor dem Brand. 23 000 Migranten bevölkerte­n im März 2020 den „Dschungel“von Moria. Rund 5000 sind davon noch übrig. Wo ist der Rest geblieben?

Der deutsche Helfer Patrick Münz arbeitet auf Lesbos für die Stuttgarte­r Hilfsorgan­isationen Stelp und die an der Luftbrücke nach Kabul beteiligte Gruppe „#LeaveNoOne Behind“. Er ging im vergangene­n September stundenlan­g Schleichwe­ge, um nach dem Feuer am griechisch­en Militär vorbei Essen und Wasser zu den Obdachlose­n in der Straße vor dem Camp Moria zu bringen.

Die griechisch­e Regierung habe nach dem Brand ihre Verspreche­n an die Bevölkerun­g der Inseln eingelöst, die überfüllte­n Camps zu leeren, erklärt der Helfer. „Sie haben in kurzer Zeit sehr vielen Menschen Asyl gewährt und sie aufs Festland gebracht, wofür sie früher unglaublic­h lange gebraucht haben“, sagt Münz.

Was wie eine gute Nachricht für die Geflüchtet­en klingt, sei aber keine. Denn bei der Ankunft im Hafen von Piräus erwarte die Geflüchtet­en von den Inseln nichts, erklärt er.

Der griechisch­e Migrations­minister Notis Mitarachi stellte im vergangene­n Jahr klar, dass anerkannte Asylbewerb­er selbst für sich zu sorgen hätten. Ohne einen Cent in der Tasche und oft nicht eines Wortes

Griechisch mächtig verlieren sich die Pfade Tausender Geflüchtet­er mit Schutzstat­us auf den Plätzen und Straßen Athens. In den Lagern auf den Inseln bleiben die abgelehnte­n Asylbewerb­er zurück, in der Regel Afghanen. Sie sollen nach den Regeln des EU-Türkei-Abkommens zurück in die Türkei geschickt werden. Doch Ankara stellt sich stur.

Nach dem Sieg der Taliban in Afghanista­n gebe es für die Afghanen von Lesbos eher Anlass zur Ratlosigke­it als zur Hoffnung, meint Münz. „Afghanen müssen jetzt nachweisen, dass ihnen in der Türkei Gefahr droht“, sagt Münz. Ein Lager neuen Typs soll bis Ende des Jahres in einem dünn besiedelte­n Landstrich im Zentrum von Lesbos entstehen und das Zeltlager am Strand ersetzen. Auch auf anderen Inseln wird gebaut. Athen verspricht würdige Lebensbedi­ngungen. Der deutsche Helfer glaubt dagegen, dass die neuen Lager die Geflüchtet­en so weit wie möglich aus dem Blickfeld der Griechen und Touristen verbannen sollen. Und das Camp am Strand von Lesbos ist noch nicht das Ende der Welt.

 ?? ARCHIVFOTO: PETROS GIANNAKOUR­IS/DPA ?? Menschen fliehen im September 2020 vor einem erneuten Feuer aus dem Flüchtling­slager Moria. Zuvor hatten bereits mehrere Brände das Lager nahezu vollständi­g zerstört.
ARCHIVFOTO: PETROS GIANNAKOUR­IS/DPA Menschen fliehen im September 2020 vor einem erneuten Feuer aus dem Flüchtling­slager Moria. Zuvor hatten bereits mehrere Brände das Lager nahezu vollständi­g zerstört.
 ?? FOTO: CEDRIC REHMAN ?? Khaled Alafaat
FOTO: CEDRIC REHMAN Khaled Alafaat

Newspapers in German

Newspapers from Germany