„Ich kenne kaum fröhliche Autoren“
Der englische Autor Jonathan Coe über das Schreiben, Billy Wilder und Melancholie
- Es gibt viel zu lachen mit Jonathan Coe. Während des einstündigen Interviews vor dem Café am Eingang des Brompton-Friedhofs im Westen Londons spricht der Autor von Bestsellern wie „Allein mit Shirley“(1994) oder „Middle England“(2018) oft mit großem Ernst – über seine Schwierigkeiten in der CovidPandemie, seinen Ärger über die Regierung von Premierminister Boris Johnson und über sein derzeitiges Buchprojekt, einen historischen Roman über Großbritanniens Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg. Gleichzeitig vergeht kaum eine Minute ohne einen Gag oder eine selbstironische Bemerkung – nicht umsonst gilt der 60-Jährige als Meister des satirischen, komischen Romans. Sein jüngstes Buch stellt eine Hommage an einen anderen großen Komödianten dar – die HollywoodLegende Billy Wilder (1906-2002). Der Autor und Regisseur legendärer Streifen wie „Sunset Boulevard“und „Eins, Zwei, Drei“stammte aus Wien und war in Berlin erfolgreich, ehe er 1933 vor den Nazis in die USA fliehen mußte und in Amerika sein Glück suchte und fand. Coes „Mr. Wilder & ich“benutzt die Dreharbeiten zu Wilders vorletztem Film Fedora von 1978 als Vorlage für das Porträt eines alternden Genies.
Mister Coe, Ihr neuer Roman „Mr Wilder & ich“stellt eine Hommage an die Filmlegende Billy Wilder dar, eine der Hauptpersonen ist eine Komponistin. Können Sie sich vorstellen als Drehbuchautor oder Komponist zu arbeiten?
Mit dem Drehbuch für einen meiner Romane, auf Deutsch als „Replay“erschienen, habe ich keine guten Erfahrungen gemacht. Da merkte ich, wie schnell beim Film etwas schiefgehen kann. Die Form reizt mich auch nicht. Wenn ich ein Buch geschrieben habe, fehlt mir die Lust, es in eine andere Form zu bringen.
Sie packen lieber etwas Neues an? So ist es. Hinzu kommt, dass ich gern für mich bin. Wenn ich mir vorstelle, ich müsste alle paar Wochen mit Leuten zusammenkommen und ihnen zeigen, was ich gemacht habe … Beim Bücherschreiben hat man die komplette Verantwortung und die totale Kontrolle, mal von dem Einfluss des Lektors abgesehen. Das ist beim Schreiben von Musik ähnlich, da bin ich mit meinem Keyboard und Computer allein. Komponist ist mir zu hoch gegriffen, dafür fehlt mir auch die Ausbildung. Ich habe immer Musik geschrieben, nur so zum Spaß, und einiges auf Spotify veröffentlicht.
Demnächst gehen Sie mit Ihrem neuen Buch auf Lesereise.
Das Wunderbare ist diesmal: Ich kann eine Stunde lang über Billy Wilder reden anstatt über mich oder über das Buch. Es gibt höchstens ein oder zwei andere Themen auf der Welt, über die ich lieber rede.
Stimmt es, dass niemand anders Ihren Stil stärker geprägt hat als der aus Wien stammende HollywoodRegisseur Wilder?
Ich glaube, das stimmt. Gerade bin ich 60 geworden. Langsam dämmert mir, dass alle meine Bücher, egal worum es vordergründig geht, einen Versuch darstellen, die Obsessionen meiner Teenagerzeit zu verarbeiten. Wilder gehörte seit ungefähr 1975 dazu.
Da waren Sie 14.
Ich habe damals seine Filme mit dem Kassettenrekorder aufgenommen und mir den Sound abends im Bett angehört, so wie heute die Leute Audiobooks konsumieren. Dadurch drang der Rhythmus seiner Dialoge tief in mein Unterbewusstsein ein. Erst gestern Abend habe ich mir mal wieder „Sabrina“mit Humphrey Bogart angeschaut. Und sobald ich die Dialoge hörte, dachte ich: ‚Genau so versuche ich selbst zu schreiben.‘ Ganz egal, mit wem er kooperierte – Wilder besaß einen ganz eigenen, hochmusikalischen Sprachrhythmus.
Haben Sie einen Lieblingsfilm? Alle Welt redet über „Manche mögen’s heiß“oder über „Das Apartment“von 1960. Aber danach hat er zwölf weitere Filme gemacht! Die mag ich besonders. Meine Favoriten sind „Das Privatleben des Sherlock Holmes“und „Avanti, Avanti!“. Sie sind melancholisch, romantisch, bittersüß. Eine Art von Herbststimmung, die ich sehr reizvoll finde.
Ihr Roman beschreibt die Dreharbeiten zu „Fedora“(1978), Wilders vorletztem Werk. Das Buch hat drei Hauptpersonen: die fiktive junge Griechin Calista, die später Komponistin wird; Billy Wilder selbst und dessen Co-Autor Iz Diamond. Mit welcher der drei Figuren identifizieren Sie sich am ehesten?
In Wilder sehe ich mich am wenigsten gespiegelt. Ich identifiziere mich ziemlich stark mit Calista, obwohl sie noch naiver ist, als ich es in ihrem Alter war, und das will was heißen. Am stärksten spricht mich Diamond an. Für einen pessimistischen Melancholiker wie ihn stellt Humor eine Art von Rettungsboot dar. Da steckt sehr viel Autobiografisches drin.
Sind Sie Melancholiker?
Ich denke schon. Viele Schriftsteller sind so. Ich kenne kaum fröhliche Autoren, vor allem nicht solche, die komische Romane schreiben.
Sie sind also einverstanden mit Ihrer Einstufung als komischer, satirischer Autor?
Die Unterteilung in komische und ernste Literatur ist mir völlig fremd. Das hat wiederum viel mit Billy Wilder zu tun: Großartige Filme, tolle Kunstwerke können gleichzeitig sehr lustig sein. Mit diesem Leitsatz wuchs ich auf. Leider gibt es viele Leute, die ganz anderer Meinung sind.
Seit Ihrem 2018 erschienenen Brexit-Roman „Middle England“hat Großbritannien den EU-Austritt vollzogen. Wie stehen Sie heute dazu?
Ich gehörte vor dem Referendum zu den Remainers, die Leavers haben gesiegt. Diese beiden Lager bestimmen nun die Politik, dagegen spielt Rechts und Links kaum noch eine Rolle. Andererseits ist der Brexit eigentlich ein abgelegtes Thema. Die Rückkehr des Landes zur EU kann man für 15, 20 Jahre ausschließen. Mich beunruhigt derzeit, dass wir die Realität nicht wirklich wahrnehmen wollen.
Wie meinen Sie das?
Der EU-Austritt wurde den Leuten als schmerzlos verkauft, ja, es werde sogar erhebliche Vorteile geben. Das war pure Fantasie. Es macht uns jetzt unmöglich, über die entstandenen Probleme vernünftig zu reden, weil wir nicht zugeben wollen, dass sie existieren.
Jonathan Coe: Mr Wilder & ich. Folio Verlag, 280 Seiten, 22,00 Euro