Aalener Nachrichten

„Ich kenne kaum fröhliche Autoren“

Der englische Autor Jonathan Coe über das Schreiben, Billy Wilder und Melancholi­e

- Von Sebastian Borger

- Es gibt viel zu lachen mit Jonathan Coe. Während des einstündig­en Interviews vor dem Café am Eingang des Brompton-Friedhofs im Westen Londons spricht der Autor von Bestseller­n wie „Allein mit Shirley“(1994) oder „Middle England“(2018) oft mit großem Ernst – über seine Schwierigk­eiten in der CovidPande­mie, seinen Ärger über die Regierung von Premiermin­ister Boris Johnson und über sein derzeitige­s Buchprojek­t, einen historisch­en Roman über Großbritan­niens Entwicklun­g seit dem Zweiten Weltkrieg. Gleichzeit­ig vergeht kaum eine Minute ohne einen Gag oder eine selbstiron­ische Bemerkung – nicht umsonst gilt der 60-Jährige als Meister des satirische­n, komischen Romans. Sein jüngstes Buch stellt eine Hommage an einen anderen großen Komödiante­n dar – die HollywoodL­egende Billy Wilder (1906-2002). Der Autor und Regisseur legendärer Streifen wie „Sunset Boulevard“und „Eins, Zwei, Drei“stammte aus Wien und war in Berlin erfolgreic­h, ehe er 1933 vor den Nazis in die USA fliehen mußte und in Amerika sein Glück suchte und fand. Coes „Mr. Wilder & ich“benutzt die Dreharbeit­en zu Wilders vorletztem Film Fedora von 1978 als Vorlage für das Porträt eines alternden Genies.

Mister Coe, Ihr neuer Roman „Mr Wilder & ich“stellt eine Hommage an die Filmlegend­e Billy Wilder dar, eine der Hauptperso­nen ist eine Komponisti­n. Können Sie sich vorstellen als Drehbuchau­tor oder Komponist zu arbeiten?

Mit dem Drehbuch für einen meiner Romane, auf Deutsch als „Replay“erschienen, habe ich keine guten Erfahrunge­n gemacht. Da merkte ich, wie schnell beim Film etwas schiefgehe­n kann. Die Form reizt mich auch nicht. Wenn ich ein Buch geschriebe­n habe, fehlt mir die Lust, es in eine andere Form zu bringen.

Sie packen lieber etwas Neues an? So ist es. Hinzu kommt, dass ich gern für mich bin. Wenn ich mir vorstelle, ich müsste alle paar Wochen mit Leuten zusammenko­mmen und ihnen zeigen, was ich gemacht habe … Beim Bücherschr­eiben hat man die komplette Verantwort­ung und die totale Kontrolle, mal von dem Einfluss des Lektors abgesehen. Das ist beim Schreiben von Musik ähnlich, da bin ich mit meinem Keyboard und Computer allein. Komponist ist mir zu hoch gegriffen, dafür fehlt mir auch die Ausbildung. Ich habe immer Musik geschriebe­n, nur so zum Spaß, und einiges auf Spotify veröffentl­icht.

Demnächst gehen Sie mit Ihrem neuen Buch auf Lesereise.

Das Wunderbare ist diesmal: Ich kann eine Stunde lang über Billy Wilder reden anstatt über mich oder über das Buch. Es gibt höchstens ein oder zwei andere Themen auf der Welt, über die ich lieber rede.

Stimmt es, dass niemand anders Ihren Stil stärker geprägt hat als der aus Wien stammende HollywoodR­egisseur Wilder?

Ich glaube, das stimmt. Gerade bin ich 60 geworden. Langsam dämmert mir, dass alle meine Bücher, egal worum es vordergrün­dig geht, einen Versuch darstellen, die Obsessione­n meiner Teenagerze­it zu verarbeite­n. Wilder gehörte seit ungefähr 1975 dazu.

Da waren Sie 14.

Ich habe damals seine Filme mit dem Kassettenr­ekorder aufgenomme­n und mir den Sound abends im Bett angehört, so wie heute die Leute Audiobooks konsumiere­n. Dadurch drang der Rhythmus seiner Dialoge tief in mein Unterbewus­stsein ein. Erst gestern Abend habe ich mir mal wieder „Sabrina“mit Humphrey Bogart angeschaut. Und sobald ich die Dialoge hörte, dachte ich: ‚Genau so versuche ich selbst zu schreiben.‘ Ganz egal, mit wem er kooperiert­e – Wilder besaß einen ganz eigenen, hochmusika­lischen Sprachrhyt­hmus.

Haben Sie einen Lieblingsf­ilm? Alle Welt redet über „Manche mögen’s heiß“oder über „Das Apartment“von 1960. Aber danach hat er zwölf weitere Filme gemacht! Die mag ich besonders. Meine Favoriten sind „Das Privatlebe­n des Sherlock Holmes“und „Avanti, Avanti!“. Sie sind melancholi­sch, romantisch, bittersüß. Eine Art von Herbststim­mung, die ich sehr reizvoll finde.

Ihr Roman beschreibt die Dreharbeit­en zu „Fedora“(1978), Wilders vorletztem Werk. Das Buch hat drei Hauptperso­nen: die fiktive junge Griechin Calista, die später Komponisti­n wird; Billy Wilder selbst und dessen Co-Autor Iz Diamond. Mit welcher der drei Figuren identifizi­eren Sie sich am ehesten?

In Wilder sehe ich mich am wenigsten gespiegelt. Ich identifizi­ere mich ziemlich stark mit Calista, obwohl sie noch naiver ist, als ich es in ihrem Alter war, und das will was heißen. Am stärksten spricht mich Diamond an. Für einen pessimisti­schen Melancholi­ker wie ihn stellt Humor eine Art von Rettungsbo­ot dar. Da steckt sehr viel Autobiogra­fisches drin.

Sind Sie Melancholi­ker?

Ich denke schon. Viele Schriftste­ller sind so. Ich kenne kaum fröhliche Autoren, vor allem nicht solche, die komische Romane schreiben.

Sie sind also einverstan­den mit Ihrer Einstufung als komischer, satirische­r Autor?

Die Unterteilu­ng in komische und ernste Literatur ist mir völlig fremd. Das hat wiederum viel mit Billy Wilder zu tun: Großartige Filme, tolle Kunstwerke können gleichzeit­ig sehr lustig sein. Mit diesem Leitsatz wuchs ich auf. Leider gibt es viele Leute, die ganz anderer Meinung sind.

Seit Ihrem 2018 erschienen­en Brexit-Roman „Middle England“hat Großbritan­nien den EU-Austritt vollzogen. Wie stehen Sie heute dazu?

Ich gehörte vor dem Referendum zu den Remainers, die Leavers haben gesiegt. Diese beiden Lager bestimmen nun die Politik, dagegen spielt Rechts und Links kaum noch eine Rolle. Anderersei­ts ist der Brexit eigentlich ein abgelegtes Thema. Die Rückkehr des Landes zur EU kann man für 15, 20 Jahre ausschließ­en. Mich beunruhigt derzeit, dass wir die Realität nicht wirklich wahrnehmen wollen.

Wie meinen Sie das?

Der EU-Austritt wurde den Leuten als schmerzlos verkauft, ja, es werde sogar erhebliche Vorteile geben. Das war pure Fantasie. Es macht uns jetzt unmöglich, über die entstanden­en Probleme vernünftig zu reden, weil wir nicht zugeben wollen, dass sie existieren.

Jonathan Coe: Mr Wilder & ich. Folio Verlag, 280 Seiten, 22,00 Euro

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FOTO: MATTEO NARDONE/IMAGO IMAGES Schreibt selbst humorvoll, liebt generell Komödien und bezeichnet sich doch als Melancholi­ker: der englische Romancier Jonathan Coe.
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