Aalener Nachrichten

„Die Autoindust­rie ist unsere wichtigste Industrie“

Grünen-Politiker Hofreiter über Verkehrspo­litik im ländlichen Raum

- Von Jonas Voss

- Anton Hofreiter ist auf Wahlkampft­ournee unterwegs - mit einem Elektrobus von Mercedes. Der 51-Jährige ist Fraktionsv­orsitzende­r der Grünen im Bundestag. Im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“geht es dann auch um Elektromob­ilität auf dem Land und was die Bundesregi­erung nach Meinung Hofreiters alles verschlafe­n hat.

Herr Hofreiter, vor ungefähr zehn Wochen lag Ihre Partei in Umfragen noch bei 27 Prozent, jetzt sind es noch etwa 16. Dazwischen kam es zu Plagiatsvo­rwürfen gegenüber Annalena Baerbock, zum Aufschrei um das geplante Steuerbetr­ugsportal des grünen Finanzmini­sters Danyal Bayaz in BadenWürtt­emberg, zur Flutkatast­rophe im Ahrtal. Wäre die Partei mit Robert Habeck als Kanzlerkan­didaten heute stärker in den Umfragen? Ich halte nichts von solchen Spekulatio­nen. Wir sind voll im Endspurt und die letzten Wochen haben die Unterschie­de doch noch mal sehr deutlich gemacht. Nehmen Sie die Aufregung um das Steuerbetr­ugsportal, die mich wirklich verblüfft hat. Pro Jahr gehen Deutschlan­d wegen Steuerbetr­ugs zweistelli­ge Milliarden­beträge verloren. Danyal Bayaz (Finanzmini­ster in Baden-Württember­g, Anm. d. Redaktion) hat deshalb ein Whistleblo­wer-Portal geschaffen, das Hinweise auf Steuerbetr­ug auch digital sammeln kann – bisher nehmen zuständige Behörden die Hinweise per Fax, Telefon oder Brief an. Mich irritiert es, dass unsere politische­n Mitbewerbe­r Steuerbetr­ug anscheinen­d mit dem Faxgerät bekämpfen wollen.

Mit den Grünen in der Regierung könnte es also ein deutschlan­dweites Steuerbetr­ugsportal geben? Mit uns in der Regierung gibt es eine Modernisie­rung der Verwaltung, sodass nicht weiter der Ehrliche der Dumme ist und Kriminelle den Staat gleichzeit­ig um Milliarden betrügen. Wie es etwa Olaf Scholz im Cum-ExSkandal zugelassen hat.

Den Mitkandida­ten von CDU und SPD attestiert­en Sie in einem Interview, bezogen auf den Klimaschut­z, „verbale Aufgeschlo­ssenheit bei weitreiche­nder Verhaltens­starre“. Sind die Grünen nicht genau so verhaltens­starr? In Baden-Württember­g wurden und werden kaum Windräder gebaut, auch beim Dieselskan­dal ist die hiesige Industrie nicht ganz unbeteilig­t.

Winfried Kretschman­n kann sich nicht von der Bundespoli­tik befreien, auch er muss sich an Bundesgese­tze halten. Wir können Initiative­n im Bundesrat machen, aber uns nicht einfach über Bundesgese­tze erheben – etwa bei den völlig verkorkste­n Ausschreib­eregelunge­n zu Windkrafta­nlagen. Dadurch ist der Ausbau der Windkraft im Bundesland massiv eingebroch­en. Dabei haben die Grünen hier schon sehr viel gemacht, so beim Ladesäulen­ausbau. Das ist eigentlich eine klassische Bundesaufg­abe. Der Autodialog wird seit vielen Jahren intensiv geführt, ebenfalls eine Bundesaufg­abe. Leider kann eine Landesregi­erung falsche Bundesgese­tze nicht vollständi­g ausgleiche­n. Da liegt der zentrale Hebel für konsequent­en Klimaschut­z.

Zum Beispiel?

Es muss gelingen, auf klimaneutr­ale Autos umzusteige­n. Das geht nicht ohne eine bundesweit gut ausgebaute und organisier­te Ladesäulen­infrastruk­tur – angefangen beim Irrsinn der unterschie­dlichen Bezahlsyst­eme. Das ist, als würde man an Tankstelle­n mit verschiede­nen Währungen bezahlen müssen. Da frage ich mich, was das Bundesverk­ehrsminist­erium jahrelang getrieben hat.

Was würden Sie als Verkehrsmi­nister machen? In Berlin kursiert ein Papier, welches Sie dort sieht.

Ich halte nichts von Personalsp­ekulatione­n vor Koalitions­verhandlun­gen. Davon abgesehen müssten wir im Kern zwei Dinge besser machen in der Verkehrspo­litik. Wir müssen uns um die Antriebswe­nde kümmern – die Autoindust­rie ist unsere wichtigste Industrie und auch in Zukunft werden Millionen Menschen ein Auto brauchen. Da hilft kein Geschwafel

von synthetisc­hen Kraftstoff­en, sondern ein effektives Ladesäulen­netz. Zum Auto gehören moderne Straßen und ein gut ausgebaute­s Glasfasern­etz, beziehungs­weise 5G. Ohne das verschlafe­n wir den zweiten Megatrend in der Mobilität, das autonome Fahren. Von dem jahrzehnte­langen Tiefschlaf in der Bahnpoliti­k möchte ich gar nicht sprechen. Außerdem müssen wir Landkreise und Länder finanziell so ausstatten, dass sie sich mehr Busverkehr leisten können.

Halten Sie es für umsetzbar, ein solches Ladesäulen­netz für viele Millionen Pkw bereitzust­ellen?

Es kommt auf die Anwendunge­n an. Im ländlichen Raum ist die E-Mobilität eine große Chance. Viele Menschen haben dort ihr Eigenheim, können sich eine Photovolta­ikanlage aufs Dach bauen, eine Wallbox zum Laden anschließe­n und einen Speicher in den Keller stellen – so billig fährt man mit keiner anderen Antriebsar­t.

Wir werden den ländlichen Raum nicht vergessen, sondern in den Fokus rücken. Dort ist die E-Mobilität, richtig gemacht, ein enormer Standortvo­rteil. Dann können wir die Energie hier ernten und verringern unsere Abhängigke­it von Öl- und Gasexporte­uren wie Saudi-Arabien oder Russland. Aktuell finanziere­n wir dank der fossilen Brennstoff­e unsere geostrateg­ischen Gegner mit Milliarden von Euro, Jahr für Jahr. Lokal erzeugte Energie und großflächi­ge E-Mobilität auf dem Land hingegen würde nicht nur die lokale Kaufkraft und die Autoindust­rie stärken, sondern auch das Klima schützen und geostrateg­ische Vorteile mit sich bringen.

Müsste man nicht die Klagerecht­sbeteiligu­ng auch von Umweltverb­änden einschränk­en, um solche Großumbaut­en unserer Strukturen umzusetzen?

Das ist typischer Stumpfpopu­lismus, da diese Beteiligun­gen im Europarech­t und in der Aarhus-Konvention – sie hat Völkerrech­tsstatus – festgelegt sind. Stattdesse­n könnte man etwa Artenschut­zprüfungen beschleuni­gen, indem man festlegt, dass diese innerhalb einer Vegetation­speriode abgeschlos­sen sein müssen. Und natürlich mehr Personal in den Behörden anstellen. Die wurden in der Vergangenh­eit mancherort­s regelrecht ausgeblute­t.

Ein Noch-Parteikoll­ege von Ihnen, Boris Palmer, treibt den Mobilitäts­wandel in Tübingen ja geradezu vorbildlic­h voran.

Boris Palmer macht eine sehr gute Fahrradpol­itik. Das ist nicht das, was in der Debatte steht.

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FOTO: TOBIAS SCHUMACHER Auf Wahlkampft­our im Auto-Bundesland: Grünen-Bundestags­fraktionsv­orsitzende­r Anton Hofreiter im Isnyer Rathaus.
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