Die Neubürger wussten sich zu behaupten
75 Jahre nach der Vertreibung aus Ungarn: Johann Wachtelschneider erzählt die Geschichte seiner Familie
- Als Bub ist er in der Grundschule gehänselt worden als einer von den „Dackeln, die kein Deutsch können“, als Erwachsener hat er Generationen von Schülern an der Hofherrnschule unter anderem in Deutsch unterrichtet: Johann Wachtelschneider. Dass er angeblich kein Deutsch konnte, hatte damit zu tun, dass er nicht in Deutschland, sondern in Ungarn zur Welt kam und deswegen als Kind einen für Ostälbler-Ohren seltsamen Dialekt sprach. Dass er und seine Familie und mit ihr viele Tausende von Heimatvertriebenen vor 75 Jahren ausgerechnet in dieser Region landeten, dürfte Zufall sein. Sie alle mussten nach Kriegsende ihre angestammte Heimat verlassen und Hab und Gut zurücklassen.
1946 war auch der damalige Landkreis Aalen vom Krieg stark zerstört. Und in diese Region kamen dann auch noch Tausende von Vertriebenen und Flüchtlingen, die darüber hinaus ihre Heimat verloren hatten. 85 000 Einwohner hatte der Landkreis Aalen damals, rund 33 000 Heimatvertriebene und Flüchtlinge musste er zusätzlich aufnehmen. Wie der Neuanfang auf der Ostalb für sie war, das soll auch am Beispiel von Johann Wachtelschneider erzählt werden.
In Soroksar wurde er geboren. Das ist längst einer der 23 Bezirke der ungarischen Hauptstadt Budapest. Seit 1720 war es ein rein deutsches Dorf, 1941 zählte Soroksar 18 000 Einwohner, die Hälfte waren Deutsche. Und die mussten auf Anordnung der Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg das Land verlassen. In Saroksar hingen 1946 Namenslisten aus, aus denen hervorging, wer wann zu gehen hatte. Wachtelschneider erinnert sich noch gut daran, wie eine Abordnung auf den Hof seines Großvaters kam und ihm eröffnete, dass er mit seiner ganzen Familie in drei Wochen ausgewiesen werde. Die Deutschen
durften nur das Nötigste mitnehmen, 50 Kilo pro Person höchstens. Kühe, Schweine, Pferde, Vorräte – alles mussten sie zurücklassen.
Wachtelschneider erzählt: „Am 8. Mai 1946 saßen allein von unserer Sippe 28 Leute, darunter ein Säugling, in einem Viehwaggon. Insgesamt fünf Züge brachten damals jeweils 1000 Menschen aus Soroksar nach Deutschland. Unsere Fahrt ins Ungewisse endete in Wasseralfingen.“Die ersten acht Tage verbrachten sie dort im Ruckenlager, dann wurden die Ungarndeutschen – noch hofften sie, bald in die alte Heimat zurückkehren zu können – auf die umliegenden Gemeinden verteilt. Die Wachtelschneiders landeten erst in Sulzdorf und später in Hüttlingen.
Während sie noch im Lager waren, erkundete Wachtelschneider mit seinem Großvater die Gegend und die beiden entdeckten am Braunenberg einen Wald. Wachtelschneider hat seine Eindrücke schriftlich festgehalten: „Ich kam aus dem Staunen
über diese gewaltigen Baumriesen nicht heraus. Und selbst mein Großvater, der mir oft Kriegsgeschichten aus den bosnisch-serbischen Wäldern erzählte, war sehr beeindruckt von den mächtigen Fichten und Buchen, die hier massenhaft standen. Für mich, der in Ungarn noch nie einen Wald in dieser Form gesehen hatte, war dies ein Erlebnis von besonderer Art.“
Nach acht Tagen im Lager wurden die Großeltern und die Familie ihres anderen Sohnes auf amerikanischen Lastwagen nach Niederalfingen gebracht. Unterwegs entdeckte der Opa eine kleine Fabrik und noch am gleichen Tag fragte er dort nach Arbeit. Der Chef stellte ihn und seinen Sohn in seiner Nagelfabrik ein unter der Bedingung, dass die beiden am nächsten Morgen ihre „körperliche Tauglichkeit“beweisen müssten. Das gelang ihnen bravourös, obwohl sie nicht hatten ahnen können, was ihnen bevorstand. Nachdem sie bereits fast den ganzen Tag gearbeitet hatten, lieferte gegen Abend ein Fahrer Rohmaterial für die Herstellung von Nägeln an: 80 Drahtbünde mit einem Durchmesser von einem Meter, jeweils 80 Kilo schwer. Die galt es abzuladen – mit der Hand und nötigenfalls unter Einsatz des Rückens. Wachtelschneider: „Nach eineinhalb Stunden härtester Knochenarbeit hatten es die beiden geschafft und damit ihren ersten zehnstündigen Arbeitstag absolviert.“
Aber auch in ihrer Freizeit bewiesen die Neubürger, dass sie sich zu behaupten wussten. Am 20. Juni 1948 löste mit der Währungsreform die DMark die Reichsmark ab. Diesen Tag wollte man im „Adler“in Hüttlingen feiern und ausklingen lassen. Schließlich gab es endlich wieder richtiges Bier anstelle des bisherigen Dünnbiers. Die „Flüchtlinge“belegten einen Ecktisch, am Stammtisch trafen sich Turner und Handballer des TV Hüttlingen. Denen missfiel, dass am Ecktisch Ungarisch gesprochen wurde und sie folglich nichts verstanden. Die Forderung, man solle gefälligst Deutsch sprechen, schließlich sei man in Deutschland und nicht im „Zigeunerland“, führte fast zur Rauferei.
Als dann aber ungarische Lieder erklangen, gingen die Einheimischen wieder auf die Barrikaden. Es müsse Schluss sein mit diesen „Zigeunerliedern“, sonst werde man alle aus der Wirtschaft werfen, drohten sie. Das Ganze endete mit der Aufforderung: „Haut ab in eure Zigeunerheimat, woher ihr ungerufen gekommen seid. Wir brauchen euch nicht, auch nicht in unserem Vereinslokal.“Damit kam es doch noch zu tätlichen Auseinandersetzungen und die Ungarndeutschen mussten sich mit Blessuren auf den Heimweg machen.
Wachtelschneider: „Nach diesem ersten und einzigen großen Streit wurde in der Gemeinde heftig über die Problematik bei der Integration zwischen Alt- und Neubürgern diskutiert. Als ausgleichende Kraft wirkte hier der junge, neugewählte Bürgermeister Albert Brobeil, mein späterer Schwiegervater.“Wachtelschneider machte übrigens eine Lehre bei den Hüttenwerken, konnte später an der Pädagogischen Hochschule in Schwäbisch Gmünd studieren und war viele Jahrzehnte Lehrer an der Hofherrnschule.