Prestigeerfolg und Pflichtsieg
In Leipzig geht der FC Bayern den nächsten Schritt beim Versuch, Automatismen und neue Impulse optimal zu mischen
- In der Nachspielzeit, soeben war das 4:1 für den FC Bayern München gefallen, glich der Rasen der Red Bull Arena von Leipzig einem bunten, chaotischen Schlachtengemälde. Die weiß-rot gekleideten Leipziger ließen die Köpfe hängen, die Hände auf die Oberschenkel gestemmt. Während Bayerns Torschütze Eric-Maxim Choupo-Moting und seine Gratulanten vor dem Tor der Gastgeber auf den Abseitscheck aus dem Kölner Videokeller warteten, lag Leroy Sané in der eigenen Hälfte am Boden – von Krämpfen geplagt.
Da kam Torhüter Manuel Neuer aus seinem Kasten gesprintet und warf sich in seinem Textmarker-orangenen Trikot auf den Flügelstürmer im schwarzen Auswärtsdress des Meisters. Sie scherzten und herzten sich. Die gute Laune vertrieb kurzfristig die Schmerzen aus Sanés ausgepumptem Körper. Vier zu eins – beim
Vizemeister. Ein Prestigeerfolg, aber auch ein Pflichtsieg.
Denn: Erst holte man in diesem Sommer RB-Trainer Julian Nagelsmann, der Zug um Zug vier Assistenten mitbrachte. Zuvor hatte Bayern Leipzigs Abwehrchef Dayot Upamecano verpflichtet, Ende August als Nachzügler noch RB-Kapitän Marcel Sabitzer. Peinlich, peinlich wäre also eine Pleite des bullenmäßig verstärkten Abonnementsmeisters gewesen. Daher konnte man sich im Münchner Lager ein Lachen nicht verkneifen.
Weil es so deutlich war. Dennoch sagte Nagelsmann 112 Tage nach seinem letzten Spiel als RB-Coach korrekterweise: „Wir waren in diesem hektischen und offenen Spiel nicht den Drei-Tore-Unterschied besser.“
Er und auch Sabitzer waren bei ihrer Rückkehr mit einem gellenden Pfeifkonzert eines Großteils der 34 000 erlaubten Zuschauer (Bundesliga-Rekord in dieser Saison) empfangen worden. Nagelsmann hatte auf einen milderen Empfang gehofft, meinte aber cool: „Emotionen gehören dazu, deshalb ist das okay.“Ein süßer Sieg war es trotzdem für den 34-Jährigen, der emotionalste und bedeutendste nach der holprigen Vorbereitung sowie dem missglückten Start mit dem 1:1 in Gladbach. Nun steht Nagelsmann nach dem dritten Ligaerfolg in Folge (12:3 Tore) bestens da.
Die Bayern im September 2021: alte Dominanz, neue Spielphilosophie. Doch die Umsetzung passt Nagelsmann noch nicht, er forscht nach der perfekten Mischung aus Automatismen und (seinen) neuen Impulsen. „Wir haben noch Entwicklungsaufgaben, daher bin ich nicht ganz so frohlockend“, meinte der gebürtige Bayer in seiner alten Wahlheimat Leipzig. „Ich will, dass wir unseren Matchplan weiterentwickeln und nicht nur auf Altbewährtes setzen“, sagte der Nachfolger von Erfolgscoach Hansi Flick und verwies auf dessen Titel (es waren sieben in 19 Monaten Amtszeit). Es sei für einen neuen Trainer
„eine Gratwanderung, zu überlegen: Wie viel Neues bringst du rein? Auf wie viel Bewährtes setzt du?“Denn das „stiftet immer ein bisschen Unruhe bei den Spielern“, so Nagelsmann, für den das 4:1 jedoch „ein Schritt in die richtige Richtung“war, „was Struktur und Positionsspiel betrifft“. Er schloss mit: „Wir können es besser spielen.“Eine deutliche Ansage nach dem Auftritt, der „das erste Ausrufezeichen der Saison“(Vorstandsboss Oliver Kahn) gewesen ist.
Was der Rest der Liga als Drohung auffassen sollte. Die bereits sieben Punkte Vorsprung auf RB seien zwar „wichtig“, so Nagelsmann, „weil wir die Qualität von RB kennen und sie noch viel punkten werden“. Außerdem stehe „aktuell noch eine Mannschaft über uns“. Der VfL Wolfsburg mit der makellosen Bilanz von vier Siegen aus vier Spielen.
Die nächste, große Aufgabe wartet bereits am Dienstag (21 Uhr/Amazon Prime live) mit dem Auftaktspiel in der Champions-League-Gruppenphase
beim FC Barcelona. Außenstürmer Serge Gnabry (kurz vor der Pause mit Hexenschuss ausgewechselt) ist fraglich, der mit Adduktorenproblemen vorsorglich nach einer Stunde geschonte Torjäger Robert Lewandowski dürfte fit werden.
Und wenn schon – man hat ja Supertalent Jamal Musiala. Mit seinen ersten fünf Ballkontakten machte der 18-jährige Joker als Ersatz für Gnabry ein Tor und eine Vorlage. Für Thomas Müller war „Jamal der absolute Zauberer des Spiels“. Der 31-jährige Weltmeister von 2014 meinte auf die Frage nach dem Generationenwechsel, ob Musiala eines Tages Müllers Stammplatz bei Bayern und in der Nationalmannschaft übernehme: „Joa, irgendwann kann er ihn haben.“Denn: „Das Gesamtpaket in seinem Alter macht ihn besonders.“
Der Gefeierte selbst blieb wie immer bescheiden, meinte: „Es hat ganz viel Spaß gemacht. Wir trainieren solche Situationen wie bei meinem Tor. Da denkt man nicht viel.“