Die Alleingelassenen
Die Zahl der Wohnungslosen nimmt drastisch zu – Die Betroffenen sind oft psychisch erkrankt – Auf Behandlung können aber nur die wenigsten hoffen
Dass Markus Heinen überhaupt noch am Leben ist, muss ihm damals selber wie ein Wunder vorgekommen sein. Als Glücksfall konnte er sein Dasein trotzdem nicht begreifen, dazu hatte ihn das Schicksal zu oft gequält. So erlitt der 52-Jährige innerhalb kurzer Zeit erst einen Herzinfarkt und bald danach einen Schlaganfall. Dem Tod schon zweimal beängstigend nah gekommen, eröffnete ihm sein Arzt noch während der Erholungsphase: „Sie haben Krebs.“All diese Erkrankungen wogen zwar schwer, sie waren aber heilbar. Ein System war bei ihm jedoch nachhaltig beschädigt: die Seele.
Heinen, der hier unter geändertem Namen erscheint, verfiel infolge der Hiobsbotschaften in Depressionen. Konnte seiner Arbeit als Schreiner bald nicht mehr nachgehen und verließ das Haus allenfalls noch für Lebensmitteleinkäufe. Fielen Briefe durch den Türschlitz, legte er sie ungeöffnet auf einen immer größer werdenden Stapel. Äußerlich schottete er sich in seinen vier Wänden ab, innerlich versank er in Dunkelheit. Diese Umstände beendete erst der Gerichtsvollzieher, der eines Tages kompromisslos an die Tür klopfte und ihm eröffnete: „Wir räumen jetzt Ihre Wohnung.“In diesem Moment war Heinen ein Mann ohne Arbeit und ohne Dach über dem Kopf, an Körper und Geist schwer erkrankt.
„Sein Schicksal hat mich arg berührt“, sagt der Sozialarbeiter Norman Kurock. „In den Tiefen seiner Depression konnte er nicht auf die Briefe und Warnungen reagieren.“Kurock leitet das Aufnahmehaus für Wohnungslose der Caritas in Ulm. Zu ihm kommen Leute, die bereits eine Karriere ohne feste Bleibe hinter sich haben, die das Wohnen erst wieder erlernen müssen. Die, wie auch Markus Heinen, irgendwie zurück in ein bürgerliches Leben wollen und dann vor Kurock sitzen, die ganze Existenz in ein paar Taschen verstaut, und fragen: „Was soll ich jetzt nur machen?“
Immerhin, diese Frage mag ein Anfang sein, stellen tun sie aber die wenigsten. „Zugeben, dass man Hilfe braucht, ist eines der schwersten Dinge überhaupt“, sagt Kurock. „Wenn dann noch eine psychische
Erkrankung dazukommt, wird dieser Schritt sehr schwierig bis unmöglich.“Das Problem: Die allermeisten Wohnungslosen leiden unter psychischen Erkrankungen.
In Deutschland leben rund 240 000 Wohnungslose (dazu kommen rund 440 000 Flüchtlinge in Unterkünften), so schätzt es die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG-W). Erstaunlicherweise gibt es dazu keine offizielle Statistik des Bundes, das soll sich nach jahrzehntelangem Drängen der Verbände im kommenden Jahr jedoch ändern. Eine Datenbasis ist überfällig, weil die Zahl der Betroffenen zunimmt und es Antworten auf die Ursachen braucht. Fest steht aber schon jetzt, dass Obdachlose, die mit Einkaufswagen und Plastiktüten durch die Fußgängerzonen ziehen, inzwischen den kleineren Teil ausmachen, das Gros kommt nächte-, tageoder auch wochenweise in Einrichtungen unter. Ihre existenziellen Probleme bleiben somit unsichtbar. Genauso wie ihre Leiden.
„Wohnungslose sind die am stärksten von psychischen Erkrankungen betroffene Bevölkerungsgruppe
überhaupt“, sagt Professor Hans-Joachim Salize vom Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim. Laut dem Versorgungsforscher leiden 70 bis 80 Prozent von ihnen an Angststörungen, Depressionen, Alzheimer, Traumata, Schizophrenie und nicht zuletzt an einer Sucht, wobei der Fachmann klarstellt: „In der Bevölkerung dominiert leider noch immer die Ansicht, Sucht beruhe auf einer charakterlichen Schwäche. In Wirklichkeit ist Sucht aber eine psychische Erkrankung.“
Genauso weit verbreitet ist die Annahme, Wohnungslose seien abgestürzte Trinker. Viele von ihnen, das zeigt eine Studie der TU München, haben jedoch eine ganz andere psychiatrische Grunderkrankung. Und auch wenn oftmals unklar bleibt, ob das seelische Leiden auf die Wohnungslosigkeit folgt oder ob es umgekehrt war, ist sicher: Beides verstärkt sich gegenseitig. Und den Betroffenen fällt es enorm schwer, dieses Spannungsfeld aus eigener Kraft aufzulösen, denn so Salize: „Die meisten von ihnen haben eine eingeschränkte Krankheitseinsicht.“
Der Tunnelblick überrascht kaum, schon gar nicht bei Süchtigen, gehören Betäubung und Verdrängung doch zum Erscheinungsbild. An Schizophrenie Erkrankte wiederum stemmen sich mit aller Kraft dagegen, ihre Autonomie und Selbstbestimmung abzugeben. Und Depressive verlieren unter der bleiernen Schwere, die auf ihrem Gemüt liegt, jeglichen Antrieb. Fehlt es den Betroffenen zusätzlich an Familie, Freunden und einem Zuhause, dann fällt es noch mal schwerer, bei einem Arzt oder in einer Klinik um Unterstützung zu bitten. „Klar, Wohnungsund Obdachlose sind eine schwierige Klientel“, sagt Salize. „Man muss die Hilfe jedoch zu diesen Menschen bringen und nicht sagen, die wird eh nicht angenommen, wir probieren es erst gar nicht.“Die Gesundheitsversorgung in Deutschland geht allerdings in der Regel nicht auf Notleidende zu, sie ist in einer KommStruktur organisiert – wer kommt, wird behandelt, wer nicht kommt, bleibt allein mit seinem Schmerz.
Urban Hansen, Ärztlicher Leiter am Zentrum für Psychiatrie (ZfP) in Friedrichshafen, versucht diese Struktur aufzubrechen. Seit Jahren (aktuell durch Corona ausgesetzt) sucht er Wohnungs- und Obdachlose in den Einrichtungen auf, um sie dort psychiatrisch zu versorgen. „Viele von diesen Personen finden schon aus Angst vor einer weiteren Stigmatisierung nicht den Weg zu uns “, sagt Hansen, der ihnen diese Ängste nehmen will. Der den Betroffenen anfangs nur zuhört, sich die oft trostlosen Lebensgeschichten schildern lässt, der Schritt für Schritt Vertrauen aufbaut. „Die Leute sollen das Gefühl bekommen, dass sie nicht ausgelacht werden wegen ihrer Probleme, dass sie ernst genommen werden.“Erst bei weiteren Besuchen bietet er gegebenenfalls Psychopharmaka an oder auch eine Behandlung in der Klinik. Diese Chance bekommt aber nicht jeder.
„Im gesamten Bereich der Psychiatrie herrscht ein ganz großer Mangel“, sagt Hansen. Schwierig war die Versorgungslage schon immer, „in den letzten Jahren hat es sich jedoch extrem zugespitzt“, so der Experte. So kann es bereits einem gut situierten Normalbürger schwerfallen, zeitnah einen Platz bei einem Psychotherapeuten oder einem Psychiater zu erhalten. Bei einem Obdachlosen,
der aufgrund von Kleidung und Körpergeruch vielleicht abstoßend wirkt, kann es zu einem Ding der Unmöglichkeit werden. Hans-Joachim Salize vom Zentralinstitut für seelische Gesundheit teilt die niederschmetternde Diagnose: „Der Hauptgrund für die schlechte Situation von Wohnungslosen liegt im Gesundheitssystem – in der psychiatrischen Unterversorgung.“
Doch selbst jene, die eine Behandlung erlangen, scheitern in der Folge an einer kaum minder hohen Hürde: dem Wohnungsmarkt.
„Wenn ein Aufenthalt in der Psychiatrie nicht mehr dringend erforderlich ist, bekommen wir
Druck von der Krankenkasse, den Patienten zu entlassen“, erklärt Hansen. Die Patienten kehren dann in der Regel zurück in ihre Wohnung, versuchen in vertrauter Umgebung einen Neuanfang. Doch wohin geht ein Mensch ohne Zuhause? Der seelisch auf extrem wackeligen Beinen steht? „Wir müssen diese Menschen aus der Klinik in die Wohnungslosigkeit entlassen“, sagt Hansen, „da ist ein Weg vorgezeichnet, den wir eigentlich verhindern wollen“, so der Facharzt, der auch von einem Drehtürmechanismus spricht: Raus aus der Klinik und irgendwann wieder rein. Denn der überteuerte und knappe Wohnungsmarkt bleibt dieser Klientel meist verschlossen.
„Wir brauchen dringend bezahlbaren Wohnraum“, bestätigt Sabine Bösing, stellvertretende Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosigkeit (BAG-W) in Berlin. Die Botschaft, so Bösing, ist inzwischen in den Köpfen der Politiker angekommen, doch die Lage verschärft sich zunehmend. „Wir müssen feststellen, dass immer öfter ganze Familien wohnungslos werden“, erklärt sie. Auch wohnungslose junge Menschen und Personen, die sich trotz Arbeit keine Bleibe mehr leisten können, würden zunehmen. Da sich jedoch weder der Wohnungsmarkt noch die psychiatrische Versorgung absehbar verbessern, liegt der Fokus auf Vorbeugung. „Der Erhalt der Wohnung steht ganz oben, in diesen Zeiten sowieso“, betont Bösing. Die BAG-W fordert daher Fachstellen für Wohnraumsicherung, bei denen die Alarmglocken schrillen, wenn Mietrückstände anlaufen und der Rausschmiss droht. Wo Mieterverbände, Wohnungsbaugesellschaften, Ämter, Gerichte, Jobcenter und psychiatrische Systeme verzahnt arbeiten, um noch rechtzeitig den Absturz zu vermeiden.
Der Datenschutz verhindert diese Schnittstellen zwar bisweilen, in Mannheim und Freiburg liefen trotzdem schon erfolgreich entsprechende Modellprojekte, wie Versorgungsforscher Salize berichtet, der ebenfalls auf den präventiven Ansatz setzt: „Wir müssen Wohnraum sichern“, sagt er und weiß auch warum: „In Krisenzeiten geht es denen am schlechtesten, die ohnehin am verwundbarsten sind.“
Die Wunden waren auch bei Markus Heinen noch nicht verheilt, als er im Aufnahmehaus für Wohnungslose in Ulm über sein ebenso ungewöhnliches wie bedrückendes Schicksal berichtete. Über die Infarkte, den Krebs, die Depressionen und sein Leben auf der Straße. „Ich wundere mich selber über mich, dass ich mich traue, Ihnen das alles zu erzählen“, sagte Heinen.
Das Vertrauen sollte sich auszahlen, denn sein Zuhörer Norman Kurock ist so etwas wie eine Ein-MannFachstelle. Der Sozialarbeiter griff zum Telefonhörer, ließ die gesperrte Krankenkassenkarte freischalten, vermittelte medizinische Betreuung, organisierte ein Bankkonto und rief den früheren Arbeitgeber an. Der überwies Heinen nicht nur liegen gebliebene Gehaltszahlungen, sondern ließ ihn auch wissen: „Wenn Sie fit sind, bewerben Sie sich doch wieder bei uns.“Heute ist der Schreiner zurück in Brot und Lohn. Und am wichtigsten: Er hat wieder das, wonach sich andere verzweifelt sehnen – ein Zuhause.
Sabine Bösing, stellvertretende Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosigkeit (BAG-W)
„Der Erhalt der Wohnung steht ganz oben, in diesen Zeiten sowieso.“