Tierhortung wird vermehrt zum Problem
Das krankhafte Horten von Tieren nimmt zu – Dahinter steckt immer auch eine menschliche Tragödie
RAVENSBURG (sz) - Das Phänomen „Animal Hording“(deutsch: Tierhortung) ist vergleichsweise neu – und hat sich zuletzt weiter verstärkt: Immer mehr Bürgerinnen und Bürger in Deutschland sammeln den Behörden zufolge Tiere in großer Anzahl. Dieses krankhafte Verhalten führt oftmals zu chaotischen Zuständen in den Wohnungen und zu einer Vernachlässigung der Tiere. Fälle von 200 Wellensittichen in einer Zweizimmerwohnung oder Hunderten Nagetieren in verrosteten Käfigen sind bekannt. Der Deutsche Tierschutzbund hat seit 2012 eine Zunahme des Phänomens um mehr als 60 Prozent registriert. Im vergangenen Jahr wurden 59 Fälle mit mehr als 3600 Tieren erfasst. Die Tierschützer gehen zudem von einer hohen Dunkelziffer aus.
RAVENSBURG - Irgendwann hatten sich die Nachbarn beschwert, weil sie den beißenden Gestank nicht mehr aushielten, der aus der Ulmer Mietwohnung im 5. Stock drang, in der eine Mutter mit ihrer erwachsenen Tochter lebte. Die alarmierten Mitarbeiter des Veterinäramts fanden unzählige Meerschweinchen, Kaninchen, Hasen und Katzen vor, eingezwängt in ihre verschmutzten Käfige oder gleich freilaufend, die sich in dem kleinen Appartement unkontrolliert vermehrten. Abgeben wollten die beiden die Tiere aber nicht, auf gar keinen Fall. Die Behörden gaben dem Widerstand ein wenig nach und nahmen zunächst nur Zweidrittel der Vierbeiner mit, der Rest durfte bleiben, aber bitte auch nicht mehr werden. „Nach drei, vier Wochen war die Bude jedoch wieder voll“, berichtet Ralf Peßmann, Leiter des Tierheims Ulm. Also fuhr das Veterinäramt abermals vor, beschlagnahmte erneut einen Großteil der Tiere. Doch es dauerte nicht allzu lange, bis der Gestank aus der Wohnung wieder anschwoll. Als die städtischen Mitarbeiter schließlich zum vierten Mal anrücken mussten, hatten sie zwei Vertreter vom Ordnungsamt dabei, vier vom Tierheim, zusätzlich vier Polizisten und einen Beschluss: „Wir nehmen jetzt alle Tiere mit.“Die Reaktion der beiden Frauen lässt sich unschwer erahnen. Sie verbarrikadierten sich in ihrer Wohnung.
Das Geschehen mag extrem klingen, die Behörden stoßen jedoch zunehmend auf solche oder ähnliche Fälle krankhaften Sammelns von Tieren. Bei dem Menschen die Kreaturen in großer Anzahl halten, bei dem Vermehrung und Vernachlässigung längst chaotische Ausmaße annehmen. Dann leben 200 Wellensittiche in einer Zweizimmerwohnung, anderswo Hunderte Nagetiere, die in verrosteten Käfigen dahinvegetieren oder Dutzende Katzen oder Hunde, die Tag für Tag durch ein vermülltes Haus streunen – und mittendrin der Mensch.
Während es den Haltern an Kraft und Einsicht fehlt, die entsetzlichen Verhältnisse zu beenden, mangelt es den Tieren an Pflege, Futter, Hygiene und tierärztlicher Betreuung. Der Deutsche Tierschutzbund hat 2012 begonnen, das Phänomen Animal Hoarding (Tierhortung) zu untersuchen und registriert seither eine Zunahme um mehr als 60 Prozent. Im vergangenen Jahr wurden 59 Fälle erfasst mit mehr als 3600 betroffenen Tieren, wobei die Tierschützer von einer extrem hohen Dunkelziffer ausgehen. Dieses Problem wird infolge der Pandemie eher größer als kleiner. „Die verstärkte Isolation der Menschen könnte langfristig zu vermehrten Fällen von Animal Hoarding führen“, warnt Moira Gerlach, Fachreferentin beim Deutschen Tierschutzbund. Die Gefahr bestehe „gerade bei denen, die schon vorher die Tendenz hatten, viele Tiere zu halten, und bei denen bereits psychische Probleme zugrunde liegen“.
Hinter der Sammelsucht können Depressionen, Angst, Beziehungsstörungen oder Psychosen stehen, begleitet von einem schleichenden Prozess, der meist mit einer guten Absicht beginnt. „Bei den Betroffenen steht am Anfang oft eine aufrichtige Tierliebe“, sagt Andrea Beetz (Foto: PR), Psychologin aus Erlangen und Expertin für MenschTier-Beziehungen. Aus zwei Hunden, so Beetz, werden dann schnell vier, aus Fürsorge plötzlich Überforderung, vor allem wenn die Halter von Labilität und innerer Not eingeholt werden. „Viele haben nicht die Energie, sich um die Tiere zu kümmern, wenn sie in einer Lebenskrise stecken“, erklärt die Psychologin. In der Folge verwahrlost ihre Behausung, sie lassen niemanden mehr rein, isolieren sich und die Tiere und verbergen lange erfolgreich die untragbaren Zustände. Bis die Nachbarn sich schließlich doch wegen des Gestanks beschweren oder das permanente Bellen einer Hundeschar nicht mehr ertragen.
Ob es zu einer Überforderung kommt, hängt allerdings nicht unbedingt von der Anzahl der Tiere ab, betont die Expertin. „Es gibt Leute, die kriegen auch 30 Hunde gut versorgt.“Andere sind mit viel Wenigeren schon völlig überlastet, dann hängt womöglich bereits der Kot im Fell oder verendete Kleintiere liegen irgendwo in der kaum noch zugänglichen Messie-Wohnung. Doch egal wie schlimm die Verhältnisse, an Einsicht fehlt es den Haltern immer, Verdrängung und Realitätsverlust gehören bis zum bitteren Ende zu den Symptomen. Dann werden die herbeigerufenen Behördenmitarbeiter angeblafft: „Meinen Tieren geht es doch gut, was wollen Sie eigentlich?“Überzeugt davon, dass einzig sie sich gut um sie kümmern können. „Die Betroffenen geraten in ein Fahrwasser nach der Art: ,Meine Tiere sind die Liebsten – Menschen dagegen wollen nur Böses’“, sagt Beetz über eine auf die Spitze getriebene Idealisierung der Kreatur.
Die Betroffenen sind aber nicht immer von einem missionarischen Eifer als Tierretter oder -pfleger angetrieben. Immer wieder entwickelt sich die Krankheit auch aus der anfänglichen Idee, Tiere zu züchten, um sie später gewinnbringend zu verkaufen. So war es zunächst auch bei Mutter und Tochter in Ulm, die erst mit Kleinvieh etwas verdienen wollten und dann im Chaos versanken. Und so war es ebenfalls vergangenes Jahr bei einer Frau aus dem Landkreis Biberach, die in ihrem Einfamilienhaus zusammen mit 70 Hunden lebte. „Da gab es keine Kontrolle mehr, entsprechend fürchterlich sah es dort aus“, berichtet Tierheimleiter Peßmann, der einen Teil der Vierbeiner aufnahm. Gegen die Beschlagnahmung legte die Frau jedoch Berufung ein, ein Prozess am Oberlandesgericht steht noch aus.
Dieser Fall zeigt, dass Tierhorter nicht unbedingt aus sozial schwachen Bevölkerungsschichten kommen müssen. Sind sie finanziell gut aufgestellt, können sie den Rechtsweg problemlos ausschöpfen oder nach Konflikten mit dem Tierschutzrecht woanders sesshaft werden, um dort mit ihrer Sammelwut von vorne zu beginnen. Genauso kann es auch vorkommen, dass die Betroffenen sich liebevoll um ihre Vierbeiner kümmern. „Dann ist die Wohnung zwar völlig hinüber, aber den Tieren geht es astrein“, berichtet Peßmann. „Das ist selten, aber kommt vor.“
Tatsächlich geht es in den allermeisten Fällen den Tieren elendig. Dann sind sie verfilzt, apathisch, unterernährt und krank, von vielen Flöhen bekommen sie kahle Stellen im Fell. Carola Fuchsloch, Vorsitzende des Tierschutzvereins Friedrichshafen, hat sich im Laufe der Jahre immer wieder den bemitleidenswerten Kreaturen angenommen, darunter Kaninchen mit angebissenen Ohren, die sich in der Enge und Überzahl gegenseitig verletzt haben. Oder als Veterinäre mit Atemmaske und Schutzanzug auf einen Schlag 18 Katzen aus einer Wohnung in Friedrichshafen holen mussten. „Die Tiere waren sehr scheu und haben sich in den verschiedensten Winkeln der Wohnung verkrochen“, berichtet Fuchsloch. Verängstigt, weil in ihrem Dasein kaum Positives erlebt, weil ohne An- und Zusprache und immer unterversorgt. Dazu kommen Reibereien und Revierkämpfe in der Paarungszeit. Sind diese Tiere zu stark verletzt, zu sehr geschwächt oder erkrankt, müssen sie euthanasiert werden.
„Für die Tierheime bedeutet jeder Fall einen enormen Aufwand“, sagt Fuchsloch. Weshalb der Tierschutzbund eine bessere finanzielle Unterstützung für die Einrichtungen anmahnt. Außerdem brauche es ein für die Veterinärstellen übergreifendes Zentralregister von Animal Hoardern, damit diese sich nicht mehr dem Zugriff der Behörden entziehen können. Und nicht zuletzt soll die Sammelsucht als Krankheitsbild anerkannt werden, um den Betroffenen leichter Therapien zu ermöglichen. Denn darin sind sich die Fachleute einig: Das Horten von Tieren beinhaltet immer eine menschliche Tragödie.
Auch Psychologin Beetz plädiert dafür, die Täter nicht nur als Tierquäler zu sehen: „Die Tiere lassen sich nur schützen, wenn man dem Menschen hilft. Daher ist es wichtig, dass diese Leute ihr Leben wieder auf die Reihe bekommen.“Was zweifellos auch für die Mutter und ihre Tochter aus Ulm gilt.
Als sich Polizei und Ordnungsamt schließlich Zugang zu der Wohnung verschaffen konnten, eskalierte die Situation. Die Tochter, emotional bis zum Äußersten angespannt, stand auf dem Balkon, mit einem der vielen Kaninchen in den Händen. Als man sie aufforderte, das Tier doch zu übergeben, warf sie es über die Brüstung in die Tiefe. Ein Schockmoment. Und das traurige Ende einer dramatischen Entwicklung. Mutter und Tochter mussten inzwischen die Wohnung räumen, an einem anderen Ort werden sie umfassend psychosozial betreut. Die Vorfälle liegen jetzt ein Dreivierteljahr zurück. „Wir haben immer befürchtet, dass man uns schon bald wieder zu ihnen rufen wird, um erneut Tiere abholen zu müssen“, sagt Tierheimleiter Peßmann. Der Hilferuf blieb bis heute aber aus.