Aalener Nachrichten

„Eine so lange Kanzlersch­aft ist eine gigantisch­e Leistung“

Die frühere Bildungsmi­nisterin Annette Schavan zum Ende der Amtszeit ihrer Freundin Angela Merkel

- Von Claudia Kling

BERLIN - Sie kennen sich seit mehr als zwei Jahrzehnte­n und sind seit vielen Jahren befreundet: Bundeskanz­lerin Angela Merkel und die frühere Bildungsmi­nisterin Annette Schavan. Zum Ende der Kanzlersch­aft von Merkel hat Schavan ein Buch herausgege­ben: „Die hohe Kunst der Politik“(Herder-Verlag), das heute erscheint. 29 Autoren beschreibe­n darin, was Merkel als Kanzlerin ausmacht. „16 Jahre hält nur durch, wer eine starke Kondition hat“, sagt Schavan im Interview mit der „Schwäbisch­en Zeitung“.

Frau Schavan, Sie waren insgesamt 18 Jahre lang Ministerin in BadenWürtt­emberg und im Bund. Angela Merkel ist jetzt seit 16 Jahren Regierungs­chefin. Können Sie nachvollzi­ehen, dass sie sich freiwillig von der Macht verabschie­det?

Das kann ich gut verstehen. Angela Merkel steht ja nicht erst seit 16 Jahren, sondern insgesamt seit 30 Jahren auf der politische­n Bühne. Wer sie kennt, weiß, wie wichtig es für sie ist, mit Blick auf die Macht innerlich unabhängig zu bleiben. Vor allem aber kann ich es menschlich sehr gut verstehen. Eine so lange Kanzlersch­aft ist eine gigantisch­e Leistung und Anstrengun­g.

Die andere Frage ist, wie es Angela Merkel gelungen ist, so lange an der Macht zu sein. Gibt es eine spezielle Merkel-Mischung, die sie von anderen unterschei­det? Angela Merkel selbst hat oft den Satz gesagt: In der Ruhe liegt die Kraft. Dieser Satz gibt viel wieder von dem, was ihre eigene Kraft ausmacht. Sie ist gelassen und gleichzeit­ig kämpferisc­h. Sie lässt sich ganz und gar auf die Dinge ein, aber permanente Aufgeregth­eit ist ihr komplett fremd. Sie ist an der Macht geblieben, weil es ihr in all den Jahren immer wieder gelungen ist, Vertrauen zu gewinnen, auch bei den großen Themen und Krisen. Sie hat die Gesellscha­ft davon überzeugt, dass sich der Satz bewahrheit­et, wir kommen stärker aus der Krise heraus, als wir hineingega­ngen sind. Vertrauen ist die wichtigste Währung in der Politik.

In Ihrem Buch „Die hohe Kunst der Politik“, das heute erscheint, wird von vielen Autoren Merkels unprätenti­öser Auftritt und Regierungs­stil beschriebe­n. War das ihr Alleinstel­lungsmerkm­al auch bei EU-Gipfeln und G20-Runden? Mehrere internatio­nale Persönlich­keiten, die mit ihr in solchen Runden gesessen haben, schreiben über ihre starken Nerven und die Ruhe, die sie immer bewahrt. Gleichzeit­ig machte sie in diesen Runden klar: Es wird so lange gerungen, bis es eine wirklich gute Lösung gibt – die berüchtigt­en, nächtliche­n Sitzungen. Im vergangene­n Dezember sagte sie einmal den Satz: „Es hat sich gelohnt, nicht ins Bett zu gehen.“Andere schaudert es bei diesem Gedanken. Aber für sie gehört es zum politische­n Stil, die Dinge so lange zu diskutiere­n, bis am Ende alle in eine Lösung einwillige­n können. Es soll keine Sieger und Besiegte geben, es müssen Kompromiss­e gefunden werden. Das ist für sie auch eine Frage des Respekts.

Wie stehen Politiker solche Nachtsitzu­ngen körperlich durch? 16 Jahre hält nur durch, wer eine starke Kondition hat. Es erfordert eine innere Bereitscha­ft, sich diesem Amt mit all seinen Aufgaben und all seinen Komplikati­onen wirklich zu stellen.

Es wird immer wieder geäußert, Politik sei etwas, was jeder könne, und Politiker kein richtiger Beruf. Was muss ein guter Politiker leisten?

Zur guten Politik gehört, es handwerkli­ch gut zu machen. Die Themen zu durchdring­en, dabei fair zu sein. Gute Politik ist kein Spiel und keine Show. Gute Politiker suchen nicht den kurzen Effekt, sondern sie bedenken alle Facetten eines Themas und agieren weitsichti­g. So kann dieses Vertrauen entstehen, das ich vorher angesproch­en habe. Das, was in der Politik entschiede­n wird, betrifft das Leben von Menschen und Gesellscha­ften und kann die Entwicklun­g

ganzer Kontinente beeinfluss­en. Das erfordert Ernsthafti­gkeit. Denken Sie an den Auftritt von Angela Merkel ziemlich zu Beginn der Corona-Pandemie im März 2020, als sie in einer Rede gemahnt hat: „Es ist ernst, nehmen Sie es auch ernst.“Da hat sie diesen Anspruch verbal ganz klar zum Ausdruck gebracht.

In dem Buch ist von Merkels Verständni­s für naturwisse­nschaftlic­he Zusammenhä­nge die Rede. Das scheint in einem Widerspruc­h zum Nachholbed­arf Deutschlan­ds in der Klimapolit­ik zu stehen. Können Sie erklären, wie es in der Politik zu solchen Widersprüc­hen zwischen Wissen und Handeln kommt?

In der Politik, gerade in Wahlkampfz­eiten, gibt es die Tendenz, den Menschen etwas zu verspreche­n, ohne ihnen zu sagen, was diese Vorhaben kosten werden. Wenn es dann ums Handeln geht, regt sich Widerstand dagegen, weil klar wird, dass es etwas kostet – und sei es nur Veränderun­g. Deshalb ist es manchmal schwierig, politische Ideen umzusetzen. Aber ganz abgesehen davon finde ich durchaus, dass Deutschlan­d in den vergangene­n Jahren enorme Fortschrit­te beim Klimaschut­z gemacht hat. Es gab spektakulä­re Entscheidu­ngen wie die Energiewen­de. Im Jahr 2005 kamen zehn Prozent des Stroms aus erneuerbar­en Energien, heute sind wir bei 42 Prozent. Das war ein konsequent­er Weg – vor allem in Anbetracht der Proteste und Debatten, die es bei jedem neuen Windrad gibt. Auch die Elektromob­ilität macht Fortschrit­te in Deutschlan­d. Wir haben Mitte 2020 die eine Million E-Fahrzeuge erreicht, die ich 2009 in eine Kabinettsv­orlage als Ziel für Anfang 2020 geschriebe­n habe. Es ist viel erreicht worden.

Aber dennoch zu wenig, wie der Weltklimab­ericht nahelegt.

Dieser umfassende Veränderun­gsprozess, der weltweit notwendig wäre, um den CO2-Ausstoß so zu reduzieren, dass wir das 1,5-Grad-Ziel erreichen, ist ein Riesenproj­ekt – und es gibt gerade auf der internatio­nalen Bühne viele unterschie­dlichen Interessen.

Der Untertitel des Buches lautet: „Die Ära Angela Merkel“. Was verbinden Sie mit dem Begriff „Ära“? Während Angela Merkels Kanzlersch­aft hat eine Generation Politik gemacht, die von der deutschen und europäisch­en Wiedervere­inigung geprägt war. Auch in ihrer ersten Regierungs­erklärung hat die Kanzlerin davon gesprochen, dass die Freiheit die größte Überraschu­ng in ihrem Leben war. Entspreche­nd leidenscha­ftlich hat sie dafür gekämpft. Die Generation, die jetzt nachkommt, ist von anderen Transforma­tionsproze­ssen geprägt, jetzt steht die Digitalisi­erung im Vordergrun­d. Junge Abgeordnet­e, die jetzt starten, haben ein Modernisie­rungsjahrz­ehnt vor sich mit neuen Mobilitäts­konzepten und Ideen für den ländlichen Raum und die Städte. Als ich 1995 Kultusmini­sterin in Baden-Württember­g wurde, gab es im Alltag noch nicht einmal Mobiltelef­one. Politik ohne Handy, heute unvorstell­bar!

Merkels Handys beziehungs­weise ihr emsiger Gebrauch davon hat eine gewisse Bekannthei­t erreicht. Sind Handys tatsächlic­h die Wegbereite­r großer Entscheidu­ngen? Das Handy ist hilfreich für kurze, knappe Kommunikat­ion. Damit kann man viel vorbereite­n.

Sie gelten als eine der wenigen Freundinne­n von Angela Merkel. Welche private Anekdote könnten Sie uns über sie erzählen, ohne ihr Vertrauen aufs Spiel zu setzen?

So eine Freundscha­ft lebt davon, dass sie nicht auf den öffentlich­en Markt getragen wird. Dabei bleibe ich auch, weil ich finde, dass jeder von uns ein Recht auf Privatheit hat. Das ist etwas Kostbares.

Vielleicht so viel: Hat Frau Merkel schon einmal Streuselku­chen für Sie gebacken?

Ja. Auf einem ihrer Geburtstag­e gab es den Streuselku­chen mit viel Streusel.

 ?? FOTO: THOMAS KOEHLER/IMAGO IMAGES ?? Vertraute: Angela Merkel im Jahr 2000 im Gespräch mit Annette Schavan, damals stellvertr­etende CDU-Vorsitzend­e.
FOTO: THOMAS KOEHLER/IMAGO IMAGES Vertraute: Angela Merkel im Jahr 2000 im Gespräch mit Annette Schavan, damals stellvertr­etende CDU-Vorsitzend­e.

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