Mängel im Familienrecht
Neue Studie zu Sorgerechts- und Umgangsverfahren
(eva) - Vorgefasste Meinungen gegenüber Müttern beeinflussen möglicherweise die Entscheidungen von Familiengerichten. Zu diesem Schluss kommt der Soziologe und Kinderrechtsexperte Wolfgang Hammer in einer aktuellen Studie. Die Untersuchung, in der Hammer rund 1000 Fälle ausgewertet hat, ist nicht repräsentativ. Sie beleuchtet Entscheidungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Familiengerichte, die die Trennung von Müttern und Kindern zur Folge hatten oder angestrebt wurden. Dabei gingen die Gerichtsurteile häufig zulasten der Kinder, so die Kritik des Autors.
Die Neue Richtervereinigung, ein Interessenverband von Richtern und Staatsanwälten in Deutschland, bezweifelt in einer Stellungnahme die Wissenschaftlichkeit der Untersuchung. Der Präsident des Kinderschutzbunds, Heinz Hilgers, sagt, die Studie gebe wichtige Hinweise auf Schwachstellen.
- Die Polizei reißt Kinder ohne Ankündigung aus ihrem Umfeld, Hinweise auf Übergriffe von Vätern werden ungeprüft abgetan, Kinder werden ohne Grund begutachtet und immer wieder befragt. Das sind Schlaglichter aus einer aktuellen Studie des Soziologen Wolfgang Hammer. Insgesamt hat Hammer darin bis Ende 2021 rund 1000 Familiengerichtsfälle ausgewertet, darunter 92 Fälle, die vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Bundesgerichtshof anhängig waren.
Der daraus verfasste Report „Familienrecht in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme“ist keine repräsentative Erhebung. Der Bericht gibt jedoch Einblicke in Schwachstellen der Familiengerichtsbarkeit und der Kinder- und Jugendhilfe. Im Kern zeigt Hammer anhand der beschriebenen Fälle eine systemisch gegen Mütter gerichtete Rechtsprechung, die Nachteile für die davon betroffenen Kinder in Kauf nimmt. Kritik an der Studie kommt vom Verband Neue Richtervereinigung. Die Fachgruppe Familienrecht des Verbands bezweifelt die Wissenschaftlichkeit der Erhebung und die daraus abgeleiteten Schlüsse.
Hammer, der von 1982 bis 2013 die Abteilung Kinder- und Jugendhilfe in der Sozialbehörde Hamburg leitete, hat die Rechtsprechung vor dem Hintergrund der Kindschaftsrechtsreformen seit 1998 analysiert. Diese hatte zum Ziel, die Situation von Trennungskindern zu verbessern. Das gemeinsame Sorgerecht von Mutter und Vater sollte zum Regelfall werden. Doch der Blick auf die Daten zeichnet ein anderes Bild: So stieg die Zahl der Umgangs- und Sorgerechtsverfahren seit 2010 in Westdeutschland um 23,6 Prozent, in Ostdeutschland sogar um 53,8 Prozent. Im Schnitt werden jährlich 148 600 Verfahren zum Umgangs- und Sorgerecht verhandelt.
In den über mehrere Jahre untersuchten Fällen geht es um Entscheidungsabläufe, die die Trennung von Müttern und Kindern zur Folge hatten oder angestrebt wurden. Davon sind laut Hammer vor allem alleinerziehende Mütter betroffen. Unter anderem befasst sich die Studie mit „problematischen Inobhutnahmen“. In 90 Prozent der 692 ausgewerteten Fälle wurde die Trennung von der Mutter mit einer zu engen MutterKind-Bindung als wesentlichen Vorwurf begründet, ohne dass es Anzeichen von Gewalt oder Vernachlässigung durch die Mutter gab.
In anderen Fällen wurden physische und psychische Gewalt gegen Mütter bagatellisiert, Hinweise auf sexuellen Missbrauch durch Väter ungeprüft als haltlos abgetan. Müttern wurde gedroht, das Kind beim Vater unterzubringen, sofern sie nicht dem Wechselmodell zustimmen – also einer hälftigen Aufteilung der Betreuung. Gerichtlich angeordnete Wechselmodelle bedeuten laut Hammer jedoch für Kinder häufig eine „Entwurzelung“: „Ihre langjährig erfolgreich gelebten Lebensmodelle werden mit gerichtlicher Anordnung von Inobhutnahme, Umplatzierungen und Wechselmodellen aller Art aufgelöst.“Zu Beginn der Verfahren seien diese Kinder in der Regel gesund und sozial gut integriert gewesen.
Der Experte, der auch Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Deutschen Kinderhilfswerks ist, hatte schon 2019 mit einer Fallanalyse zu 42 problematischen Inobhutnahmen eine breite Resonanz hervorgerufen. Seine aktuelle Bestandsaufnahme zeige einen „handfesten rechtsstaatlichen Skandal“, so betont Hammer.
Bis zu 86 000 Kinder sind laut Studie jährlich an hoch konflikthaften Verfahren beteiligt, die teils im Säuglingsalter beginnen und bis zum 18. Lebensjahr des Kindes geführt werden. Bedrückend sei das Leiden der Kinder angesichts der „hohen Taktung“von Befragungen „durch ihnen im Alltag fremde Menschen“wie Richterinnen und Richter, Verfahrensbeistände und Sachverständige. Auch ohne Gefährdungslage würden Gutachten beauftragt. Eine regelrechte „Gutachterindustrie“habe sich gebildet, die einen Jahresumsatz von über zwei Milliarden Euro Durchschnittspreis aktuell circa 8000 Euro pro Gutachten – erwirtschafte. Hammer stützt seine Rechnung auf die statistische Angabe von 270 000 Familiengutachten pro Jahr aus dem Jahr 2015. Aktuellere Zahlen gibt es nicht
Hinter den „Grundmustern der Entscheidungsfindung“sieht der Soziologe vier „Narrative“, die breit gestreut würden: Mütter würden Kinder den Vätern entfremden, nur eine 50:50-Aufteilung der Betreuungszeit würde Kinder gesund aufwachsen lassen, Mütter wollten Kinder und Geld, Mütter erfänden Gewalt und Missbrauch. Diese Narrative würden zur Begründung von Entscheidungen in familienrechtlichen Verfahren und in der Kinder- und Jugendhilfe herangezogen, obwohl sie weder wissenschaftlich noch fachlich haltbar seien. „Nach Trennung und Scheidung sind alleinerziehende Mütter erheblichen Risiken im Umgang mit dem Jugendamt ausgesetzt, während die Väter gute Chancen haben, trotz Falschaussagen und auch bei übergriffigem Verhalten die von ihnen angestrebten Änderungen bei Umgangsregelungen oder Übertragung des Sorgerechts zu erreichen“, schreibt Hammer.
Dieser Darstellung widerspricht Carsten Löbbert, Sprecher der Fachgruppe Familienrecht der Neuen Richtervereinigung, in einer Pressemitteilung. „Aus einer Sammlung von Einzelfällen zu zitieren“sei „kein auch nur halbwegs wissenschaftliches Vorgehen“, um daraus allgemeingültige Schlüsse zu ziehen. Die Richtergruppe widerspricht auch der These, hinter den Entscheidungen stünden Vorurteile gegen Mütter. „Es gibt keine verbreitete Auffassung, dass Mütter nach der Trennung die Kinder von Vätern entfremden würden“, heißt es in der Pressemitteilung.
Allerdings räumt die Fachgruppe ein, man sei „weit davon entfernt, die Situation der familiengerichtlichen Verfahren als problemlos darzustellen“. Die seit diesem Jahr bestehende Fortbildungspflicht für Familienrichter und Verfahrensbeistände sei ein wichtiger Schritt, um Qualitätsstandards zu verbessern.
Zustimmung bekommt Wolfgang Hammer unter anderem von Professor Jörg Fegert, Ärztlicher Direktor der Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie der Universitätsklinik Ulm. Die Studie lese sich „wie ein gut belegter parteilicher Aufschrei, endlich die Situation mit Blick auf das Kindeswohl, die zentrale Perspektive und Maxime im Kindesrecht und im Familienrecht, zu betrachten.“