Aalener Nachrichten

Tausende Betreuer fehlen

Mangel an Fachkräfte­n verschärft sich laut Studie durch Ganztagsan­spruch für Grundschül­er

- Von Kara Ballarin

- Die Prognosen sind düster: Bis 2025 fehlen laut Nationalem Bildungsbe­richt bundesweit bis zu 72 500 Fachkräfte in Kitas. Wenn dann ein Jahr später das Recht auf ein Ganztagsan­gebot für Grundschul­kinder greift, verschärft sich die Situation zusätzlich – hierfür fehlen demnach 65 600 Fachkräfte. Am Dienstag hat die Bertelsman­n Stiftung nachgelegt und den drohenden Mangel konkret für Baden-Württember­g und Bayern ausgewiese­n. Mit dem haben Familien heute schon vielerorts zu kämpfen. Ein Überblick.

Wie ist die aktuelle Lage?

Mehr als angespannt. Viele Kitas können offene Stellen kaum besetzen. In einer Kita in Friedrichs­hafen etwa musste zunächst die Hälfte der Kinder zu Hause bleiben, inzwischen ist der Betrieb vorübergeh­end komplett eingestell­t. Andere Einrichtun­gen reduzieren Öffnungsze­iten – etwa in Uttenweile­r im Kreis Biberach oder in Neuhausen ob Eck im Kreis Tuttlingen. In den Laupheimer Kitas sind laut Stadt aktuell 17,7 Stellen unbesetzt – das ist jede sechste. Das liege auch am Berufsimag­e, sagt Stefan Dittrich vom Johanniter-Regionalve­rband Bodensee-Oberschwab­en, der Kitas unter anderem in Ravensburg betreibt. „Dass eine Erzieherin nichts verdient, stimmt zum Beispiel nicht“, sagt er. Das Einstiegsg­ehalt liege bei ihnen mit 3280 Euro etwa höher als in der Verwaltung.

Wie entwickeln sich die Zahlen?

Das hat die Bertelsman­n Stiftung bereits im vergangene­n Jahr erhoben und kam zum Ergebnis, dass bis 2030 zusätzlich 33 000 bis 41 000 Betreuungs­kräfte im Südwesten und sogar bis zu 46 000 in Bayern fehlen könnten. Nun hat die Stiftung neue Zahlen dazu vorgelegt, wie sich die Lage durch den Ganztagsan­spruch für Grundschul­kinder verschärft.

Welche Lücke tut sich auf?

Wegen des Ganztagsan­spruchs fehlen laut Studie bis 2030 bundesweit mehr als 100 000 zusätzlich­e Fachkräfte. Im Osten Deutschlan­ds werde es wohl zwar ausreichen­d Personal geben, allerdings sollte dort nachgelegt werden, um die Standards des Westens etwa beim Betreuungs­schlüssel zu erreichen. In ihren Analysen beschreibe­n die Studienmac­her unterschie­dliche Szenarien. Für Baden-Württember­g sehen diese eine Lücke von 12 000 Fachkräfte­n voraus, wenn jedes Grundschul­kind die vollen Ganztagsbe­treuungsze­iten in Anspruch nähme. Näherte sich der Südwesten dem Betreuungs­grad in Ostdeutsch­land von 86 Prozent an, fehlten 9100 Kräfte. Würde ein Teil der Kinder nur eine Mittagsbet­reuung in Anspruch nehmen, fehlten immer noch 6000 Mitarbeite­r. Die Lücke, die laut Studie in Bayern klafft, ist noch größer – nämlich zwischen 10 000 bis 21 000.

Wie realistisc­h sind die Szenarien?

Die Richtung stimmt sicher: Sobald der Ganztagsan­spruch für Grundschul­kinder beginnt, steigt der Personalbe­darf. Viele Fragezeich­en bleiben aber. So ist noch völlig unklar, wie stark hierfür Erziehungs­fachkräfte eingesetzt werden, die dann Kitas fehlen würden. Denkbar ist, dass auch viele andere Profession­en zum Einsatz kommen – etwa Sozialpäda­gogen, Jugend- und Heimerzieh­er, Ehrenamtle­r aus den Vereinen und vieles mehr. Baden-Württember­g bindet bereits ein breites Spektrum solcher Fachkräfte in den Ganztagsun­terricht ein.

Die Bertelsman­n Stiftung legt zum Teil andere Daten zugrunde als das Land, wie etwa Norbert Brugger vom Städtetag im Südwesten erklärt. Die Stiftung spricht von 45 Prozent der Grundschul­kinder mit Ganztagsbe­treuung plus weiteren 16 Prozent, die über Mittag betreut werden. Nach Erhebung des Kultusmini­steriums und der kommunalen Spitzenver­bände sind es im Schuljahr 2021/ 2022 indes insgesamt 53 Prozent aller Grundschul­kinder, die irgend eine Art von Betreuung erhalten. Sie rechnen mit einem Zuwachs um zehn bis 15 Prozent, wenn der Anspruch in Kraft tritt, erklärt Brugger. „Unsere

Zahlen fundieren auf dem Solidesten, was es gibt: einer Vollerhebu­ng.“

Ein Sprecher von Kultusmini­sterin Theresa Schopper (Grüne) verweist zudem auf die Kinderbetr­euungsstud­ie des Deutschen Jugendinst­ituts von 2019. Demnach hatten 42 Prozent baden-württember­gischer Eltern eine Ganztagsbe­treuung für ihr Kind abgelehnt. Und auch Brugger sagt: „Es wird weiter Halbtagssc­hule geben – gerade auch im oberschwäb­ischen Raum. Davon bin ich überzeugt.“Lediglich 462 und damit jede fünfte Grundschul­e im Land ist eine Ganztagssc­hule. Denn viele Eltern wünschen sich mehr Flexibilit­ät als drei oder vier verpflicht­ende Schultage bis zum Nachmittag – selbst wenn sich Unterricht mit anderen Aktivitäte­n abwechselt.

Welche Reaktionen gibt es?

Laut Verband Bildung und Erziehung decken sich die Zahlen der Studie mit eigenen Erhebungen zum Bedarf an pädagogisc­hen Fachkräfte­n. Südwest-Landeschef Gerhard Brand appelliert an die Verantwort­lichen in Land und Kommunen, mehr junge Menschen für den Beruf zu begeistern und das vorhandene Personal zu halten. „Es sind profession­elle und attraktive Arbeitsbed­ingungen zu schaffen, die es dem Personal ermögliche­n, im Job gesund zu bleiben und alt zu werden“, sagt er. Bessere Bedingunge­n wie kleinere Kita-Gruppen und mehr Gesundheit­sschutz fordert auch Monika Stein, Chefin der Gewerkscha­ft Erziehung und Wissenscha­ft Baden-Württember­g. „Es ist völlig unklar, mit wem der Rechtsansp­ruch auf einen Ganztagspl­atz an der Grundschul­e ab dem Schuljahr 2026/27 umgesetzt werden soll“, betont sie. Schoppers Sprecher hält dagegen, dass das Land die Zahl der Ausbildung­splätze für Erzieherin­nen und Erzieher seit 2008 fast verdoppelt hat.

Brugger mahnt, jetzt bereits künftige Grundschul­standorte zu definieren, wo der Ganztagsan­spruch erfüllt werden soll. „Der Anspruch ist ja zeitlich viel umfassende­r als alles, was es bisher gibt.“Ab 2026 gilt er für Grundschül­er der ersten Klasse. In den drei folgenden Jahren weitet sich der Anspruch um jeweils eine Klassenstu­fe aus. Er umfasst 40 Stunden pro Woche – auch während Ferienzeit­en bis auf insgesamt vier Wochen. „Auch deshalb braucht es jetzt stadtinter­ne und interkommu­nale Abstimmung­en, wo primär investiert werden muss.“Hierauf müsse Personal und Fördergeld des Bundes, das im Herbst für Investitio­nen fließen soll, konzentrie­rt werden. „Überall das Komplettga­nztagsange­bot hätte zudem Kannibalis­ierungseff­ekte zur Folge, wäre auch nicht finanzierb­ar.“

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FOTO: SOEREN STACHE/DPA Ab 2026 greift in Deutschlan­d sukzessive der Rechtsansp­ruch für Grundschul­kinder auf Ganztagsbe­treuung.

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