Attacke am Unabhängigkeitstag
22-Jähriger nach Schüssen in Chicago festgenommen – Weiter Debatte um Waffenrecht
- Die Nachbarschaft von Highland Park ist so ziemlich das Gegenteil der bettelarmen „South Side“von Chicago. Während in den schwarzen Nachbarschaften Schusswaffengewalt zum traurigen Alltag gehört, rühmt sich das in Filmen wie „Home Alone“dargestellte Heile-Welt-Idyll für seine niedrige Kriminalitätsrate. Acht von zehn Einwohner in Highland Park sind weiß, verdienen im Schnitt 150 000 US-Dollar und führen ein meist sorgenfreies Leben.
An diesem Nationalfeiertag vereinte der durch die unkontrollierte Verbreitung von Schusswaffen ermöglichte Terror eines der ärmsten mit einem der reichsten Wohngebiete der „Windy City“. Auf der South Side kamen fünf Menschen ums Leben, in Highland Park nördlich von Chicago sechs. Für Schlagzeilen allein sorgt die Schusswaffengewalt vor der Kulisse des mit Laubbäumen bewachsenen Vorortes.
Dort hatte sich eine fröhliche Festtags-Parade mit patriotisch geschmückten Wagen, Fußgruppen und Blaskapellen gerade in Bewegung gesetzt, als gegen zehn Uhr morgens Schüsse fielen. Dee Dee Strauss (64) saß mit ihrem Bruder und Schwägerin vor dem „Walker Brothers“-Restaurant, um den patriotischen Umzug zu verfolgen. Wie viele andere Besucher dachte sie, dies seien Salutschüsse für die Veteranen oder Feuerwerkskörper. „Plötzlich sah ich Leute auf dem Boden, blutüberströmt“, erinnert sich Dee Dee an den Moment, in dem sie realisierte, was los war.
Panisch versuchten die Menschen in alle möglichen Richtungen zu flüchten, während der Schütze vom Dach eines Kosmetikladens aus mit einer kriegstauglichen Waffe in die Menge schoss. Als der Terror vorüber war, hatten sechs Menschen ihr Leben verloren, mehr als vierzig weitere erlitten zum Teil schwere Verletzungen.
Er habe als Arzt schon viele schlimme Szenen gesehen, beschreibt David Baum gegenüber der New York Times den Schauplatz nach der Tat. Die Opfer seien regelrecht zerfetzt gewesen. „Das ist schwer zu verarbeiten.“
Nach einer achtstündigen Verfolgungsjagd konnte die Polizei den mutmaßlichen Täter festnehmen. Es handelt sich um den Sohn eines lokalen Feinkostladen-Besitzers, der in der 30 000-Einwohnerstadt einmal erfolglos als Bürgermeister angetreten war. Was den 22-jährigen Gelegenheitsarbeiter
zu seiner mörderischen Bluttat angetrieben hatte, blieb zunächst unklar.
Einiges deutet auf psychische Probleme des langhaarigen, stark tätowierten Mannes hin, der sich als „Awake the Rapper“auf Youtube versucht hatte. In einer seiner inzwischen gelöschten Postings klagt er: „Ich hasse es, wenn andere mehr Aufmerksamkeit im Internet bekommen, als ich.“
US-Präsident Joe Biden äußerte sich „schockiert über die sinnlose Schusswaffengewalt“. Er hob die bescheidenen Verschärfungen im Waffenrecht hervor, die der Kongress kürzlich beschlossen hatte. Dazu gehören zusätzliche Personen-Überprüfungen, die Waffen aus den Händen von Gefährdern halten sollen. „Aber es gibt noch viel mehr zu tun, und ich werde den Kampf gegen die Epidemie der Waffengewalt nicht aufgeben.“
Deutlicher äußerte sich der Gouverneur von Illinois, J.B. Pritzker. Es gebe keine Worte „für diese Art von Monster, das auf der Lauer liegt und in eine Menge aus Familien mit Kindern feuert“. Gebete allein seien zu wenig, „den Terror der außer Kontrolle geratenen Waffengewalt in unserem Land zu beenden“.
Es handelte sich um das dritte Massaker, das in den vergangenen Wochen für weltweite Schlagzeilen sorgte. Die Angriffe im Mai auf einen Supermarkt in Buffalo im Bundesstaat New York und kurz darauf auf eine Grundschule im texanischen Uvalde hatten erstmals seit 30 Jahren eine überparteiliche Mehrheit für eine Mini-Reform des Waffenrechts im Kongress zustande bekommen. Parallel dazu erleichterte ein Urteil des obersten Gerichts der USA den Zugang zum Erwerb von Waffen.
Dass die Konsequenzen nun das Vorstadt-Idyll von Highland-Parks erreichten, zeigt nach Ansicht von Kritikern des bestehenden Waffenrechts, dass es in Amerika keinen Ort mehr gibt, an dem sich Menschen sicher fühlen können. „Der 4. Juli sollte eigentlich ein Tag sein, Gemeinschaft und Freiheit zu feiern“, erklärte Bürgermeisterin Nancy Rotering. „Stattdessen ringen wir mit dem Terror, der uns heimsuchte“.
An diesem Unabhängigkeitstag vereinte die Gewalt die Armen im Süden Chicagos und die Reichen im Norden in Furcht, Trauer und Hilflosigkeit. Laut dem „Gun Violence Archive“handelte es sich um die 308. und 309. Massenschießerei mit mehr als vier Opfern.