Die „Hölle des Nordens“als privater Himmel
John Degenkolb freut sich auf das Kopfsteinpflaster rund um Roubaix – Viele Radprofis fürchten die Tour-Etappe
(SID) - Bei Kilometer 123,4 kommt John Degenkolb nach Hause. Zumindest erreicht er seine zweite Heimat. Dann biegt das Feld der Tour de France am Mittwoch auf den Kopfsteinpflaster-Sektor ein, der seit zwei Jahren offiziell den Namen des deutschen Radstars trägt. Und wahrscheinlich wird „Dege“, der sich diesen Ritterschlag mit seinem grandiosen Sieg bei Paris-Roubaix 2015 verdient hat, dann trotz aller Anstrengung ein wenig warm ums Herz werden.
„Es gibt immer noch keine Worte, die meine Gefühle beschreiben. Ich konnte mir die Ehre nicht vorstellen, bei der Königin aller Klassiker meine eigene Pflasterpassage mit meinem Namen zu erhalten“, sagte Degenkolb im Rückblick auf die emotionale „Taufe“vor 100 Ehrengästen. Kein Wunder, dass die Rückkehr auf das Terrain seines „Lieblingsrennens“zum Höhepunkt der achten Tour des 33-Jährigen wird. „Auf die Pflasterstein-Etappe blicke ich mit großer
Vorfreude“, sagt Degenkolb. Elf Kopfsteinpflaster-Sektoren, die berüchtigten Paves, mit 19,4 Kilometer Gesamtlänge warten auf dem fünften Tour-Teilstück nach Arenberg – darunter auch Degenkolbs „Privat-Pave“beim Weiler Wandignies-Hamage. Weit weniger als beim „OriginalRoubaix“(zuletzt 30 Sektoren über 54,8 Kilometer), aber genug, um Spezialisten wie Degenkolb deutlich zu bevorteilen. „Ich weiß, dass das die
Etappe ist, die wir am besten kennen“, sagt der Geraer, der nach fünf Jahren zum DSM-Team (einst GiantAlpecin) zurückgekehrt ist: „Wir waren vor Ort, haben uns das angesehen. Das gehört zu unseren Hausaufgaben – genauso wie die Kletterer die Hochgebirgsetappen kennen.“
Wenn es nach und um Roubaix geht, hat Degenkolb seine Hausaufgaben stets erledigt, zwei seiner größten Erfolge feierte er auf den
Rumpelrouten des nordfranzösischen Kohlenpotts. Die Hölle des Nordens wurde für ihn der Himmel auf Erden. 2015 triumphierte er in seinem besten Karriere-Jahr kurz nach seinem Mailand-Sanremo-Sieg als nach Josef Fischer (1896) zweiter Deutscher bei Paris-Roubaix. 2018 gewann Degenkolb auch die Tour-Pave-Etappe nach Roubaix. Es war sein emotionalster Sieg – zwei Jahre zuvor war er im Training von einer Autofahrerin umgemäht und schwer verletzt worden, litt lange an den Folgen.
Heute, das muss man nüchtern festhalten, ist Degenkolb nicht mehr der einstige Supersprinter und Klassiker-Favorit, den bis dato letzten seiner 48 Profisiege feierte er 2020 bei der Luxemburg-Rundfahrt, der letzte große Coup war der TourEtappensieg 2018. Doch Degenkolb hat sich neu erfunden, lotst nun die jungen Teamkollegen als erfahrener „Road Captain“durch die Rennen.
„Es ist eine neue Rolle für mich, aber ich freue mich auf diese Position“, sagt er. Beim Höllenritt hat der stolze Pave-Besitzer alle Freiheiten.