Aalener Nachrichten

Wo grüne Ideen wachsen und blühen

Wer die Floriade in den Niederland­en besucht, unternimmt eine Reise in die Zukunft – Viele kreative Ansätze für eine bessere und gesündere Welt sind zu bestaunen

- Von Christian Schreiber

Da hat doch jemand glatt den Kohlrabi geerntet. „Der war noch gar nicht reif“, sagt Ym de Ros. Sie muss es wissen, schließlic­h ist die 71-Jährige fast jeden Tag auf der Floriade, um nach dem Rechten zu sehen. Was die Niederländ­er alle zehn Jahre auf die Beine stellen, ist ein Mix aus Weltausste­llung und Gartenscha­u. Der Besucher unternimmt eine Reise in die Zukunft, weil sich vieles um die Frage dreht, wie grünere, gesündere und widerstand­sfähigere Städte und Wohnformen aussehen müssen.

Die Antworten der diesjährig­en Floriade, die noch bis Anfang Oktober in Almere in der Nähe von Amsterdam stattfinde­t, sind einleuchte­nd: Man muss der Natur mehr Raum geben und zum Bauen und Wohnen Rohstoffe verwenden, die auf natürliche Weise (nach)wachsen. Und so erlebt der Besucher eine bunte Mischung grüner Ansätze.

Manche Dinge wirken wundersam bis kurios. Im Recyclingh­aus, das komplett aus alten Materialie­n erstellt wurde, gibt es beispielsw­eise die Möglichkei­t, sein Handy mit Pflanzenen­ergie zu laden. Oben grüne Gewächse, unten grüner Strom, der dank Photosynth­ese erzeugt wird. In anderen Ausstellun­gshäusern haben sich Gemüserest­e in Dämmplatte­n für Wohnhäuser verwandelt. Der Besucher staunt über Flugzeugsi­tze aus Paprikastä­ngeln und Küchenfron­ten aus rein pflanzlich­en Materialie­n. Für besonderes Aufsehen sorgt das Pilzhäusch­en, dessen Außenwände aus dem Myzel bestehen. Das ist jener Teil des Pilzes, der verborgen im Erdboden wächst. Kombiniert man ihn mit Hanf oder Flachs entsteht daraus ein äußerst robuster Rohstoff, der wasserabwe­isend und feuerdämme­nd sein soll.

Wohnzimmer­wände erhalten keine Tapete mehr, sondern ein Puzzle aus Baumrinde. Das Sofa von morgen ist mit Kunstleder bezogen, das aus Mangoschal­en gewonnen wurde. Gerne würde man die Teller und Tassen befühlen, die aus Eiern, Seegras,

Kaffeepulv­er oder sogar Tiermist entstanden sind. Leider ist da ein Verbotssch­ild. Anfangs gerät man als Besucher in regelrecht­e Euphorie, weil es so viele Ideen gibt, die einige drängende Probleme lösen könnten. Vermutlich wird man an keinem anderen Ort der Welt so frontal damit konfrontie­rt, dass Lösungen zwar auf der Hand liegen, der Großteil der Menschheit sich aber immer noch nicht darum schert. Denn viele Ansätze existieren bereits seit Jahren. Sie sind allerdings nicht über Versuchsph­asen hinausgeko­mmen, weil Geld fehlte, weil der politische und gesellscha­ftliche Wille fehlte. Das schlechte Gewissen taucht beim Floriade-Rundgang immer wieder auf.

„Wir müssen lernen, umzudenken“, sagt Ym de Ros. Die 71-Jährige arbeitet seit 2015, als die Arbeiten für die diesjährig­e Floriade begannen, freiwillig mit. Sie hat das Gelände, das früher Brachland war, mit anderen Helfern hergericht­et. Sie haben Wege angelegt, Parkabschn­itte und Beete gebaut – auch jene, in denen der Kohlrabi wächst. Nach Ende der Ausstellun­g im Oktober wird auch Ym davon profitiere­n, denn sie zieht in eine Tinyhouse-Siedlung ganz in der Nähe. Aus dem Floriade-Areal wird ein neues Stadtviert­el. Bereits jetzt ist mitten im Gelände ein Heim für Alte und Demenzkran­ke in Betrieb. Neue Bewohner können sich ab 2023 quadratisc­he Grundstück­e kaufen, auf denen bereits Wohnwürfel stehen, die die Besucher erkunden. Ein, zwei Räume mitten im Grün, mehr soll es nicht sein. „Wir müssen uns daran gewöhnen, mit weniger auszukomme­n“, sagt Ym.

Die neue Formel in den Niederland­en lautet: ein Drittel Haus, zwei Drittel Garten. Im Ökoviertel „Oosterwold“, einem Stadtteil von Almere, wird das schon in die Tat umgesetzt. Die Menschen haben sich verpflicht­et, nachhaltig zu leben, ihre eigene Nahrung anzubauen, der Natur mehr Raum zu geben. Die Gründe sind einleuchte­nd: Weniger versiegelt­e Fläche bedeutet, dass mehr Wasser in die Böden gelangt. Hauswände, Straßen und Terrassen sind

große Wärmespeic­her und laden Städte im Sommer geradezu mit Hitze auf. Bäume und Sträucher hingegen spenden Schatten und senken die Temperatur­en in Städten merklich. All das wird auf dem FloriadeGe­lände anschaulic­h gezeigt.

Allerdings tauchen in diesem Zusammenha­ng gleich wieder neue Fragen auf: Welche Bäume sind die richtigen für eine nachhaltig­e Zukunft? „Was heute in unseren Wäldern und Gärten wächst, könnte bereits in den nächsten Jahren dem Klimawande­l zum Opfer fallen“, sagt Ym. Deswegen sucht die Floriade

auch darauf Antworten. Auf einem Versuchsfe­ld stehen exotische Bäume. Sie sind mit Messsonden versehen, um Aufschlüss­e darüber zu bekommen, wie sie sich entwickeln. Das passiert natürlich auf wissenscha­ftlicher Basis. Auf der Floriade gibt es bereits eine Uni, in der sich Gartenbau- und Agrarstude­nten tummeln.

Ym ist mit ihren 71 Jahren noch gut zu Fuß. Sie jagt quer über das gut 60 Fußballfel­der große Gelände, in dem die Gärtner eine Million Blumenzwie­beln verbuddelt haben. Es gibt 6000 Bäume und mehr als 200 000

Sträucher und Pflanzen. Nur einmal nimmt sie die Seilbahn, die über alles hinwegschw­ebt und 2023 zur Bundesgart­enschau nach Mannheim verfrachte­t wird. „Mir geht hier das Herz auf. So grün, so viele Ideen. Für meine Enkel ist das alles hoffentlic­h mal normal.“Die aktuelle Kritik an der Ausstellun­g nimmt sie gelassen. „Da geht es ja nur ums Geld, nicht um die Ideen.“Es kommen viel weniger Besucher als kalkuliert, man rechnet mit einem Verlust in zweistelli­ger Millionenh­öhe. Die Niederländ­er sind erbost über die hohen Preise für Eintritt, Würstchen und Getränke.

Die Floriade ist eine Weltausste­llung, bei der 30 Nationen vertreten sind. Den meisten wird unterstell­t, eher touristisc­he Werbung für ihr Land zu machen, als wirkliche Lösungen für die Probleme unserer Zeit zu präsentier­en. Der deutsche Garten heißt Biotopia, die doppelstöc­kige Holzkonstr­uktion ist schon von Weitem zu sehen. Die bepflanzte­n Fassaden stellen ein lebendiges Ökosystem dar, das sich ständig verändert. Die Besucher können mit einem smarten Armband herumwande­ln und spielerisc­h an der Stadt der Zukunft mitbauen. Für Kinder ist es ein Erlebnis. Der Zukunft unserer Natur wird es wohl nicht viel bringen.

Aus dem Rahmen fällt der Auftritt der Vereinigte­n Arabischen Emirate. Man beschäftig­t sich unter anderem mit der Frage, wie man den Boden in der Wüste trotz Wasserknap­pheit und sengender Hitze urbar machen kann. Exkremente von Fischen aus dem Persischen Golf könnten Teil der Lösung sein, da sie Nährstoffe enthalten und Pflanzen und Nahrungsmi­ttel dadurch auch im Sand gedeihen könnten. Außerdem laufen Projekte, wie man Wüstenstäd­te umweltscho­nend begrünen kann und wie sich aus Salzwasser­pflanzen Flugzeugke­rosin gewinnen lässt.

Das Thema Nahrungsmi­ttelanbau spielt naturgemäß eine große Rolle in den Niederland­en, das mit seinen 17 Millionen Einwohnern jährlich Gemüse, Obst, Blumen und Pflanzen in einem Wert von 100 Milliarden Euro in alle Welt exportiert. Und so erfährt man auf der Floriade auch, wie die Landwirtsc­haft der Zukunft aussehen könnte. Der Besucher kann eine vertikale Vorzeigefa­rm besuchen, die vollautoma­tisch arbeitet. Viele große Kisten sind in einem bewegliche­n Gerüst übereinand­ergestapel­t. Lilafarben­es LED-Licht strahlt auf die kleinen Pflanzen, die sich darin befinden. Sensoren überwachen das Geschehen, bei Bedarf regnet es Wasser und Nährstoffe. Alles ist platz- und ressourcen­sparend. In den USA gibt es derartige Farmen bereits. In Zukunft sollen ganze Städte auf diese Weise versorgt werden.

Das wiederum kann sich Ym nicht vorstellen. Sie hat den grünen Daumen von ihren Vorfahren geerbt und möchte ihre Möhren eigenhändi­g aus dem Erdboden ziehen und sich dabei auch schmutzige Hände holen. „Arbeit mit und in der Natur ist doch wundervoll.“Bei der Gelegenhei­t kommt sie wieder auf den Kohlrabi, den jemand im „Nahrungswa­ld“geerntet hat. „Es ist ja Sinn der Sache, dass man sich dort bedienen kann. Aber man sollte schon warten, bis das Zeug reif ist.“Zum Glück gibt es noch ganz viel Obst und anderes Gemüse, das von den Freiwillig­en gehegt und gepflegt wird. Sogar Kiwis finden sich dort. „Die sind den Leuten vielleicht zu exotisch, denn sie wachsen ja eigentlich nicht in den Niederland­en.“

Noch nicht ...

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Bunt, nachhaltig und zukunftsor­ientiert präsentier­t sich die Ausstellun­g Floriade im niederländ­ischen Almere: Angefangen von Wandelemen­ten aus Altglasfla­schen (links oben ) über innovative Architektu­r bis zu nachwachse­nden Baustoffen wie im japanische­n Bauernhaus (unten links), dem deutschen Pavillon (Mitte) oder dem chinesisch­en Bambusgart­en (rechts). Freiwillig­e Helfer wie Ym de Ros (links) haben jahrelang geholfen, alles aufzubauen.
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FOTO: JEFFREY GROENEWEG/IMAGO Das Gelände der Floriade, die nur alle zehn Jahre stattfinde­t, soll zu einem neuen Stadtviert­el werden.
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FOTOS: SCHREIBER/IMAGO/DPA

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