Kühlen Kopf bewahren
Zwei Raketeneinschläge auf Nato-Territorium – schon allein die aufgeregten Reaktionen nach der ersten Meldung aus Ost-Polen zeigen, wie blank die Nerven liegen. Es sind schon wegen kleinerer Anlässe Kriege ausgebrochen. Und den meisten ist klar: Ein kleiner Funke könnte genügen – und wir stünden vor einem Weltenbrand mit unabsehbaren Folgen.
Umso wichtiger ist es, dass jedes Ereignis in diesem Krieg, wie empörend oder schrecklich es im ersten Moment auch aussehen mag, mit kühlem Kopf bewertet wird. Wenn der ukrainische Präsident kurz nach dem Einschlag der Raketen eine entschlossene Reaktion fordert, ist das aus seiner Sicht verständlich. Er hat das Wohl seines Landes im Blick, das mit jedem einzelnen Geschoss ein Stück weiter zerstört wird. Aber es bedeutet nicht, dass seine Unterstützer im Ausland dieser Forderung unmittelbar nachkommen müssen.
Die Untersuchung des Vorfalls zeigt: Das war richtig so. Denn es waren eben keine gezielt oder versehentlich auf Polen gerichtete Raketen Russlands, sondern ukrainische Abwehrraketen, die zwei polnische Menschen das Leben gekostet haben. Die rote Linie, kein Nato-Territorium zu treffen, hat Russland bisher nicht überschritten. Dennoch muss man sich immer wieder klarmachen: Gäbe es den schlimmen Raketenbeschuss der Russen nicht, hätte keine Abwehrrakete aufsteigen müssen. Die beiden polnischen Opfer wären noch am Leben. So wie Tausende Ukrainer auch, die im Krieg bereits ihr Leben verloren haben.
Die Nüchternheit zu bewahren, fällt angesichts des Leids und der Zerstörungen schwer. Aber sie ist notwendig, damit strategisch richtige Schlussfolgerungen gezogen werden können. Gerade in unklaren Situationen können überhastete Entscheidungen fatale Konsequenzen nach sich ziehen. An einer Eskalation des Konflikts hat – vielleicht mit Ausnahme der Rüstungsindustrie – niemand ein Interesse. Nur eines darf nicht geschehen: dass Nüchternheit in Gleichgültigkeit umschlägt. Denn dieser Krieg, wie lange er auch dauern mag, ist und bleibt Unrecht.