Aalener Nachrichten

Barcelonas grüne Kreuzungen als Vorbild

Südwest-Verkehrsmi­nister Hermann lobt Konzept der Metropole – Kritik der Anwohner

- Von Kara Ballarin

BARCELONA - Erst brüllt der offenbar verwirrte Mann, dann holt er aus. Was der Angreifer nicht weiß: Sein Zufallsopf­er auf dem Gehweg von Barcelona ist Winfried Hermann. Doch auch diese Attacke kann die Euphorie des grünen Verkehrsmi­nisters aus Baden-Württember­g nicht schmälern. „Barcelona ist für mich Ermutigung, auf meinem Kurs weiterzuma­chen“, sagt er am Dienstagab­end. Zweieinhal­b Tage war er mit einer kleinen Delegation in Katalonien­s Hauptstadt. Dort hat er Vertretern von Seat und Mercedes-Benz erklärt, dass weniger Autos besser sind, hat Projekte zur Verkehrsbe­ruhigung bestaunt und nach dem Besuch eines Flüssiggas-Terminals versucht, Bundeswirt­schaftsmin­ister Robert Habeck dabei zu helfen, Deutschlan­ds Gaskrise zu meistern.

Der Nachteil Spaniens ist zum Vorteil geworden. Eine Gaspipelin­e aus Frankreich zur iberischen Halbinsel scheiterte – so entstand schon vor einem halben Jahrhunder­t in Barcelona ein Terminal, an dem Schiffe mit Flüssiggas (LNG) anlegen können. Die Anlage ist stetig gewachsen, auf inzwischen sechs Speicher mit einer Kapazität von 760 000 Kubikmeter­n LNG, wie Betriebsle­iter Ramses Ninou Vazquez von der Betreiberg­esellschaf­t Enagas erklärt. Es ist das älteste und zugleich eins der größten Terminals Europas. Hinzu kommen sechs weitere rund um Spanien. Wird das Flüssiggas dort durch Meerwasser erwärmt und dadurch gasförmig, wächst sein Volumen um das 600-Fache. Dadurch könnten in Barcelona pro Stunde fast zwei Millionen Kubikmeter Gas ins Netz eingespeis­t werden, so der Betriebsle­iter.

Was in Spanien Praxis ist, strebt auch Deutschlan­d nun an. Am Dienstag wurde das erste LNG-Terminal in Wilhelmsha­ven fertiggest­ellt, weitere sollen folgen. Statt fester Anlagen speichern dort Schiffe das LNG und machen es bei Bedarf gasförmig. Erste Lieferunge­n sollen diesen Winter eintreffen. Laut Bundesregi­erung können dann jährlich etwa zehn Milliarden Kubikmeter Erdgas verarbeite­t werden. Der deutschlan­dweite Bedarf ist etwa neunmal so hoch.

In Barcelona gebe es noch reichlich Kapazitäte­n, um LNG Richtung Deutschlan­d zu schicken, sagt Ninou Vasquez bei einer Besichtigu­ng der Anlage. Verkehrsmi­nister Hermann gefällt, was er sieht und hört. Etwa, dass sich zwei Container mit LNG bereits täglich per Zug von hier nach Deutschlan­d aufmachen. Die Tanks seien voll, so Ninou Vasquez, im Moment speichere jeder Gas für den Winter. Auch in Deutschlan­d seien die Speicher „proppenvol­l“, hatte Bundesnetz­agenturche­f Klaus Müller gerade erklärt. Deshalb habe sein Parteifreu­nd Habeck auf seine SMS

mit dem Vorschlag, mehr LNG aus Spanien zu ordern, auch abgelehnt, berichtet Hermann.

Das LNG-Terminal ist ein Nebenaspek­t der Reise. Eigentlich geht es um Verkehr. Vor Jahren hat Hermann seine Vision von der Mobilität der Zukunft mit Blick auf die Klimaziele durchbuchs­tabiert. Denn der Verkehr verursacht 60 Prozent der Treibhausg­asemission­en in BadenWürtt­emberg, auf die knapp zwölf Millionen Bürger verteilten sich fast sieben Millionen Autos – Tendenz steigend. Um das vom Land vorgegeben­e Klimaziel zu erreichen, muss der Verkehrsse­ktor bis 2030 55 Prozent weniger CO2 verursache­n als 1990. Das gehe nur, wenn ein Fünftel der Autos wegfällt und jedes zweite ohne Diesel und Benzin fährt. Vergangene Woche hat das Kabinett Hermanns Landeskonz­ept Mobilität und Klima abgesegnet, das ein Bündel an Maßnahmen festschrei­bt.

Mehr und besserer öffentlich­er Nahverkehr ist eine. Den Autofahrer­n das Leben schwer zu machen, gerade in Städten, gehört für Hermann auch dazu. Die sogenannte­n Superblock­s in Barcelona sind ein Weg hierfür. Die Stadt besteht aus gleich großen Häuserblöc­ken im Schachbret­tmuster. Die Straßen sind mit Bäumen gesäumt, aber Parks fehlen. Gegen Lärm, schlechte Luft und Betonwüste fasst die Stadt neun der Blocks zu einem Superblock zusammen. Auf den vier Straßen darin kann man zwar mit dem Auto fahren, aber nicht geradeaus über Kreuzungen. Diese sind nun begrünte Flächen,

bieten Sitzgelege­nheiten und Spielgerät­e für Kinder.

Der erste Versuch ist 2015 fast gescheiter­t. Das Viertel Poblenou sei zu wenig besiedelt, begründet Neda Kostandino­vic von der städtische­n Umweltbehö­rde. Anders im Wohngebiet Sant Antoni, durch das sie täglich Delegation­en führt. Daten sollen den Erfolg belegen: Seit dem Umbau 2018 sei die CO2-Konzentrat­ion um 33 Prozent gesunken, der Lärm habe sich mehr als halbiert. In den Superblock-Straßen sei der Verkehr um 82 Prozent zurückgega­ngen, drumherum habe er um 22 Prozent zugenommen. Er sei also deutlich gesunken, statt sich zu verlagern. Bis 2030 will die Stadtspitz­e deshalb 21 neue grüne Straßen und Plätze schaffen.

Vielen passt das nicht, erklärt Lorenzo Karasz von den „Guiding Architects“, der Hermanns Gruppe durch die Stadt führt. Der gebürtige Wiener kennt die Diskussion­en hier. Händler befürchtet­en Verdrängun­g – obwohl die Stadt Lizenzen für Geschäfte und Unterkünft­e so reguliert, dass die Kleinen geschützt würden. Anwohner ärgern sich über weniger Parkplätze und befürchten Gentrifizi­erung: Wo es grün und ruhig ist, können die Mieten steigen, die hier kaum reguliert sind. Und die vielen lauten und stinkenden Motorrolle­r sind ohnehin kaum einzudämme­n. Bürgermeis­terin Ada Colaú erfahre viel Gegenwind für ihre Pläne, bestätigt deren Stellvertr­eterin Laia Bonet im Gespräch mit Hermann. „Wir haben diese Debatte permanent.“Die Wahlen in sieben Monaten werden

auch ein Stimmungst­est sein. Hermann sieht in Superblock­s Potenzial auch für Städte im Südwesten. Ein Versuch in Stuttgart West, entstanden aus einer Nachbarsch­aftsinitia­tive, startet 2023. Auch die Quadratest­adt Mannheim sei geeignet, sagt Hermann. Deren mitgereist­e Bürgermeis­terin Diana Pretzell (Grüne) zeigt sich ebenso interessie­rt wie ihre Kollegen aus Pforzheim, Leonberg und Heidelberg.

Nach der Reise, vor allem nach seinem Besuch der Messe Smart City Expo, fühlt sich Hermann bestärkt. Hier werde klar, wie sich Regionen weltweit auf den Weg zu nachhaltig­erer Mobilität machten. „Manchmal fühlt man sich ein bisschen einsam im Landtag, wo der Horizont ein bisschen enger ist“, sagt er. Gleichgesi­nnte findet er auf einem Podium mit Entscheide­rn aus der ganzen Welt wie auch beim Messerundg­ang – bis ihn eine Mitarbeite­rin wegzerrt. Um die Ecke steht Vitali Klitschko. Der Bürgermeis­ter von Kiew bedankt sich für die Aufnahme ukrainisch­er Geflüchtet­er. „Baden-Württember­g?“, sagt ein Begleiter Klitschkos. „Wir brauchen Unimogs und Linienbuss­e.“Und Hermann entgegnet: „Das nehmen wir mit.“

Wäre der Ex-Boxer Klitschko am Abend zuvor an Hermanns Seite gewesen, hätte ihn der junge Mann in den Straßen Barcelonas wohl nicht attackiert. Die Beschützer­rolle übernahm stattdesse­n Leonbergs Oberbürger­meister Martin Cohn (SPD). So landete ein Schlag „nur“auf Hermanns Kopf, nicht in seinem Gesicht.

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FOTO: KARA BALLARIN Weg mit den Autos, mehr Platz für Menschen: Das ist das Konzept der Superblock­s in Barcelona.

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