Die Kunst des Protests
„Protest! gestalten“heißt die neue Schau im Museum Ulm, die bunt und vielseitig das Thema Widerstand aufgreift – Seit Jahren steigt die Anzahl der Protestbewegungen
Protest hat viele Gesichter: In Deutschland kleben sich seit Wochen die Mitglieder der Bewegung „Letzte Generation“auf Straßen fest und beschmieren Kunstwerke mit Lebensmitteln. In Iran schneiden sich zur gleichen Zeit Frauen aus Protest gegen das Mullah-Regime die Haare ab und demonstrieren gemeinsam mit Landsleuten täglich für Freiheit und Demokratie. Kein Zweifel – unsere Zeit ist von zunehmender Empörung und Unzufriedenheit geprägt. Tatsächlich steigt seit Jahren weltweit die Anzahl der Protestbewegungen. Ihre Forderungen sind ganz unterschiedlich: Misstrauen gegen die Regierung, Kampf gegen Korruption oder Rassismus sowie das Verlangen nach mehr Klima-, Umwelt- und Geschlechtergerechtigkeit. Eine neue Ausstellung im Museum Ulm nimmt unter dem Titel „Protest! gestalten“dieses Phänomen als Anlass, um aufzuzeigen, welche Slogans, Zeichen und Gesten es für den Protest gab und bis heute gibt.
Proteste sind stets so mächtig wie die Bilder, die sie erzeugen. Ihr Erfolg bemisst sich auch daran, ob die Unbeteiligten hinsehen, diejenigen, von deren Aufmerksamkeit so viel abhängt. Jede Protestbewegung bedient sich einer zeitgemäßen Sprache aus allgemeinverständlichen Zeichen, Worten und Bildern. Sie muss aufregen, provozieren, Zustimmung oder Ablehnung hervorrufen, zuspitzen, unberechenbar sein. Dazu braucht es auch Mut. Die Unberechenbarkeit, der unerwartete Gedanke sind das Salz in der Suppe der visuellen Protestkommunikation. Sie ist deshalb mehr als nur eine beiläufige Illustration.
Ein Meister in diesem Metier war Otl Aicher, der heuer 100 Jahre alt geworden wäre. Sein politischer Widerspruchsgeist war prägend für sein gestalterisches Werk. Schon in den 1960er-Jahren entwarf er Plakate und Ansteckblumen aus buntem Papier für die Ostermärsche unter dem Motto „Frieden schaffen ohne Waffen“. Jahrzehnte später, 1983, ließ er Figuren, die an seine Piktogramme erinnern, auf ein Textilband drucken, um es bei der Demonstration gegen die Stationierung der Pershing-Rakten auf der Schwäbischen Alb den an der Menschenkette Teilnehmenden in die Hand zu geben. Seine Arbeiten bilden den Auftakt in der Ulmer Ausstellung. Darunter ist auch das Plakat „Im schönsten Wiesengrunde“: Aicher hatte hier aus bunten Querstreifen eine idyllische Landschaft mit Kirchtürmen im Vordergrund entworfen, die sich bei näherer Betrachtung als Pershing-Raketen entpuppen.
Wie aber sieht Protest heute aus? Beim Rundgang durch die Schau wird man feststellen, dass es unverwechselbare Symbole gibt, die immer wieder in neuen Zusammenhängen
auftauchen: Pablo Picassos Friedenstaube, die nach oben gereckte Faust oder das Victory-Zeichen. Der amerikanische Street-Art-Künstler und Grafiker Shephard Fairey zum Beispiel bedient sich in seinen Protestplakaten gegen Antidiskriminierung oder Krieg genau dieser Sujets. Zugleich greift er in der Art der Darstellung eine kommunistische Ästhetik auf. Ganz anders die USKünstlerin Jenny Holzer. Sie erklärt Texte zur Kunst, um gegen sexuelle Gewalt gegen Frauen zu protestieren. In der Ausstellung flimmern zwei rote Textbänder an der Wand, die von Missbrauch in der Familie erzählen.
Ohne Schrift und Wort kommen die Arbeiten von Tine Melzer und Tina Hage aus. Hage, die in Haiti geboren wurde und jetzt in München lebt, fotografiert sich selbst in verschiedenen Haltungen und mit wechselnden Requisiten. In ihrer Serie „Gestalt“bezieht sie sich auf die Londoner Aufstände im Jahr 2011. Sie zeigt Porträts von Personen, die sich ganz unterschiedlich vermummt haben. Die Züricher Künstlerin Melzer wiederum erforscht in ihren Werken das Zusammenspiel von Zeigen und Sagen. So fotografiert sie Symbole des Widerstands, beispielsweise einen Ziegelstein, ein rohes Ei, eine Tomate. Diese Bilder sind so aussagekräftig – sie brauchen in der Tat keine Worte.
Eine eindeutige Sprache sprechen auch die Motive, die der israelische Grafikdesigner und Künstler Noma Bar entwirft. Mit klaren Farben, bestechenden Details und dem gekonnten Umgang mit dem negativen Raum kommentiert er soziale und politische Sachverhalte. Seine Bilder sind oft von Zweideutigkeit geprägt, die sich erst bei genauem Hinschauen zu erkennen gibt. Ein schönes Beispiel ist sein Motiv zum Burkaverbot, das eine Frau in Burka mit „Einfahrt verboten“-Verkehrszeichen als Gesicht zeigt.
Apropos Burka. Zwei iranische Künstlerinnen und Aktivistinnen schaffen in der Ausstellung mit ihren Arbeiten einen Bezug zur Gegenwart. Parastou Forouhar thematisiert auf kleinen Tafeln die unterschiedliche Behandlung von Mann und Frau in ihrer Heimat. Ein Beispiel: Er läuft ins Freie, sie – tief verschleiert – in eine Grube. Und ihre Landsmännin Jinoos Taghizadeh greift mit Auszügen aus ihrem Tagebuch das aktuelle Geschehen in Iran auf. Sie beschreibt darin ihre Gefühle, Gedanken und Stimmungen. Vereinzelt tauchen auch Zeichnungen auf. Darunter das Logo von Lufthansa mit dem startenden Kranich – entworfen von Otl Aicher –, als sie endlich im Flieger Richtung Kanada sitzt.
In Iran sind die Proteste generationenübergreifend, geschlechterübergreifend, ethnienübergreifend. Alle sind auf der Straße und sagen: „Wir wollen dieses Regime nicht mehr.“Zwar waren zuletzt weniger Demonstrierende unterwegs als zu Beginn im September. Was es dagegen scheinbar öfter gibt, sind Aktionen Einzelner oder kleiner Gruppen. Wer in Iran demonstriert, riskiert allerdings viel: Nach Angaben von Menschenrechtlern sind schon mehr als 300 Menschen getötet, rund 15 000 weitere festgenommen worden – etliche angeblich zu Hause oder an ihrem Arbeitsplatz. Sogar erste Todesurteile sind verhängt worden. Die Unterstützung der Proteste unter den Menschen im Land ist jedoch scheinbar ungebrochen. Doch ob der Widerstand in Iran Erfolg hat, ob und wie er das Land verändert, kann niemand voraussagen.
Schon sehr lange dauern im Vergleich dazu die Klimaproteste in Deutschland an: angefangen von der Fridays-for-Future-Bewegung bis zu den jüngsten Aktionen der „Letzten Generation“. Inzwischen hat sich aber einiges verändert. In den Diskussionen geht es nun weniger um den Klimaschutz an sich, sondern vielmehr darum, ob das Vorgehen der Klima-Kleber angemessen sei. Zudem betreffen die Proteste nicht zielgenau die Politik, sondern die Gesamtgesellschaft. Die Straßenblockaden nerven die Deutschen, das Beschmieren von Kunstwerken schockiert sie. Frühere Aktionen der Umweltbewegung wie die Blockaden der Castor-Transporte oder die Besetzung von Kohleabbau-Gebieten waren da selbsterklärender gewesen. Und so gibt es nun doch viele Menschen, die sich von dieser Art des Widerstands distanzieren.
Zurück zur Ausstellung. Protestgestaltung steht nicht allein für sich. Design, Werbung und Marketing hängen eng miteinander zusammen und beeinflussen sich gegenseitig. Wie, das kann man in Ulm an Oliviero Toscanis Modekampagne für Benetton sehen. 1983 produzierte er eine Fotoserie mit emotionalisierenden Bildern zu politischen und gesellschaftlichen Themen wie Aids, Hunger, Rassismus, Krieg oder Umweltverschmutzung. Auf einem Plakat küsst etwa ein Priester eine Nonne, auf einem anderen sind Kondome in allen Farben aufgereiht. Seine Arbeiten lösten damals Empörung und kontroverse Diskussionen aus – sogar das Kondomplakat, denn in den Achtzigern durfte in Italien keine Werbung für Verhütung gemacht werden. Das Erstaunliche ist: Sämtliche Motive wirken immer noch enorm frisch und sind nach wie vor aktuell. Auch wenn sich heutzutage keiner mehr darüber aufregt.
Und noch etwas fällt in der Schau auf: Protestbewegungen liefern wesentliche Impulse für die Kunst. Andersherum haben künstlerische Strömungen auch immer einen Einfluss auf die Art, wie wir protestieren. Man denke nur an die Studentenbewegung der 1960er-Jahre, wo Fluxus dazu beigetragen hat, dass der Ungehorsam spielerischer wurde.
Das Plakat ist zwar nach wie vor ein typisches Medium für den Protest auf der Straße, wird aber zunehmend von Internet und Social Media ergänzt. Die Guerilla Girls etwa, eine feministische Künstlerinnengruppe aus New York, kämpfen mit Plakaten gegen Sexismus, Rassismus und Diskriminierung in der Kunstwelt. Stets wiederkehrendes Motiv ist die Gorillamaske in Verbindung mit entsprechenden Texten. Gleichzeitig betreiben sie eine eigene Internetseite, um ihre Reichweite zu erhöhen.
Am Ende des Rundgangs stehen die Bilder des Animationskünstlers Jeff Hong. In seiner Serie „Unhappily Ever After“setzt er beliebte Figuren aus der Disneywelt in Fotografien von real existierenden, durch Umweltzerstörung geprägte Landschaften. Der Titel spielt auf die aus dem Märchen bekannte Floskel „Und sie lebten glücklich ...“an, die er ins Negative verkehrt. Anders gesagt: Ende der Märchenstunde. Winnie The Pooh kniet fassungslos in einem zerstörten Wald und Nemo findet nur noch zerstörte Korallenriffe vor. Solche Bilder berühren jedenfalls mehr als die Klima-Kleber mit ihren umstrittenen Aktionen. Protest hat in der Tat viele Gesichter.