Geballtes Feuer
In Polen ist wohl eine ukrainische Rakete eingeschlagen – Derartige Fehlschüsse könnten zum Kalkül der massierten russischen Angriffe mit Marschflugkörpern zählen
- Russlands Kriegsblogger feierten. „Die Behörden in Lemberg klagen, das 700 000 Stromkunden nach dem gestrigen Schlag ohne Elektrizität dasitzen“, schrieb der Telegram-Kanal Vojenkor Kotjenok Z gestern. „Das gefällt den BanderaFaschisten absolut nicht.“Am Dienstag hatten die russischen Streitkräfte die Ukraine mit über 100 Raketen angegriffen und zerstörten oder beschädigten 30 Kraftwerke und andere Infrastrukturobjekte.
Aber noch mehr freute sich Russlands halbstaatliche Öffentlichkeit über die vermutlich ukrainische Flak-Rakete S-300, die an diesem Tag in dem polnischen Grenzdorf Przewodów aufschlug und zwei Menschen tötete. „Ein schwarzer Tag für Selenskyj“, titelte die Massenzeitung Komsomolskaja Prawda. „Die Ukraine hat Polen mit einer Rakete beschossen und die Schuld nicht Russland in die Schuhe schieben können.“
Auch ukrainische Beobachter reden von einer S-300-Rakete. Sie ist sowjetischer Bauweise und wird auch von Russlands Armee benutzt. Aber obwohl die Russen das Flakgeschoss manchmal als Boden-BodenWaffe einsetzen, hätte es das polnische Grenzdorf mit seiner Reichweite von 75 Kilometer nicht erreichen können. „Die meisten feindlichen Marschflugkörper kamen vom Kaspischen Meer“, sagt der Kiewer Sicherheitsexperte Oleksi Melnyk.
Er vermutet, die Rakete mit einer Trefferquote von 95 Prozent habe wegen eines Fehlers die Flugbahn auf das anvisierte Ziel verlassen. „Das hat es auch vorher gegeben. Während des Jugoslawienkriegs sind mehrere US-Raketen auf bulgarischem Gebiet eingeschlagen.“
Russlands Staatsmedien machten sofort die Ukraine für den Raketeneinschlag in Polen, bei dem zwei Menschen starben, verantwortlich. Trotzdem herrschte zunächst Besorgnis. Vom Exilsender TV Doschd bis zum turbopatriotischen Telegram-Kanal
Rybar verwies man auf Artikel 5 der Nato-Satzung, der das Bündnis dazu verpflichtet, gemeinsam jeden Angriff auf ein Mitgliedsland zu beantworten. Das hätte einen Krieg zwischen Russland und der Nato bedeuten können.
Der russische Militärexperte Viktor Litowkin erklärte den Raketeneinschlag in Przewodów mit notorischer ukrainischer Unfähigkeit. „Sie haben etwas gesehen, vielleicht nur einen Punkt auf ihrem Computerbildschirm und darauf geschossen.“Moskaus Medien aber diskutierten vor allem über eine „Provokation" und wer diese organisiert haben könnte: Kiew, das versuche, die Nato in seinen Kampf gegen Russland hineinzuziehen, Warschau, das einen Vorwand brauche, um die Westukraine zu besetzen, oder London, dass den Kampf gegen Russland mit fremden Händen anheizen wolle.
Dabei fordern russische Propagandisten wie der Radio-SputnikModerator Jegor Cholmogorow schon lange massierte Raketenangriffe
auf die Westukraine und die grenznahe Region Lemberg: Dort lebten ja geballt russlandfeindliche Bandera-Nationalisten.
Nach ukrainischen Angaben veranstalteten die russischen Raketenstreitkräfte am Dienstag ihren heftigsten Angriff seit Beginn des Krieges.
„Diese Angriffe sind gerade deshalb so massiert, um die Flugabwehr zu überlasten“, sagt Melnyk. Je mehr Raketen im Anflug seien, desto weniger Reaktionszeit hätten die FlakSysteme, desto mehr Stress herrsche bei ihren Bedienungsmannschaften. Die Russen provozierten so selbst ukrainische Fehlschüsse, auch in Grenznähe. Das Verteidigungsministerium in Moskau hatte erst mitgeteilt, man habe am Dienstag keinerlei Ziele nahe der ukrainisch-polnischen Grenze beschossen. Später sagte ein Sprecher, die anvisierten Ziele seien nicht näher als 35 Kilometer an der Grenze gewesen.
Ukrainische Experten verweisen darauf, dass Russlands Marschflugkörper keineswegs immer ihr Ziel treffen. Der ukrainische Präsidentenberater Michailo Podoljak erklärte: „Wenn ein Aggressor mit veralteten Sowjetraketen bewusst und massiert das gesamte Gebiet einen großes europäischen Landes angreift, ist eine Tragödie auf dem Territorium der Nachbarstaaten nur eine Frage der Zeit.“