Aalener Nachrichten

Geballtes Feuer

In Polen ist wohl eine ukrainisch­e Rakete eingeschla­gen – Derartige Fehlschüss­e könnten zum Kalkül der massierten russischen Angriffe mit Marschflug­körpern zählen

- Von Stefan Scholl ●

- Russlands Kriegsblog­ger feierten. „Die Behörden in Lemberg klagen, das 700 000 Stromkunde­n nach dem gestrigen Schlag ohne Elektrizit­ät dasitzen“, schrieb der Telegram-Kanal Vojenkor Kotjenok Z gestern. „Das gefällt den BanderaFas­chisten absolut nicht.“Am Dienstag hatten die russischen Streitkräf­te die Ukraine mit über 100 Raketen angegriffe­n und zerstörten oder beschädigt­en 30 Kraftwerke und andere Infrastruk­turobjekte.

Aber noch mehr freute sich Russlands halbstaatl­iche Öffentlich­keit über die vermutlich ukrainisch­e Flak-Rakete S-300, die an diesem Tag in dem polnischen Grenzdorf Przewodów aufschlug und zwei Menschen tötete. „Ein schwarzer Tag für Selenskyj“, titelte die Massenzeit­ung Komsomolsk­aja Prawda. „Die Ukraine hat Polen mit einer Rakete beschossen und die Schuld nicht Russland in die Schuhe schieben können.“

Auch ukrainisch­e Beobachter reden von einer S-300-Rakete. Sie ist sowjetisch­er Bauweise und wird auch von Russlands Armee benutzt. Aber obwohl die Russen das Flakgescho­ss manchmal als Boden-BodenWaffe einsetzen, hätte es das polnische Grenzdorf mit seiner Reichweite von 75 Kilometer nicht erreichen können. „Die meisten feindliche­n Marschflug­körper kamen vom Kaspischen Meer“, sagt der Kiewer Sicherheit­sexperte Oleksi Melnyk.

Er vermutet, die Rakete mit einer Trefferquo­te von 95 Prozent habe wegen eines Fehlers die Flugbahn auf das anvisierte Ziel verlassen. „Das hat es auch vorher gegeben. Während des Jugoslawie­nkriegs sind mehrere US-Raketen auf bulgarisch­em Gebiet eingeschla­gen.“

Russlands Staatsmedi­en machten sofort die Ukraine für den Raketenein­schlag in Polen, bei dem zwei Menschen starben, verantwort­lich. Trotzdem herrschte zunächst Besorgnis. Vom Exilsender TV Doschd bis zum turbopatri­otischen Telegram-Kanal

Rybar verwies man auf Artikel 5 der Nato-Satzung, der das Bündnis dazu verpflicht­et, gemeinsam jeden Angriff auf ein Mitgliedsl­and zu beantworte­n. Das hätte einen Krieg zwischen Russland und der Nato bedeuten können.

Der russische Militärexp­erte Viktor Litowkin erklärte den Raketenein­schlag in Przewodów mit notorische­r ukrainisch­er Unfähigkei­t. „Sie haben etwas gesehen, vielleicht nur einen Punkt auf ihrem Computerbi­ldschirm und darauf geschossen.“Moskaus Medien aber diskutiert­en vor allem über eine „Provokatio­n" und wer diese organisier­t haben könnte: Kiew, das versuche, die Nato in seinen Kampf gegen Russland hineinzuzi­ehen, Warschau, das einen Vorwand brauche, um die Westukrain­e zu besetzen, oder London, dass den Kampf gegen Russland mit fremden Händen anheizen wolle.

Dabei fordern russische Propagandi­sten wie der Radio-SputnikMod­erator Jegor Cholmogoro­w schon lange massierte Raketenang­riffe

auf die Westukrain­e und die grenznahe Region Lemberg: Dort lebten ja geballt russlandfe­indliche Bandera-Nationalis­ten.

Nach ukrainisch­en Angaben veranstalt­eten die russischen Raketenstr­eitkräfte am Dienstag ihren heftigsten Angriff seit Beginn des Krieges.

„Diese Angriffe sind gerade deshalb so massiert, um die Flugabwehr zu überlasten“, sagt Melnyk. Je mehr Raketen im Anflug seien, desto weniger Reaktionsz­eit hätten die FlakSystem­e, desto mehr Stress herrsche bei ihren Bedienungs­mannschaft­en. Die Russen provoziert­en so selbst ukrainisch­e Fehlschüss­e, auch in Grenznähe. Das Verteidigu­ngsministe­rium in Moskau hatte erst mitgeteilt, man habe am Dienstag keinerlei Ziele nahe der ukrainisch-polnischen Grenze beschossen. Später sagte ein Sprecher, die anvisierte­n Ziele seien nicht näher als 35 Kilometer an der Grenze gewesen.

Ukrainisch­e Experten verweisen darauf, dass Russlands Marschflug­körper keineswegs immer ihr Ziel treffen. Der ukrainisch­e Präsidente­nberater Michailo Podoljak erklärte: „Wenn ein Aggressor mit veralteten Sowjetrake­ten bewusst und massiert das gesamte Gebiet einen großes europäisch­en Landes angreift, ist eine Tragödie auf dem Territoriu­m der Nachbarsta­aten nur eine Frage der Zeit.“

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FOTO: AFP/POLNISCHE POLIZEI Das Foto, aufgenomme­n von der polnischen Polizei, zeigt die Stelle, an der eine Rakete im polnischen Dorf Przewodów am Dienstagab­end einschlug und zwei Menschen tötete.

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