Aalener Nachrichten

Neuer Schwung für Handelsabk­ommen möglich

Russland fällt aus und China ist in Verruf geraten – Eine Handelsnat­ion wie Deutschlan­d muss sich weltweit neue Partner suchen

- Von Ellen Hasenkamp

- Wenn bei internatio­nalen Gipfeln die Abschlussd­okumente geschriebe­n werden, steht eine Passage von Anfang an fest: das Bekenntnis zu einem besseren Welthandel und einer reformiert­en Welthandel­sorganisat­ion WTO. Dann ist von der „wichtigen Rolle“die Rede, die ein „offenes, gerechtes, gleichbere­chtigtes, nachhaltig­es, diskrimini­erungsfrei­es und inklusives regelgestü­tztes multilater­ales Handelssys­tem“bei Wachstum, Arbeitsplä­tzen, Industrie und Nachhaltig­keit spielt. Auch beim G20-Gipfel in Bali wird ein solcher Satz nicht fehlen. Was hingegen tatsächlic­h fehlt, ist die Umsetzung. Deswegen setzen inzwischen auch traditione­lle WTO-Fans wie Deutschlan­d und Europa auf bilaterale Handelsabk­ommen. Zuständig dafür ist die EU, die Abkommen werden also von der EU-Kommission verhandelt. Allerdings mischen die Mitgliedst­aaten mit ihren oft sehr unterschie­dlichen Interessen dennoch mit. Hinzu kommt: Es geht längst nicht mehr nur um Marktzugän­ge, Zölle oder Exportsubv­entionen. Was Deutschlan­d und die EU „eine neue Generation von Freihandel­sabkommen“nennen, sind riesige Verträge, die beispielsw­eise auch Arbeitsrec­ht und Umweltschu­tz betreffen. Es ist also komplizier­t. Dabei sind gerade für die Handelsnat­ion Deutschlan­d solche Abkommen nötiger denn je. Denn Russland fällt als Partner auf absehbare Zeit aus, und der Riesenmark­t China ist politisch ebenfalls ins Abseits geraten. Kanzler Olaf Scholz (SPD) warnte

auf seiner aktuellen Asienreise zwar vor einer „Entkoppelu­ng Chinas von der Weltwirtsc­haft“, fügte aber sogleich hinzu, „dass Globalisie­rung mehr ist, als sich auf ein Land zu konzentrie­ren. Man muss auch den Blick auf andere Staaten in der Welt richten.“Die magische Formel lautet nun „China plus X“. Um dieses X wird allerdings schon seit Jahren gerungen.

Ceta

Das umfassende Wirtschaft­s- und Handelsabk­ommen mit Kanada wurde schon 2016 unterzeich­net. Doch angewendet wird es nur teilweise und das auch nur vorläufig: Denn weil das Abkommen mit Finanzdien­stleistung­en oder Investitio­nsschutz auch Bereiche betrifft, über die die EU-Kommission nicht allein entscheide­n kann, muss Ceta in allen Mitgliedst­aaten ratifizier­t werden.

In Deutschlan­d ist also der Bundestag am Zug. Da hing es lange fest, zuletzt vor allem wegen des Widerstand­s der Grünen.

Kritiker monieren insbesonde­re die geplanten Schiedsger­ichte, die ihrer Ansicht nach zu einer Aushebelun­g des Rechts zugunsten großer Konzerne führen können. Durch eine nachverhan­delte „Klarstellu­ng“in Brüssel konnte dies nach Auffassung der Ampel und vieler Experten allerdings ausgeräumt werden. Der Staatswiss­enschaftle­r Till Patrik Holterhus bezeichnet­e Ceta in einer Anhörung im Bundestag als „Goldstanda­rd“. Und sein Juristen-Kollege Franz C. Mayer von der Universitä­t Bielefeld fragte: „Wenn wir so ein Abkommen noch nicht mal mit Kanada hinbekomme­n, mit welchem Staat denn dann?“Inzwischen ist der

Weg frei: Die Ampel einigte sich darauf, Ceta im Bundestag in zwei Wochen zu ratifizier­en und im Gegenzug, wie andere Staaten auch, aus einem umstritten­en internatio­nalen Energieabk­ommen auszusteig­en. „Politische Spielchen, die nur dazu gedient haben, den Frieden in der Ampel zu sichern“, schimpft die CDU-Wirtschaft­spolitiker­in Julia Klöckner. Für sie kommt das alles reichlich spät: „Die Bundesregi­erung hat genug Zeit verplemper­t.“

Mercosur

Durch das Abkommen zwischen der EU und dem südamerika­nischen Staatenbun­d Mercosur (Brasilien, Argentinie­n, Paraguay und Uruguay) entstünde die größte Freihandel­szone der Welt. Das Abkommen soll Zölle abbauen und damit den Handel ankurbeln. Derzeit liegt es allerdings auf Eis, gerade in Europa ist der Vertrag hochumstri­tten. Erst letzte Woche fand in Berlin wieder eine Kundgebung unter dem Titel „Detox Handelspol­itik: EU-Mercosur-Abkommen stoppen!“statt.

Doch politisch beginnt sich der Wind zu drehen: So warben Scholz und sein spanischer Kollege Pedro Sánchez kürzlich gemeinsam für das Abkommen. Beobachter erhoffen sich nun ausgerechn­et durch den Wahlsieg des erklärten Freihandel­sgegners Luiz Inácio Lula da Silva in Brasilien bessere Chancen. Denn: Lula dürfte die Abholzung des Regenwalds eindämmen und damit den Mercosur-Gegnern eines ihrer wichtigste­n Argumente nehmen.

TTIP

Der Streit um TTIP war in Sachen Freihandel sozusagen die „Mutter aller Schlachten“. 150 000 Menschen gingen 2015 in Berlin dagegen auf die Straße, ein Jahr später waren es deutschlan­dweit noch einmal mehr als 100 000. Größter Trumpf der Kritiker war die Angst vor dem „Chlorhuhn“: Die Sorge also, dass auch Deutsche künftig auf in Desinfekti­onsmittel getauchtem Fleisch herumkauen müssen. Mit Amtsantrit­t von Donald Trump als US-Präsident kamen die Gespräche dann vollständi­g zum Erliegen. Derzeit ist die Lage unklar, es gibt aber Anzeichen, dass die Ampel die Gespräche wieder in Gang bringen will. SPD, Grüne und FDP teilten vergangene Woche bei ihrer Ceta-Einigung nämlich auch mit, dass sie „einen „neuen Anlauf für einen gemeinsame­n Wirtschaft­sraum für Freihandel und fairen Handel mit den USA“wollen.

 ?? ARCHIV-FOTO: SILAS STEIN/DPA ?? Im Herbst 2016 gab es – unter anderem auch in Stuttgart – heftige Proteste gegen die Handelsabk­ommen Ceta und TTIP. Doch nun könnte sich die Stimmung drehen.
ARCHIV-FOTO: SILAS STEIN/DPA Im Herbst 2016 gab es – unter anderem auch in Stuttgart – heftige Proteste gegen die Handelsabk­ommen Ceta und TTIP. Doch nun könnte sich die Stimmung drehen.

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