Wo Getriebe die Zukunft sind
ZF-Technik steckt in Windrädern auf der ganzen Welt – Ein Geschäft, das bald boomen könnte
LOMMEL - ZF Friedrichshafen ist nicht nur Experte, wenn es um Getriebe fürs Auto geht. Schon seit etlichen Jahren produziert das Unternehmen, unter anderem an seinem Standort im belgischen Lommel, riesige Getriebe für Windkrafträder. Noch macht das Geschäftsfeld nur einen kleinen Teil des Umsatzes aus, doch die Energiewende könnte das bald ändern. Kurzfristig hat der Bereich aber auch mit Schwierigkeiten zu kämpfen.
„Blue Marlin“– hinter diesem Projektnamen verbirgt sich ein Prototyp und der neueste WindkraftStreich von ZF. Dabei handelt es sich um einen sogenannten Power Train, ein Getriebe samt Generator und Hauptlager. Und wie der namensgebende Raubfisch – dieser kann immerhin bis zu 100 Kilogramm auf die Waage bringen – ist auch der „Blue Marlin“ein wahrer Gigant: 220 Tonnen wiegt er, „so viel wie drei Lokomotiven“, sagt Felix Henseler, Leiter von ZF Wind Power.
Gewaltig sind auch die Strommengen, die ein Windrad mit einem solchen Power Train erzeugen kann: 80 Gigawattstunden pro Jahr. „Das bedeutet, sechs dieser Turbinen würden den Strombedarf einer Stadt wie Friedrichshafen decken“, so Henseler. Bisher hat ZF aber nur drei „Blue Marlins“gebaut. Und: Sie sind lediglich für „offshore“gedacht, also für den Betrieb von Windrädern auf den Meeren. Laut ZF ist es die größte und leistungsstärkste WindkraftTurbine der Welt.
Die Dimensionen des „Blue Marlin“zeigen, wie sich die Windindustrie in den vergangenen Jahren entwickelt hat. Die Getriebe, andere Komponenten und letztlich die Windräder im Ganzen wurden immer größer. Die Rotoren von modernen Anlagen können schon mal 150 Meter lang sein. Und mit der Größe ist auch die Leistung kräftig angewachsen. „Wir haben uns in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt, was die Leistungsdichte angeht“, berichtet Felix Henseler.
Nicht zuletzt deshalb würden die Windräder eine zentrale Rolle bei der Energiewende spielen. Schon jetzt sei Windkraft bei Weitem der günstigste Energieträger – und der „dezentralste und unabhängigste“Stromlieferant, so Henseler. Wenn die EU, die USA und andere Nationen ihre Klimaziele erreichen wollten, kämen sie um einen massiven Ausbau der Windkraft nicht herum. Genau darin liege die Chance für ZF: „Das, was vor uns liegt, werden nicht viele stemmen können.“Dass der Konzern vor Jahren in die Windkraft investiert habe, sei die richtige Entscheidung gewesen. ZF Wind Power könne die Nachfrage, die kommen könnte, „managen“, erklärt der ZFWind-Power-Chef.
Durch die Energiekrise sei die Bereitschaft höher, die Windkraft schneller auszubauen, beobachtet auch Matthias Zelinger, Klima- und Energie-Experte beim Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA). Wenn Deutschland wie geplant bis 2045 klimaneutral werden will, müsse mehr als die Hälfte des Stroms aus Windrädern kommen, sagt er. „Das Arbeitspferd der Energiewende ist die Windenergie“, ergänzt er. Aber es gebe derzeit noch ein großes Problem bei der Umsetzung. „Ziele sind noch keine Anlagen“, so Zelinger. Bei den Genehmigungsverfahren für Windräder müsse es deutlich schneller vorangehen
und es müssten mehr Flächen ausgewiesen werden.
Zusätzlich zum noch zaghaften Ausbau beschäftigt die ZF-Windkraftsparte aber noch ein weiteres Problem. „Unsere Kunden verlieren gerade extrem viel Geld“, sagt ZFWind-Power-Chef Felix Henseler. Die in die Höhe geschossenen Preise für Stahl und Energie machten die Produktion von Windrädern teurer und schwieriger. Hinzu kämen gestiegene Frachtkosten – schließlich transportiere man in diesem Bereich große, schwere Teile.
So müsse das Unternehmen aktuell in gewisser Weise einen „Spagat“schaffen: Für 2024 rechne man mit einem
Boom, aber 2022 und 2023 sei das Geschäft rückläufig. „Niemand investiert im Moment“, sagt Henseler. Das liege auch daran, dass das Investitionsprogramm Repower-EU noch nicht ausformuliert ist. Darauf würden Anlagenhersteller noch warten. Ähnlich sehe es in den USA aus, wo geplante Investitionen der Regierung noch nicht umgesetzt seien.
Das aber seien „kurzfristige Effekte“. „Wir hoffen auf einen Aufwärtstrend ab Sommer 2023“, berichtet der ZF-Wind-Power-Chef. Bis zum Jahr 2030 rechne man gar mit einer Verdopplung des Markts – und sogar Potenzial für noch mehr. Gut möglich, dass das Geschäft mit den
Windrädern bald einen deutlich höheren Anteil am ZF-Umsatz einnimmt. Im vergangenen Jahr betrug der Umsatz eine Milliarde Euro, bei einem Gesamtumsatz des Konzerns von 38 Milliarden Euro.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass ZF kräftig in seine Windkraftsparte investiert. Am Standort in Lommel entsteht in einer Werkhalle ein millionenschweres Testzentrum, in dem das Unternehmen seine Produkte und Prototypen auf Herz und Nieren prüfen wird. Weil die Getriebe und Power Trains immer weiter wachsen, musste der Boden in der Halle um drei Meter abgesenkt werden.
Die schieren Ausmaße, was Größe und Gewicht angeht, sind im Übrigen auch der Grund, weshalb die Produktion solcher Mega-Getriebe am Standort Friedrichshafen wohl kaum möglich wäre. Mit einem gewöhnlichen Vierzigtonner lassen sie sich nicht transportieren. Lommel in Belgien hat den Vorteil, dass es an einem Kanal liegt, von dem aus die riesigen Teile ins nahe Antwerpen verschifft werden – dem zweitgrößten Hafen Europas. Und von dort aus gelangen die ZF-Getriebe dann in die ganze Welt.